Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) gilt für viele als das Wunderkind schlechthin, dem wie von selbst die schönsten Melodien zugeflogen sind und der pausenlos ein Meisterwerk nach dem anderen geschrieben hat. So steht in seiner Geburtstadt Salzburg an einem
Mozart-Denkmal geschrieben: „Früh reif, spät erkannt, nie
erreicht“. Viele sehen
diese
Ansicht bestätigt, wenn so virtuos-melodiöse Meisterstücke wie der ersten Satz der Serenade Nr. 13 für Streicher G-Dur, KV (Köchel-Verzeichnis) 525, bekannter unter dem Namen „Eine kleine Nachtmusik“, gespielt werden:
Doch
stimmt diese Ansicht, die auch von vielen Filmen suggeriert wird? War
Mozart ein Genie, das aus sich selbst heraus ein Meisterwerk nach dem
anderen komponieren konnte, ohne in Wechselwirkung mit anderen zu
treten? Dass seine Musiksprache eine ganz eigene Note hat, welche die
Musikwelt unendlich bereichert hat, ist unbestritten. Dennoch war
Mozart ein sehr reflektierter, sensibler, an sich selbst zweifelnder
Komponist, der sehr wohl das Werk anderer Komponisten studierte und
für sich gewinnen wollte.
An
zwei Lebenswerken, welche Mozart relativ spät erst zugänglich
wurden, studierte er besonders lange, da sich hier für Mozart eine
Welt erschloss, deren Musiksprache ihm zuvor unbekannt war. Bei
näherer Betrachtung von Mozarts Biographie erkennt man, dass ihn
diese fremde Musik aufgrund ihrer Meisterschaft ebenso fasziniert wie
herausgefordert haben muss. Ob Mozart diese Begegnung im ersten
Moment eher beflügelt oder belastet hat, ist unbekannt. Bekannt ist:
Es soll eine Auseinandersetzung bis an die Grenzen von Mozarts
Schaffenskraft werden, die ihn bis zu seinem letzten, unvollendeten
Werk, ja bis zu seinem Tod hin begleiten sollte.
Diese
Auseinandersetzung führte er mit dem Werk von Johann Sebastian Bach
(1685-1750) sowie Georg Friedrich Händel (1685-1759) und davon soll
dieser Artikel handeln.
a)
Vorgeschichte
Bach
und Händel gelten als die größten Komponisten des Barocks, deren
Einfluss auf die Musikgeschichte kaum zu überschätzen ist. Speziell
Bach hat die Formen des Barocks bis ans Äußerste getrieben, ja
vollendet, sodass die nachfolgenden Generationen vor dem Problem
standen, neue Formen entwickeln zu müssen und eine neue Musiksprache
zu finden. Nicht umsonst wird heutzutage von vielen das Ende des
musikalischen Barocks plakativ mit dem Tod von Bach 1750
gleichgesetzt.
Was
wenige wissen, ist, dass Bachs Werk nach dessen Tode sehr schnell in
Vergessenheit geriet. Bachs große Chorwerke und seine Konzerte
traten erst im Zuge der Frühromantik in den 1820ern und 1830ern
Jahren durch Bestreben von jungen Künstlern wie Felix Mendelssohn
Bartholdy (1809-1847) wieder in das musikalische Bewusstsein der
Zeit. Somit waren Bachs Chor- und Orchesterwerke den Wiener Klassikern
wie Haydn, Mozart und Beethoven nicht bekannt.
Ist
das nun das peinliche Ende des Artikels?
Mitnichten! Es gab einen Mann, den
heute so gut wie keiner mehr kennt, der aber die Musikgeschichte
indirekt unendlich bereichert hat: Gottfried van Swieten
(1733-1803). Dieser Herr war Diplomat der Habsburger und später
Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien. Durch seine Reisen
als Diplomat durch ganz Europa entdeckte er viele Kunstschätze,
darunter auch Manuskripte von Bachs Studien wie „Das
wohltemperierte Klavier“ sowie „Die Kunst der Fuge“, aber auch
Suiten-Zyklen wie die französischen Suiten (von denen in einem
früheren Artikel bereits kurz die Rede war). Darüber hinaus
entdeckte und verbreitete er im deutschsprachigen Raum auch Werke von Händel wie dessen Suiten und dessen
Opus Magnum „Messiah“. Dieser weitsichtige Mann, Gottfried van
Swieten, erahnte die Bedeutung dieser Werke und brachte sie 1782 nach
Wien, wo er sie dem Kreis der führenden, hiesigen Komponisten
vorlegte. Darunter war auch Mozart, der seit 1781 in Wien lebte und
seiner Heimat Salzburg für immer den Rücken gekehrt hatte.
