Dienstag, 19. November 2013

„Vollendung findet neue Bahnen? – Mozart entdeckt den Barock“


Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) gilt für viele als das Wunderkind schlechthin, dem wie von selbst die schönsten Melodien zugeflogen sind und der pausenlos ein Meisterwerk nach dem anderen geschrieben hat. So steht in seiner Geburtstadt Salzburg an einem Mozart-Denkmal geschrieben: „Früh reif, spät erkannt, nie erreicht“. Viele sehen diese Ansicht bestätigt, wenn so virtuos-melodiöse Meisterstücke wie der ersten Satz der Serenade Nr. 13 für Streicher G-Dur, KV (Köchel-Verzeichnis) 525, bekannter unter dem Namen „Eine kleine Nachtmusik“, gespielt werden:




Doch stimmt diese Ansicht, die auch von vielen Filmen suggeriert wird? War Mozart ein Genie, das aus sich selbst heraus ein Meisterwerk nach dem anderen komponieren konnte, ohne in Wechselwirkung mit anderen zu treten? Dass seine Musiksprache eine ganz eigene Note hat, welche die Musikwelt unendlich bereichert hat, ist unbestritten. Dennoch war Mozart ein sehr reflektierter, sensibler, an sich selbst zweifelnder Komponist, der sehr wohl das Werk anderer Komponisten studierte und für sich gewinnen wollte.

An zwei Lebenswerken, welche Mozart relativ spät erst zugänglich wurden, studierte er besonders lange, da sich hier für Mozart eine Welt erschloss, deren Musiksprache ihm zuvor unbekannt war. Bei näherer Betrachtung von Mozarts Biographie erkennt man, dass ihn diese fremde Musik aufgrund ihrer Meisterschaft ebenso fasziniert wie herausgefordert haben muss. Ob Mozart diese Begegnung im ersten Moment eher beflügelt oder belastet hat, ist unbekannt. Bekannt ist: Es soll eine Auseinandersetzung bis an die Grenzen von Mozarts Schaffenskraft werden, die ihn bis zu seinem letzten, unvollendeten Werk, ja bis zu seinem Tod hin begleiten sollte.

Diese Auseinandersetzung führte er mit dem Werk von Johann Sebastian Bach (1685-1750) sowie Georg Friedrich Händel (1685-1759) und davon soll dieser Artikel handeln.



a) Vorgeschichte

Bach und Händel gelten als die größten Komponisten des Barocks, deren Einfluss auf die Musikgeschichte kaum zu überschätzen ist. Speziell Bach hat die Formen des Barocks bis ans Äußerste getrieben, ja vollendet, sodass die nachfolgenden Generationen vor dem Problem standen, neue Formen entwickeln zu müssen und eine neue Musiksprache zu finden. Nicht umsonst wird heutzutage von vielen das Ende des musikalischen Barocks plakativ mit dem Tod von Bach 1750 gleichgesetzt.

Was wenige wissen, ist, dass Bachs Werk nach dessen Tode sehr schnell in Vergessenheit geriet. Bachs große Chorwerke und seine Konzerte traten erst im Zuge der Frühromantik in den 1820ern und 1830ern Jahren durch Bestreben von jungen Künstlern wie Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) wieder in das musikalische Bewusstsein der Zeit. Somit waren Bachs Chor- und Orchesterwerke den Wiener Klassikern wie Haydn, Mozart und Beethoven nicht bekannt.

Ist das nun das peinliche Ende des Artikels?

