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Sonntag, 2. Juni 2024

"Nino Rota – Romeo und Julia"

 
"Zwei Häuser waren – gleich an Würdigkeit – 
Hier in Verona, wo die Handlung steckt, 
Durch alten Groll zu neuem Kampf bereit, 
Wo Bürgerblut die Bürgerhand befleckt. 
Aus dieser Feinde unheilvollem Schoß 
Das Leben zweier Liebender entsprang, 
Die durch ihr unglückselges Ende bloß 
Im Tod begraben elterlichen Zank. 
Der Hergang ihrer todgeweihten Lieb 
Und der Verlauf der elterlichen Wut, 
Die nur der Kinder Tod von dannen trieb, 
Ist nun zwei Stunden lang der Bühne Gut…"
(aus Prolog, Übersetzung: A.W. Schlegel)
 

Der Prolog von William Shakespeares „Romeo und Julia“ (1597) nimmt das Schicksal der jungen Liebenden vorweg. Was auf der Bühne folgt, ist lediglich der Verlauf des Dramas, der unaufhaltsam besagter Tragödie zusteuert. So widmet sich das eigentliche Geschehen nach dem ‚Was‘ des Prologs nur noch dem ‚Wie‘, das nach Inszenierung verlangt. Eine der besten gelang dem Regisseur Franco Zeffirelli in seiner gleichnamigen Verfilmung (1968), wo sich kinematographische Brillanz mit musikalischer Erfindungskraft zu einer kongenialen Einheit verband, die Begriffe wie Jugend, Liebe, Poesie, Schmerz und Tod auf die Leinwand übertrug und Shakespeares Zeitlosigkeit audio-visuell fortzusetzen wusste.  

 


Die Filmmusik bildet zu Zeffirellis Gesamtkunstwerk „Romeo und Julia“ einen wichtigen Beitrag, indem sie die Sinnlichkeit der hochästhetischen Bilder nicht nur unterstützt, sondern in ihrer Wirkung sogar noch verstärkt. Der Komponist Nino Rota (1911-1979) war zur Zeit der Entstehung des Films längst kein Unbekannter mehr und hatte bereits mit einigen der größten Regisseuren des italienischen Films wie Federico Fellini („I vitelloni“ [1953], „La strada“ [1954], „La dolce vita“ [1960]) oder Luchino Visconti („Senso“ [1954], „Rocco e i suoi fratelli“ [1960], „Il Gattopardo“ [1963]) zusammengearbeitet und unvergessliche Tongemälde für ihre Meisterwerke geschaffen. Die Musik zu Franco Zeffirellis Shakespeare-Adaption sollte allerdings sein bislang größter Erfolg werden und gehört bis heute (neben dem später entstandenen Soundtrack zu „The Godfather“) zu seinen bekanntesten sowie ergreifendsten Werken. 

Um zu erfahren, was diese Musik so großartig und berührend macht, bedarf es einer genaueren Betrachtung. Diese wird zur Erkenntnis führen, dass in Rotas Filmmusik der Geist großer Meister der Vergangenheit präsent ist, welcher der Originalität und Ausdruckskraft seiner cineastischen Schöpfung freilich keinen Abbruch tut, dieser aber sehr wohl eine weitere Dimension an historischer Tiefe verleiht. 

Beginnen wir beim Leitthema Romeos: Dieses besteht aus zwei unterschiedlichen Motiven. Das erste Motiv (bis 01:03) ist von pastoraler Einfachheit durchdrungen: Eine ansteigende Tonfolge wird von einem kindlich-suchenden, triolischen Umspielen einzelner Töne abgelöst, während der gesamte musikalische Verlauf des Motivs eine aufstrebende Entwicklung, als wäre etwas im Entstehen begriffen, vollführt. Assoziationen an den anbrechenden Tag, wo sich die Sonne langsam über den morgendlichen Dunst erhebt, werden ebenso evoziert wie das langsame Erblühen einer zuvor noch verschlossenen Knospe oder eben das Erwachen bislang unbekannter Regungen jugendlichen Empfindens, wie es im Stück ja auch in der Gefühlswelt des Knaben geschieht. Das zweite Motiv Romeos (01:04-01:33) bestätigt und verstärkt diese Vermutungen in sinnlicher wie pastoraler Hinsicht, indem eine Flöte - Attribut der Hirten, männlich konnotiert - eine eigene Melodielinie entwickelt, die einen größeren Tonumfang umfasst als es noch im ersten Motiv der Fall war. Die sich auf und ab bewegenden Läufe, aus denen die innige Melodie besteht, haben melancholisch-suchenden Charakter, der von Sehnsucht getragen wird, die zwar noch nicht auf Begriffe gebracht werden kann, im erwachten Empfinden des jungen Mannes fortan aber präsent ist. 