Als diese Werke in
Mozarts Hände gerieten, hatte dieser seine Meister gefunden, die
seit über 20 Jahren tot waren und nun durch ihre Kompositionen für
Mozart wieder lebendig wurden.
b) Mozarts Kampf mit der
barocken Form
Wie wir durch einen
früheren Artikel bereits wissen, war die Suite eine beliebte barocke
Kompositionsform. Nun lernte Mozart diese Form kennen und war
vermutlich schwer beeindruckt wie sowohl Bach als auch Händel diese
beherrschten. Betrachten wir hierfür zunächst die Form der
„Allemande“, einen zweiteiligen Schreittanz, der vermutlich aus
deutschen Volkstänzen hervorgegangen ist. Man beachte, wie souverän
und meisterhaft Bach diese Form beherrschte (aus der französischen
Suite Nr.3 h-Moll, BWV 814):
Doch
auch Händel wusste mit dieser Form umzugehen. Davon zeugt die
folgende sehr lyrische „Allemande“ (aus der Suite Nr.4 d-Moll,
HWV 437):
Keine
leichte Vorgabe für Mozart, nicht wahr? Mozart fühlte sich anfangs
in dieser Musiksprache nicht ganz zu Hause; davon zeugen viele
Entwürfe, die er nie der Öffentlichkeit preisgab. Dennoch
fruchteten bald seine Bemühungen, eine Suite zu schreiben, insofern,
dass neben weiteren Tanzsätzen auch eine „Allemande“ entstand.
Man beachte den in sich gekehrten Klang dieses Stückes! Hier ist
kein effekthaschender, trällernder Melodien-Virtuose am Komponieren,
wie Mozart von manchen Kritikern leichtsinnig abgetan wird. Wir hören
hier das Werk eines demütigen Menschen, der nach langen, intensiven
Studien versucht, einer Form gerecht zu werden (aus der Suite KV
399):
Es
sei jedem selbst überlassen, diese drei Varianten einer „Allemande“
zu beurteilen.
Was
hielt Mozart selbst von seiner Suite? Er hat sie nie vollendet ...
c) „Das wohltemperierte
Klavier“ fordert Mozart
Als nächstes
beschäftigte sich Mozart mit Bachs „Das wohltemperierte Klavier“.
Dieses Werk beinhaltet für jede Tonart zwei Kompositionen: Ein
einleitendes Präludium (oder auch Prélude) und eine Fuge. Da es 12
Tonarten gibt, beinhaltet ein Buch 24 Stücke. (Da Bach zwei Bücher
geschrieben hat, sind es in Summe 48 Stücke.)
Möglicherweise ist der
Begriff „Fuge“ nicht bekannt. Eine Fuge ist ein Musikstück, das
verschiedene Stimmen eines Themas (oder mehrerer Themen) kanonartig nach
strengen Gesetzmäßigkeiten verarbeitet. Fugen sind also mehrstimmig
(polyphon). Da dies nun furchtbar kompliziert klingt, hören wir uns
einfach das weltbekannte Präludium und die Fuge in C-Dur BWV, 846 des
ersten Buches an, um die komplizierte Begrifflichkeit zu
veranschaulichen:
Auf
Mozart musste die Kombination von Präludium und Fuge eine
unheimliche Faszination ausgeübt haben. Er begann sofort selbst eine
Sammlung zu komponieren (KV404a) mit dem Unterschied, dass er sich
bei seinen Varianten nicht auf dem Klavier versuchen wollte, sondern
auf ein Streichtrio (Violine, Viola und Cello) auswich. Ob er das aus
Respekt oder gar aus Furcht vor einem direkten Vergleich mit Bach
gemacht hat oder schlicht aus pragmatischen Gründen, weil keine
anderen Musiker zur Verfügung standen, ist unbekannt.