Mitnichten! Es gab einen Mann, den heute so gut wie keiner mehr kennt, der aber die Musikgeschichte indirekt unendlich bereichert hat: Gottfried van Swieten (1733-1803). Dieser Herr war Diplomat der Habsburger und später Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien. Durch seine Reisen als Diplomat durch ganz Europa entdeckte er viele Kunstschätze, darunter auch Manuskripte von Bachs Studien wie „Das wohltemperierte Klavier“ sowie „Die Kunst der Fuge“, aber auch Suiten-Zyklen wie die französischen Suiten (von denen in einem früheren Artikel bereits kurz die Rede war). Darüber hinaus entdeckte und verbreitete er im deutschsprachigen Raum auch Werke von Händel wie dessen Suiten und dessen Opus Magnum „Messiah“. Dieser weitsichtige Mann, Gottfried van Swieten, erahnte die Bedeutung dieser Werke und brachte sie 1782 nach Wien, wo er sie dem Kreis der führenden, hiesigen Komponisten vorlegte. Darunter war auch Mozart, der seit 1781 in Wien lebte und seiner Heimat Salzburg für immer den Rücken gekehrt hatte.

Als diese Werke in Mozarts Hände gerieten, hatte dieser seine Meister gefunden, die seit über 20 Jahren tot waren und nun durch ihre Kompositionen für Mozart wieder lebendig wurden.


b) Mozarts Kampf mit der barocken Form

Wie wir durch einen früheren Artikel bereits wissen, war die Suite eine beliebte barocke Kompositionsform. Nun lernte Mozart diese Form kennen und war vermutlich schwer beeindruckt wie sowohl Bach als auch Händel diese beherrschten. Betrachten wir hierfür zunächst die Form der „Allemande“, einen zweiteiligen Schreittanz, der vermutlich aus deutschen Volkstänzen hervorgegangen ist. Man beachte, wie souverän und meisterhaft Bach diese Form beherrschte (aus der französischen Suite Nr.3 h-Moll, BWV 814):




Doch auch Händel wusste mit dieser Form umzugehen. Davon zeugt die folgende sehr lyrische „Allemande“ (aus der Suite Nr.4 d-Moll, HWV 437):




Keine leichte Vorgabe für Mozart, nicht wahr? Mozart fühlte sich anfangs in dieser Musiksprache nicht ganz zu Hause; davon zeugen viele Entwürfe, die er nie der Öffentlichkeit preisgab. Dennoch fruchteten bald seine Bemühungen, eine Suite zu schreiben, insofern, dass neben weiteren Tanzsätzen auch eine „Allemande“ entstand. Man beachte den in sich gekehrten Klang dieses Stückes! Hier ist kein effekthaschender, trällernder Melodien-Virtuose am Komponieren, wie Mozart von manchen Kritikern leichtsinnig abgetan wird. Wir hören hier das Werk eines demütigen Menschen, der nach langen, intensiven Studien versucht, einer Form gerecht zu werden (aus der Suite KV 399):




Es sei jedem selbst überlassen, diese drei Varianten einer „Allemande“ zu beurteilen.

Was hielt Mozart selbst von seiner Suite? Er hat sie nie vollendet ...


c) „Das wohltemperierte Klavier“ fordert Mozart

Als nächstes beschäftigte sich Mozart mit Bachs „Das wohltemperierte Klavier“. Dieses Werk beinhaltet für jede Tonart zwei Kompositionen: Ein einleitendes Präludium (oder auch Prélude) und eine Fuge. Da es 12 Tonarten gibt, beinhaltet ein Buch 24 Stücke. (Da Bach zwei Bücher geschrieben hat, sind es in Summe 48 Stücke.)

Möglicherweise ist der Begriff „Fuge“ nicht bekannt. Eine Fuge ist ein Musikstück, das verschiedene Stimmen eines Themas (oder mehrerer Themen) kanonartig nach strengen Gesetzmäßigkeiten verarbeitet. Fugen sind also mehrstimmig (polyphon). Da dies nun furchtbar kompliziert klingt, hören wir uns einfach das weltbekannte Präludium und die Fuge in C-Dur BWV, 846 des ersten Buches an, um die komplizierte Begrifflichkeit zu veranschaulichen:




Auf Mozart musste die Kombination von Präludium und Fuge eine unheimliche Faszination ausgeübt haben. Er begann sofort selbst eine Sammlung zu komponieren (KV404a) mit dem Unterschied, dass er sich bei seinen Varianten nicht auf dem Klavier versuchen wollte, sondern auf ein Streichtrio (Violine, Viola und Cello) auswich. Ob er das aus Respekt oder gar aus Furcht vor einem direkten Vergleich mit Bach gemacht hat oder schlicht aus pragmatischen Gründen, weil keine anderen Musiker zur Verfügung standen, ist unbekannt.