 

 

Mögliche Inspirationsquelle für Romeos Motive verweisen auf melodische Einfälle von großen Kompositionen der Romantik. Für das erste Motiv könnte beispielsweise der zweite Satz des späten Symphoniefragments D936A von Franz Schubert (1797-1828) Pate gestanden haben, dessen triolischen Umspielungen eines meditativ-resignativ um sich kreisenden Themas zwar in einem ganz anderen Kontext stehen als es bei Romeo der Fall ist; die melodische Erfindung weist aber verblüffende Ähnlichkeiten auf. Entfaltet sich bei Romeo eine aufstrebende Entwicklung, so ist diese bei Schubert zwar ebenso vorhanden, allerdings als bestürzendes Zeugnis gehemmt und in ihrer hermetisch verschlossen Eigenart immer wieder in sich selbst zurückfallend. So verharrt es in resignativer Isolation, bis kontrastierend aufhellende Einschübe (ab 03:00) das Thema fortspinnen, ins Lichte wandeln und durch ins Himmlische transzendierte Klangsphären etwas Trost finden. Es handelt sich hierbei um heilige, weit in die Zukunft weisende Musik der neuen subjektiven Innerlichkeit tiefster Romantik, welche ungeahnte Tonräume erschließt, welche der menschlichen Ausdruckskraft zuvor noch nicht zugänglich waren. Es ist Schuberts Schwanengesang, der Abschied eines Sterbenden von der Welt, der noch in den letzten Stunden seines kurzen Lebens daran gearbeitet hat, bis ihm die Feder vor unvollendeter Arbeit - die dennoch das Signum des Vollendeten in sich trägt - für immer aus den Händen glitt. Dass diese Musik dazu bestimmt war, Fragment zu bleiben (und von der Nachwelt umständlich rekonstruiert werden musste), gehört zu den schmerzlichsten Verlusten der Musikgeschichte und findet im Beginn von Nino Rotas Thema für Romeo, welcher ebenso einen frühen Tod erleiden muss, ein fernes, bitter-süßes Echo.  

 

 

Doch auch der melodische Lauf der Flöte im zweiten Motiv Romeos findet im Werk Schuberts seine Inspirationsquelle, nämlich im Glaubensbekenntnis („Credo“) seiner frühen Messe D167, wo dieser Lauf im Bass von Anfang an bereits vorgeprägt ist und später (ab 01:03) die Streicher in die lichten Höhen erhebender Sphären überführt. Allerdings verharrt die Musik nicht in diesen Sphären, sondern mündet in einen düsteren Moll-Einbruch, der auf den frühen Kreuztod Jesu („Crucifixus“) verweist (ab 01:34). Bei Wiederaufnahme des von den Streichern zuvor intonierten Themas (ab 02:03) ist plötzlich alles ins Erhabene gesteigert und der Chor gemahnt von den Streichern im fortissimo unterstützt trotzig mit voller Kraft an die Auferstehung des zuvor Gekreuzigten („Et resurrexit“). - Soweit geht Rota in seiner Komposition freilich nicht. Er begnügt sich bei Romeos Motiv mit der wunderbaren Melodielinie der Streicher in Form ihres initialen Erscheinens.  