Dennoch
ist eines ausgesprochen bemerkenswert: Mozart komponierte bei seinen
ersten Versuchen liebreizende, tief bewegende Préludes selbst, die
ihm souverän gelangen. Bei den Fuge hingegen griff er auf Bach
zurück und arrangierte dessen Fugen beispielsweise aus dem
wohltemperierten Klavier für Streichtrio. Mozart wagte anfangs
nicht, eigene Fugen-Kompositionen beizutragen. Und das spricht Bände!
Reihenfolge der selbstkomponierten Preludien und den bearbeiteten Fugen:
- No. 1 in D minor: Adagio & Fugue after Bwv 853 (0:00)
- No. 2 in G minor: Adagio & Fugue after Bwv 883 (8:07)
- No. 3 in F major: Adagio & Fugue after Bwv 882 (13:58)
- No. 4 in F major: Adagio after Bwv 527 & Fugue after Bwv 1080 (19:41)
- No. 5 in E flat major: both Adagio & Fugue after Bwv 526 (28:24)
- No. 6 in F minor: Adagio & Fugue after W.F. Bach's Fugue No. 8 (35:50)
Reihenfolge der selbstkomponierten Preludien und den bearbeiteten Fugen:
- No. 1 in D minor: Adagio & Fugue after Bwv 853 (0:00)
- No. 2 in G minor: Adagio & Fugue after Bwv 883 (8:07)
- No. 3 in F major: Adagio & Fugue after Bwv 882 (13:58)
- No. 4 in F major: Adagio after Bwv 527 & Fugue after Bwv 1080 (19:41)
- No. 5 in E flat major: both Adagio & Fugue after Bwv 526 (28:24)
- No. 6 in F minor: Adagio & Fugue after W.F. Bach's Fugue No. 8 (35:50)
d) Mozarts Problem
Dass Bach ein Meister der
Fuge war, ist kein Geheimnis. Welche Gewalt und Meisterschaft Bach
auf diesem Gebiet erreicht hat, ist atemberaubend und bedarf keiner
weiteren Worte (Fuge g-Moll, WTK 2. Buch, BWV 885, vierstimmig!):
Das
wusste auch Mozart und deswegen zögerte er mit der Komposition
seiner eigenen ersten größeren Fuge. Als er sich schließlich dazu
durchrang, eine Fuge für Klavier zu schreiben, tat er dies mit einem
einfachen Trick, um Klangfülle zu gewinnen: Er schreib sie für zwei
Klaviere (KV426). Und wenn man diese Musik hört, dann klingt das gar nicht
mehr nach Mozart, wie er landläufig gekannt wird. Das ist die Musik
eines strebenden, suchenden Mannes, der einen Konflikt mit sich
selbst in einer Komposition ausficht, um seiner Unzulänglichkeit Herr zu werden. Man fühlt sich fast an Ludwig van Beethoven (1770-1827)
erinnert. Und vielleicht hatte Mozart in seinen einsamsten Momenten,
in seinem dunkelsten Drange im Schatten anderer, seine visionärsten
Stunden:
e) Mozarts Lösung
Mozart, ein an Bach
Gescheiterter?
Das Gegenteil ist der
Fall! Auch wenn Mozart sich in den barocken Formen versucht und sie
leidenschaftlich studiert hat, lag ihm nichts ferner, als Bach gekonnt
reproduzieren zu wollen. Dadurch wäre er bestenfalls ein
geistreicher Epigone Bachs geworden, ein zu spät Geborener, aber
kein Meisterkomponist, der durch seine eigene Musiksprache neue
Horizonte entdeckt und erobert. Das wäre Mozart zu wenig gewesen!