Dennoch ist eines ausgesprochen bemerkenswert: Mozart komponierte bei seinen ersten Versuchen liebreizende, tief bewegende Préludes selbst, die ihm souverän gelangen. Bei den Fuge hingegen griff er auf Bach zurück und arrangierte dessen Fugen beispielsweise aus dem wohltemperierten Klavier für Streichtrio. Mozart wagte anfangs nicht, eigene Fugen-Kompositionen beizutragen. Und das spricht Bände!

Reihenfolge der selbstkomponierten Preludien und den bearbeiteten Fugen:

- No. 1 in D minor: Adagio & Fugue after Bwv 853 (0:00)
- No. 2 in G minor: Adagio & Fugue after Bwv 883 (8:07)
- No. 3 in F major: Adagio & Fugue after Bwv 882 (13:58)
- No. 4 in F major: Adagio after Bwv 527 & Fugue after Bwv 1080 (19:41)
- No. 5 in E flat major: both Adagio & Fugue after Bwv 526 (28:24)
- No. 6 in F minor: Adagio & Fugue after W.F. Bach's Fugue No. 8 (35:50)




d) Mozarts Problem

Dass Bach ein Meister der Fuge war, ist kein Geheimnis. Welche Gewalt und Meisterschaft Bach auf diesem Gebiet erreicht hat, ist atemberaubend und bedarf keiner weiteren Worte (Fuge g-Moll, WTK 2. Buch, BWV 885, vierstimmig!):




Das wusste auch Mozart und deswegen zögerte er mit der Komposition seiner eigenen ersten größeren Fuge. Als er sich schließlich dazu durchrang, eine Fuge für Klavier zu schreiben, tat er dies mit einem einfachen Trick, um Klangfülle zu gewinnen: Er schreib sie für zwei Klaviere (KV426). Und wenn man diese Musik hört, dann klingt das gar nicht mehr nach Mozart, wie er landläufig gekannt wird. Das ist die Musik eines strebenden, suchenden Mannes, der einen Konflikt mit sich selbst in einer Komposition ausficht, um seiner Unzulänglichkeit Herr zu werden. Man fühlt sich fast an Ludwig van Beethoven (1770-1827) erinnert. Und vielleicht hatte Mozart in seinen einsamsten Momenten, in seinem dunkelsten Drange im Schatten anderer, seine visionärsten Stunden:




e) Mozarts Lösung

Mozart, ein an Bach Gescheiterter?

Das Gegenteil ist der Fall! Auch wenn Mozart sich in den barocken Formen versucht und sie leidenschaftlich studiert hat, lag ihm nichts ferner, als Bach gekonnt reproduzieren zu wollen. Dadurch wäre er bestenfalls ein geistreicher Epigone Bachs geworden, ein zu spät Geborener, aber kein Meisterkomponist, der durch seine eigene Musiksprache neue Horizonte entdeckt und erobert. Das wäre Mozart zu wenig gewesen! Mozart wollte mit seiner Musik selbst bestehen können und sah seine Barockstudien als dankbare Methode, sein eigenes Schaffen auf neue Bahnen zu führen. Dieses Unterfangen gelang und schrieb Musikgeschichte! Mozart vollzog die Meisterleistung, in seinem Spätwerk seinen ureigenen Klang mit barocken Stilmittel (speziell mit Fugentechniken) zu verbinden. Diese Fertigkeit machte ihn zu einem Genie ersten Ranges, das Bachs Geist auf eine ganz neue Weise zu kanalisieren vermochte.