 

 

Nicht nur Nino Rota ließ sich von diesem wunderbaren Einfall in Schuberts Messe inspirieren, sondern auch der große Schubert-Verehrer Anton Bruckner (1824-1896) verwendete an exponierter Stelle in einer seiner großen Symphonien diesen Streicherlauf. Es handelt sich um die begleitende Ausgestaltung der Wiederaufnahme der herrlichen Kantilene im zweiten Satz seiner 5. Symphonie (ab 11:06). In diesem grandiosen Einfall von elegischer Monumentalität scheint dem gläubigen Katholiken Bruckner tatsächlich die Vertonung der sich öffnenden Himmelspforten gelungen zu sein. Es ist einer jener Momente der großen Symphonik, den man auch nach nur einmaligem Hören nie wieder vergessen kann. Bei den von den Bläsern intonierten Gesang handelt es sich um die bereits im Verlauf des Satzes mehrfach vorgestellte Kantilene, der sich im Hintergrund von den Streichern himmlisch gestaltende Klangteppich, ist aber eine Referenz an jenes Glaubensbekenntnis aus der frühen Schubert-Messe, der hier zu einem Höhepunkt der romantischen Symphonie wurde. - Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Rota auch mit den Symphonien Bruckners gut vertraut war, schließlich hatte er Auszüge der 7. Symphonie für Luchino Viscontis Meisterwert „Senso“ (1954) als Filmmusik aufbereitet.  

 

 

Doch zurück zu Nino Rotas Filmmusik für „Romeo und Julia“. Das Leitthema der Julia ist ebenso wie jenes Romeos in zwei Motive aufgeteilt. In dieser Hinsicht korrespondieren die beiden Liebenden rein formal schon einmal miteinander. Doch die Übereinstimmung geht noch weiter, da das erste Motiv Julias dem zweiten Romeos entspricht. Es wird in Julias Fall aber nicht von einer (maskulin konnotierten) Flöte vorgetragen, sondern vom - femininen - Klangkörper einer Laute (bzw. Gitarre). Somit wird bereits in der rein musikalischen Anlage - noch bevor sie sich begegnet sind - ihre Bestimmung füreinander ausgedrückt: Die erwachte, sehnsuchtsvoll-suchende Gefühlswelt in Romeos Empfinden findet in Julia ebenso zarten wie zerbrechlichen Widerhall im Lautenklang. Die Sehnsucht nach einem Gegenüber ist also in beiden - Romeo wie Julia - vorhanden, was die Voraussetzung für ihre gegenseitige Liebe sowie das Streben nach Vereinigung (bis in den Tod) ist. Bei der Wiederholung des Themas (ab 00:32) wird diese Sehnsucht musikalisch sogar nahezu physisch greifbar manifestiert, indem das Motiv durch die von der Laute begleiteten Flöte vorgetragen wird, das männliche wie das weibliche Attribut im Duett zueinander finden. - Das zweite Thema Julias (ab 01:02) ist ein lebhafter Sprungtanz in Form eines „Saltarello“ („saltare“ italienisch für „hüpfen“) als Ausdruck ihrer jugendlich unschuldigen Frohnatur.  

 

 

Dass Romeos Motiv in jenem Julias gerade von einer Laute aufgegriffen wird, ist (unabhängig der geschlechtlichen Symbolik) ein besonders glücklicher Einfall Rotas, da gerade in der venezianischen Tiefebene, wo die Handlung verortet ist (Verona), bereits im frühen 16. Jahrhundert erste Notationen für Lautenmusik überliefert sind, welche die in der Filmmusik so prägnanten Läufe aufweisen. Ein schönes Beispiel ist das Liebeslied „J’ay pris amours“ („Ich habe Liebe angenommen“) für zwei Lauten:  

 

 

Doch auch Julias zweites Motiv, der Saltarello, ist sehr gut gewählt, da dieser im 14.-16. Jahrhundert gerade in Italien ein sehr beliebter und weitverbreiteter Tanz war. Ein besonders berühmtes Beispiel und eher exzentrischer Vertreter seiner Gattung ist ein Saltarello aus dem 14. Jahrhundert, der die sprunghaften Tanzschritte völlig entfesselt in fast manische Regionen treibt, wogegen Julias Motiv zahm und züchtig wirkt, wie es eben die höfische Etikette einer Dame vorschreibt.  