Mozart wollte mit seiner Musik selbst bestehen können und sah seine
Barockstudien als dankbare Methode, sein eigenes Schaffen auf neue
Bahnen zu führen. Dieses Unterfangen gelang und schrieb
Musikgeschichte! Mozart vollzog die Meisterleistung, in seinem
Spätwerk seinen ureigenen Klang mit barocken Stilmittel (speziell
mit Fugentechniken) zu verbinden. Diese Fertigkeit machte ihn zu
einem Genie ersten Ranges, das Bachs Geist auf eine ganz neue Weise
zu kanalisieren vermochte.
Gibt es dafür Beispiele?
Natürlich, und ich bin
mir sicher, jeder kennt sie insgeheim!
Nehmen wir zunächst den
4. Satz, den Finalsatz, aus Mozarts letzten Symphonie (Nr.41, KV
551): Dieser Finalsatz gehört zum Raffiniertesten, das Mozart
geschrieben hat. Hier sind im gesamten Satz viele fugen-ähnliche
Abschnitte, sogenannte „Fugatos“, versteckt (das erste Mal ab
Minute 0:31 in der Hörprobe), welche in einen großen
Fugato-Schlussteil (ab Minute 5:42) münden. Am besten hat es
vielleicht ein renommierter Konzertführer beschrieben, als er in
Bezug auf diesen Satz sagte:
„Mozart versucht und
meistert eine zuvor unlösbare Aufgabe: die Synthese von Homophonie
und Polyphonie, von Sonatensatz und Fuge, von Barock und Klassik oder
– auf höchster Ebene – von galant und gelehrt. Und das
eigentliche Ereignis dieses Satzes ist nicht einmal die Tatsache,
dass diese Aufgabe gelöst wird, sondern vielmehr auf welche
atemberaubend selbstverständliche Art und Weise das alles geschieht:
mit jener fast spielerischen, völlig gelösten Eleganz und
Natürlichkeit, die höchste Kunstfertigkeit auf einmal ganz schlicht
erscheinen lässt.“ (Schweizer/Werner-Jensen, „Reclams
Konzertführer“, S.195, 17. Ausgabe, 2001)
Meisterhaft,
nicht wahr? Selten war hochkomplexe Musik als so leichte, beschwingte
Muse verpackt, die einem so unmittelbar in ihren Bann zieht.
Das vielleicht
berühmteste Fugato Mozarts steckt wohl in der Ouvertüre seiner
letzten Oper „Die Zauberflöte“ (KV620), die vermutlich
bekannteste Oper der Welt - beliebt bei alt und jung. Gleich nach der
Einleitung folgt ein fugenhafter Teil als Hauptthema (ab Minute 1:29
und später ab 3:51 in der Hörprobe) – singbar und doch komplex:
Diese
Fusion Barock-Klassik beschäftigte Mozart bis an sein Sterbebett,
bis zu seinem letzten unvollendeten Werk, dem Requiem (KV 626). Die
Musikwissenschaftler streiten, wie weit Mozart es noch vollenden
konnte; unumstritten
ist, dass der Satz „Kyrie“ sehr wohl noch aus Mozarts Feder
floss. Hier krönte
Mozart als Sterbender sein
Lebenswerk mit einer Fuge, die an eine aus
Händels „Messiah“ (HWV 56) angelehnt
ist. Es
handelt sich um Händels
Chorsatz
„And
with his stripes we are healed“:
Abgerundet wird dieser
Artikel nun mit Mozarts Abgesang, mit
dem „Kyrie eleison“ („Herr, erbarme
dich“) aus seinem
unvollendeten
Requiem, vielleicht seine
ganz persönliche
Verneigung vor den Meistern des Barocks an
der Pforte zu einer neuen Welt:
Eingangs wurde die
Salzburger Inschrift über Mozart zitiert: „Früh
reif, spät erkannt, nie erreicht“.
Mich
überzeugt diese Inschrift nicht, aber ich kann nur zustimmen,
wenn es heißt: „Mozart kam auf die Welt, blieb kurz und ließ sie
bereichert zurück.“
Ja, wir Lebenden werden
als Staunende auf Erden zurückgelassen und sollten im Stillen
dankbar sein, dass sich jene Meister wie Bach, Händel und Mozart –
wenn auch nur über Manuskript – begegnen durften.
Ich möchte mit Musils
Wort schließen:
"Was bleibt von der
Kunst? Wir als Veränderte bleiben."
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