Gibt es dafür Beispiele?

Natürlich, und ich bin mir sicher, jeder kennt sie insgeheim!

Nehmen wir zunächst den 4. Satz, den Finalsatz, aus Mozarts letzten Symphonie (Nr.41, KV 551): Dieser Finalsatz gehört zum Raffiniertesten, das Mozart geschrieben hat. Hier sind im gesamten Satz viele fugen-ähnliche Abschnitte, sogenannte „Fugatos“, versteckt (das erste Mal ab Minute 0:31 in der Hörprobe), welche in einen großen Fugato-Schlussteil (ab Minute 5:42) münden. Am besten hat es vielleicht ein renommierter Konzertführer beschrieben, als er in Bezug auf diesen Satz sagte:

„Mozart versucht und meistert eine zuvor unlösbare Aufgabe: die Synthese von Homophonie und Polyphonie, von Sonatensatz und Fuge, von Barock und Klassik oder – auf höchster Ebene – von galant und gelehrt. Und das eigentliche Ereignis dieses Satzes ist nicht einmal die Tatsache, dass diese Aufgabe gelöst wird, sondern vielmehr auf welche atemberaubend selbstverständliche Art und Weise das alles geschieht: mit jener fast spielerischen, völlig gelösten Eleganz und Natürlichkeit, die höchste Kunstfertigkeit auf einmal ganz schlicht erscheinen lässt.“ (Schweizer/Werner-Jensen, „Reclams Konzertführer“, S.195, 17. Ausgabe, 2001)




Meisterhaft, nicht wahr? Selten war hochkomplexe Musik als so leichte, beschwingte Muse verpackt, die einem so unmittelbar in ihren Bann zieht.

Das vielleicht berühmteste Fugato Mozarts steckt wohl in der Ouvertüre seiner letzten Oper „Die Zauberflöte“ (KV620), die vermutlich bekannteste Oper der Welt - beliebt bei alt und jung. Gleich nach der Einleitung folgt ein fugenhafter Teil als Hauptthema (ab Minute 1:29 und später ab 3:51 in der Hörprobe) – singbar und doch komplex:




Diese Fusion Barock-Klassik beschäftigte Mozart bis an sein Sterbebett, bis zu seinem letzten unvollendeten Werk, dem Requiem (KV 626). Die Musikwissenschaftler streiten, wie weit Mozart es noch vollenden konnte; unumstritten ist, dass der Satz „Kyrie“ sehr wohl noch aus Mozarts Feder floss. Hier krönte Mozart als Sterbender sein Lebenswerk mit einer Fuge, die an eine aus Händels „Messiah“ (HWV 56) angelehnt ist. Es handelt sich um Händels Chorsatz And with his stripes we are healed“:




Abgerundet wird dieser Artikel nun mit Mozarts Abgesang, mit dem „Kyrie eleison“ („Herr, erbarme dich“) aus seinem unvollendeten Requiem, vielleicht seine ganz persönliche Verneigung vor den Meistern des Barocks an der Pforte zu einer neuen Welt:




Eingangs wurde die Salzburger Inschrift über Mozart zitiert: „Früh reif, spät erkannt, nie erreicht“.

Mich überzeugt diese Inschrift nicht, aber ich kann nur zustimmen, wenn es heißt: „Mozart kam auf die Welt, blieb kurz und ließ sie bereichert zurück.“

Ja, wir Lebenden werden als Staunende auf Erden zurückgelassen und sollten im Stillen dankbar sein, dass sich jene Meister wie Bach, Händel und Mozart – wenn auch nur über Manuskript – begegnen durften.

Ich möchte mit Musils Wort schließen:

"Was bleibt von der Kunst? Wir als Veränderte bleiben."

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