 

 

Kommen wir nach dem etwas exaltierten Exkurs der animalischen Tiefen des Saltarellos aber wieder zur Filmmusik zurück: Nach der ersten Begegnung von Romeo und Julia fand Nino Rota ein wunderbares Motiv, das berühmte Liebesthema, welches die aufkeimende Liebe ebenso in sich birgt wie den Trennungsschmerz. Dieses Motiv steht für beide Individuen, die in ihrem Empfinden eins geworden sind und den Verlust des Gegenübers fürchten. Die suchenden Läufe aus ihren zuvor vorgestellten Motiven sind verschwunden, da sie mittlerweile im jeweils anderen fündig wurden. Was bleibt, ist aber die Sehnsucht nach Dauer und Bestand. Was bleibt, ist der Wunsch, das Gefundene zu fassen, gegen alle Widrigkeiten von außen an sich zu binden, um fortan in Frieden mit ihm zu sein. Entsprechend umfasst dieses eine Motiv beide, Romeo und Julia, als verbundenes Paar in zweisamer Einheit. - Dieses wehmütige Liebesmotiv, das in seiner fallenden Geste einem Seufzer gleicht, gehört zu den berühmtesten Melodien der Filmgeschichte und ist auch vom Film losgelöst in die Popkultur eingegangen, da das in ihr ausgedrückte tiefe Empfinden auch außerhalb des Kontextes Gültigkeit behaupten kann.  

 

 
 
Am Höhepunkt des Films - kurz vor Romeos und Julias Tod - wird das Liebesthema vom vollen Orchester auf bewegende Weise noch einmal vorgestellt. Dabei kehrt auch der Saltarello (ab 01:08) Julias wieder, der nun aber nicht mehr in seiner ursprünglichen unbedarften Erscheinungsform - wie es auch in der letzten Hörprobe noch der Fall war - auftritt, sondern Julias Entwicklungsprozess durch ihre Erfahrung von Sehnsucht, Liebe, Leid und Todesnähe in sich aufnimmt und musikalisch zu einem gereiften, gefestigten Selbst transzendiert, dem nichts Sprunghaftes mehr innewohnt, nur noch der letzte Entschluss aus Liebe. Aus dem unschuldigen Mädchen wurde schlussendlich eine wissende, liebende und leidende Frau, die selbstbestimmt ihren letzten Weg geht, welchen die erhebende Transformation des Saltarellos symbolisiert. Man könnte (in Anlehnung an Richard Wagners Ende von „Tristan und Isolde“) auch von „Julias Verklärung“ sprechen.  

 

 
 
Nino Rota ist mit der Filmmusik zu „Romeo und Julia“ ein Meilenstein gelungen: Die Zeitlosigkeit von Shakespeares Text versieht er mit Musik von ebenso zeitloser Gültigkeit. Seine Musiksprache erschließt dabei Gefühlswelten, die Shakespeares Worten nicht nur gerecht werden, sondern diese für viele überhaupt erst nahbar machen. So wird Rota auf den Schultern von Riesen selbst ein Großer, indem seine Musik Romeos und Julias grenzenlose Liebe ebenso in die Welt hinausschreit wie ihr abgrundtiefes Leid: 
 
„So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe 
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, 
Je mehr auch hab’ ich: beides ist unendlich.“  (Julia; Akt 2, Szene 2)  
 
„Und wohnt kein Mitleid droben in den Wolken, 
Das in die Tiefe meines Jammers schaut?“      (Julia; Akt 3, Szene 5) 
 
Wen das Schicksal der beiden Liebenden kalt lässt oder wer sich darüber gar lustig macht, dem kann man nur Romeos Worte entgegnen: 
 
„Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.“ (Romeo; Akt 2, Szene 2) 
 
Nino Rotas Musik kennt die Wunden.
 
 
 
 

Sonntag, 10. Oktober 2021

Nachtgedanken - "Nach einer Dante-Lektüre"




 
"Aus schwarzgewordnem Bronze-Gruftendeckel 
Sind die berühmten schweren alten Verse, 
Kalt anzufühlen, unzerstörbar, tragend 
Den Toten-Prunk, schwarzgrüne Wappenschilde 
Und eine Inschrift, ehern auf dem Erz, 
Die denken macht, doch keinen Schauer gibt. 
Du liest und endlich kommst du an ein Wort, 
Das ist, wie deine Seele oft geahnt 
Und nie gewußt zu nennen, was sie meinte. 
Von da hebt Zauber an. An jedem Sarg 
Schlägt da von innen mit lebendgen Knöcheln 
Das Leben, Schultern stemmen sich von unten, 
Der Deckel dröhnt, wo zwischen Erz und Erz 
 Die schmalste Spalte, schieben Menschenfinger 
Sich durch und aus den Spalten strömt ein Licht, 
Ein Licht, ein wundervolles warmes Licht, 
Das lang geruht im kühlen dunklen Grund 
Und Schweigen in sich sog und tiefen Duft 
Von nächtigen Früchten – dieses Licht strömt auf, 
Und auf die Deckel ihrer Grüfte steigen, 
Den nackten Fuß in goldenen Sandalen, 
Die tausende Lebendigen und schauen 
Auf dich und auf das Spiel gespenstiger Reihen 
Und reden mehr als du begreifen kannst."


Hugo von Hofmannsthal







Donnerstag, 19. August 2021

"Gustave Flaubert - Nachtgedanken I"




„Im Grunde ihrer Seele freilich wartete sie auf ein Ereignis. Wie Matrosen in Seenot ließ sie über die Einsamkeit ihres Lebens einen verzweifelten Blick schweifen, suchte in der Ferne nach einem weißen Segel am diesigen Horizont. Sie wusste nicht, wie dieser Zufall aussehen, welcher Wind ihn zu ihr treiben, an welches Ufer er sie bringen würde, ob er Schaluppe war oder Schiff mit drei Decks, schwer von Ängsten oder voller Glückseligkeit bis hinauf in die Ladeluken. Doch jeden Morgen beim Aufwachen erwartete sie ihn für diesen Tag, und sie lauschte auf alle Geräusche, sprang erschrocken hoch, wunderte sich, dass er nicht kam; und ersehnte dann, bei Sonnenuntergang, jedesmal ein bisschen trauriger, den nächsten Morgen.“


Gustave Flaubert - "Madame Bovary" 
- aus 1. Teil, IX (Übersetzung: E.Edl)






Freitag, 2. Juli 2021

"Luis Buñuel - Atheist von Gottes Gnaden"

 

Luis Buñuel (1900-1983) war ohne Zweifel einer der bedeutendsten und innovativsten Regisseure der Filmgeschichte. In dem gebürtigen Spanier und bekennenden Atheisten fand die Bewegung des Surrealismus nicht nur einen ihrer Wegbereiter, sondern auch ihren ausdrucksstärksten Vollender im bewegten Bild: Allegorisch verschlüsselt und doch stets treffsicher werden starre gesellschaftliche Rituale und religiöse Irrlehren mit lustvoller Absurdität bloßgestellt und so dem – nicht selten schockierten Publikum die eigene Borniertheit sowie das eigene Begrenztsein schonungslos, aber immer mit feinem Sinn für Humor vor Augen geführt. Nicht selten vermag Buñuels Bilderreigen eine neue, unorthodoxe Sicht auf die Welt zu vermitteln, der jede Konvention und Anbiederung fremd ist. Frühe surrealistische Traumvisionen wie „Ein andalusischer Hund“ (1929) oder „Das goldene Zeitalter“ (1930) zeugen genauso davon wie die Meisterwerke „Viridiana“ (1961), „Der Würgeengel“ (1962) und der späte, abgründig groteske Triptychon bestehend aus „Die Milchstraße“ (1969), „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972) sowie „Das Gespenst der Freiheit“ (1974). 

 


 

Wenige Monate vor seinem Tod verfasste Buñuel – gemeinsam mit Jean-Claude Carrière (1931-2021), mit dem er sechs Drehbücher seiner späten Filme entworfen hatte – seine Lebenserinnerungen in Form eines Buches mit dem bezeichnenden Titel "Mein letzter Seufzer". Darin gelang ein Paradoxon: Ein nüchterner, lakonischer Stil, von dem Hemingway nur träumen konnte, paart sich mit Beschreibungen von scheinbar minutiöser Exaktheit und doch unverhohlen rein fragmentarischem Charakter. Wir werden hierbei Zeugen von Buñuels Gedankengängen, in denen aufgrund ihrer innewohnenden Subjektivität Vorstellung, Erinnerung und Wahrhaftigkeit untrennbar miteinander verschmelzen und die innere Widersprüche gar nicht erst auflösen wollen. Buñuel beschreibt das Leben unsentimental und illusionslos als episodenhaften Traum ohne Gewissheit auf Erlösung in Form eines klärenden Erwachens. Weit entfernt religiösen Lehren auch nur den Funken an Glauben zu schenken, stellen Buñuels Erinnerungen ein Bekenntniswerk ohne Bekenntnis dar; ein aus Reflexionen errichtetes Monument, das an nichts glaubt außer an unsere Nichtigkeit. Mit dieser Gewissheit ging Buñuel von der Welt und hinterließ sein letztes surreales Meisterwerk:

 

„Der Zufall ist der große Meister aller Dinge. Danach erst kommt die Notwendigkeit … Wenn auch unsere Geburt ganz zufällig ist, so tritt die Rolle des Zufalls doch zurück, wenn die menschlichen Gesellschaften sich bilden, der Fötus und dann das Kind sich den Gesetzen unterworfen sehen. Das trifft auf alle Arten zu. Die Gesetze, die Bräuche, die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen einer gewissen Entwicklung, eines gewissen Fortschritts, alles, was vermeintlich zur Durchsetzung, zum Vorwärtsschreiten, zur Stabilität einer Kultur beiträgt, der wir durch das Glück oder das Missgeschick unserer Geburt angehören, alles das bildet einen täglichen und hartnäckigen Kampf gegen den Zufall. Nie ganz vernichtet, zählebig und listenreich, versucht er sich der gesellschaftlichen Notwenigkeit anzupassen.“

 


 
„Aber wir müssen uns, glaube ich, davor hüten, in diesen Gesetzen, die notwendig sind, um unser Zusammenleben zu ermöglichen, eine grundlegende uns wesentliche Notwendigkeit zu sehen. In Wirklichkeit scheint es mir nicht notwendig, dass es diese Welt gibt, nicht notwendig, dass wir gerade hier leben und sterben. Da wir nur Kinder des Zufalls sind, hätte die Erde, hätte das Universum auch ohne uns weiterbestehen können bis an das Ende aller Zeiten. Eine unvorstellbare Vorstellung, ein leeres, unendliches, theoretisch nutzloses Universum, das von keiner Intelligenz durchdrungen würde, das für sich existierte, ein dauerndes Chaos, ein unerklärlicher Abgrund ohne Leben … Der Zufall kann keine Schöpfung Gottes sein, weil er die Negation Gottes ist ... Ich glaube nicht und bin überzeugt, dass auch der Glaube, wie alles andere, weitgehend dem Zufall entspringt … Die Konsequenz, die ich für meinen eigenen Gebrauch daraus ziehe, ist sehr einfach: Glaube und Nichtglaube ist dasselbe. Wenn man mir in diesem Augenblick die strahlende Existenz Gottes bewiese, würde das absolut nichts an meinem Verhalten ändern.“
 


 
„Dem Zufall zur Seite steht sein Bruder, das Geheimnis. Der Atheismus, jedenfalls der meine, bringt einen zwangsläufig dahin, das Unerklärbare zu akzeptieren. Das ganze Universum ist Geheimnis. Da die Annahme einer organisierenden Gottheit, deren Wirken mir noch geheimnisvoller schiene als das Geheimnis, für mich nicht in Frage kommt, muss ich wohl in einer gewissen Finsternis leben. Die akzeptiere ich. Keine Erklärung, nicht einmal die einfachste gilt für alle. Von zwei Geheimnissen habe ich meins gewählt, weil es mir zumindest meine moralische Freiheit lässt ... Mit der Manie, alles verstehen zu wollen und damit herabzuwürdigen, mittelmäßig zu machen, sind wir von der Natur geschlagen. Wären wir in der Lage, unser Geschick dem Zufall anzuvertrauen und das Geheimnis des Lebens mutig anzunehmen, wären wir einem bestimmten Glück nahe, das der Unschuld ähnelt. Irgendwo zwischen Zufall und Geheimnis schleicht die Imagination sich ein, die völlige Freiheit des Menschen. Diese Freiheit hat man, wie die anderen, herabzumindern, auszulöschen versucht. Das Christentum hat zu diesem Zweck die Gedankensünde erfunden … Doch die Imagination ist unser oberstes Prinzip. Unerklärlich wie der Zufall, der sie provoziert … Meine Phantasie ist immer da und stärkt mich mit ihrer unangreifbaren Unschuld bis ans Ende meiner Tage.“
 


 
„Ein Bedauern: Nicht mehr zu erfahren, wie es weitergehen wird. Aus einer ständig sich verändernden Welt herausgerissen zu werden wie aus einem Fortsetzungsroman. Ich glaube, die Neugier auf das, was nach unserem Tode passieren wird, gab es früher nicht, oder es gab sie weniger in einer Welt, die sich kaum verändert. Ein Geständnis: Trotz meines Hasses auf die Medien würde ich gern alle zehn Jahre von den Toten auferstehen, zu einem Kiosk gehen und mir ein paar Zeitungen kaufen. Mehr verlange ich gar nicht. Mit den Zeitungen unterm Arm würde ich, bleich die Mauern entlangschleichend, zum Friedhof zurückkehren und von den Katastrophen der Welt lesen, um dann im sicheren Schutz meines Grabes beruhigt wieder einzuschlafen.“ 

- Zitate aus "Mein letzter Seufzer" (1982)

Dienstag, 22. Juni 2021

"Don Quijote - Ritter der Moderne"


„Don Quijote“ von Miguel de Cervantes (1547-1616) ist geistreichste Weltliteratur: Glänzt es an der Oberfläche mit virtuoser Komik, so schlummert unter dem lustvollen Fabulieren eine Tragik von epochalem Ausmaß. Den unbändigen Humor bezieht das Werk aus der Tatsache, dass ein vermeintlicher Ritter, Don Quijote, mit seinen hehren Idealen permanent an der Realität scheitert; die Tragödie besteht in der Tatsache, dass dieser unfähig ist, seine hoffnungslose Lage zu erkennen, sondern vielmehr in dieser zu verharren und so in sein Unglück zu stürzen. In dieser kompromisslosen Absage an einen Bildungsroman liegt Cervantes’ zeitlose Radikalität, die auch in unserer Gegenwart auf erschreckende Weise Manifestation erlangt und Don Quijote zu einer modernen Figur werden lässt. 
 
 

 
Um von der Ursache zu erfahren, woran Don Quijotes Geist krankt und weshalb seine Interaktionen mit der Umwelt meist einen unglücklichen Verlauf nehmen, sei aus dem ersten Kapitel des epochalen Romans zitiert, worin der bissige Erzähler lustvoll im hohen, parodierenden Ton seiner Hauptfigur Spott und Hohn preisgibt und dabei zugleich eine Diagnose zu stellen versucht: 
 


 
„An einem Ort in der Mancha, ich will mich nicht an den Namen erinnern, lebte vor nicht langer Zeit ein Edelmann … Besagter Hidalgo widmete sich in den Mußestunden – die meisten im Jahr – dem Lesen von Ritterromanen, und dies mit solchem Eifer und Vergnügen, dass er darüber fast die Jagd, ja selbst die Verwaltung von Geld und Gut vergaß. Lesehunger und Verirrung gingen so weit, dass er viele Morgen Ackerland verkaufte, um sich Ritterbücher zu besorgen, und er schaffte alle in sein Haus, deren er habhaft werden konnte… 
 
Kurz, er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trocknete ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in seinen Büchern fand … All das nistete sich so fest in seinem Geist ein, dass ihm das Lügengebäude der phänomenalen Phantastereien, von denen er las, ganz unverrückbar wurde und es für ihn auf Erden keine wahrere Geschichte gab… 
 
Als seine Vernunft bereits hoffnungslos verflogen war, verfiel er auf den seltsamsten Gedanken, dem je ein Verrückter auf der Welt verfallen war, denn es schien ihm würdig und recht, zur Mehrung seiner Ehre und zum Dienst an seinem Land ein fahrender Ritter zu werden und wohlgerüstet hoch zu Ross in die Welt hinauszuziehen, Abenteuer zu suchen und all das zu vollführen, was die fahrenden Ritter, wie er gelesen hatte, vollführten, jeglichem Unrecht abzuhelfen, Gefechte und Gefahren zu trotzen, sie zu bestehen und ewigen Ruf und Ruhm zu erlangen.“ 
(Übersetzung: Susanne Lange) 
 


 
Don Quijotes Vorstellungswelt wird also von seiner Ritterroman-Lektüre bedingt und isoliert ihn gegenüber Informationen, die dieser widersprechen. Der damit einhergehende Abnabelungsprozess von der Außenwelt ist sogar soweit fortgeschritten, dass Personen, Gegenstände oder Gebäude, die für einen Betrachter evident und leicht einordenbar wären, von Don Quijote umgedeutet werden, damit sie sich schlüssig in die Welt seiner Vorstellung fügen lassen und seinem verblendeten Idealismus nicht weiter stören: So werden von ihm beispielsweise Prostituierte zu Burgfräulein, die Schenke zur Burg, volle Weinschläuche zum Leib eines Ungeheuers, das Rasierbecken eines Barbiers zu einem Helm und die neuartige Erscheinung von Mühlen zu bedrohlichen Riesen stilisiert. Don Quijote, der sich mit seinen ehrbaren Ritter-Idealen als letzter seiner Zunft empfindet, versucht so die aus den Fugen geratene Welt mach seiner Auffassung zu retten. Dass er dabei selbst zum Anachronismus wird, der Unheil in der Welt anrichtet, und bei allen Beteiligten – selbst beim nacherzählenden Chronisten seiner Abenteuer – nur Spott und Hohn erntet, erkennt er nicht. 
 


 
 
Doch Don Quijotes Tragik ist kein reines Phänomen eines zu spät geborenen Möchtegern-Ritters. Sein Dilemma ist vielmehr hochaktuell. In einer medial vernetzten Welt, in der für jeden mit seiner noch so abwegigen Meinung und Sicht auf die Welt eine Filterblasen existiert, in der Bestätigung gefunden, Widerspruch hingegen ausgeblendet wird; in einer Welt, in der von Hybris und Unvermögen getriebene, rhetorisch geschulte Karrieristen Staatsmänner mimen und bei der ersten Begegnung mit dem Wahl-Volk sich der Lächerlichkeit preisgeben, weil sie mit diesem nicht sprechen können; in einer Welt, in der Institutionen und Parteien hehre Ideale proklamieren und diese bei der ersten Begegnung mit der Wirklichkeit als veräußerliche Ware im Sinne eines politischen Pragmatismus zu erkennen geben; in einer solchen Welt verliert die Figur eines Don Quijotes jede Komik und wird zum raunenden Mahnmal, dessen Tragik plötzlich zeitlose Dimensionen gewinnt und ein Zeichen der Warnung über Jahrhunderte hinweg in unsere Gegenwart, mitten in unsere Gesellschaft wirft: Der Wahn, dem Don Quijote anheimfiel, schlummert in Wirklichkeit in jedem von uns als immanente Bedrohung, denn der Weg in den Abgrund verläuft meist auf unbewusstem Pfad ... 
 



 

Donnerstag, 22. Oktober 2020

------------- Lukas Sölkner - Spiegel im Dunkel ------------

E n t w i c k l u n g s r o m a n 


Ein Selbstmord mitten in Wien. Ohne ersichtlichen Grund. Ohne jede Erklärung. Was bleibt: offene Fragen, kein Motiv. Ein Freund des Toten begibt sich auf die Suche nach Antworten und wird dabei in eine Welt voller Geheimnisse und Botschaften geführt. Es entspinnt sich eine Reise, wo Sinnsuche auf Kunst als Ausdruck innerer Not und unerfüllter Sehnsucht trifft. Je mehr Antworten gefunden werden, desto abgründiger erscheint diese Welt, die nicht nur das Schicksal des Verstorbenen birgt, sondern auch das Wesen des Suchenden offenbart, der vom Ahnenden zum Erkennenden wird. 


Ein Physiker wird von seinem Freund darum gebeten, von Paris nach Wien zu reisen, um ihn dort zu treffen. Nach Ankunft erfährt er von dessen Selbstmord. Eine anonyme Nachricht veranlasst ihn, sich spätabends dennoch am vereinbarten Treffpunkt einzufinden. Ein geheimnisvoller Mann, der Näheres zum Hintergrund des Selbstmordes zu wissen scheint, bietet die Führung zu den letzten Lebensstationen des Verstorbenen an, um die Beweggründe für dessen Tat zu rekonstruieren und Antworten zu finden. Es beginnt eine Reise, eine Spurensuche durch die nächtliche Wiener Altstadt. Dabei erfährt der nachforschende Freund, dass der aus dem Leben Geschiedene an bestimmten Orten Botschaften hinterlassen hat, die Themen aus Kunst- und Kulturgeschichte – von Dante Alighieris "Die Göttliche Komödie" und Claudio Monteverdis "L'Orfeo" über Wolfgang Amadeus Mozarts "Requiem" und Franz Schuberts Spätwerk bis hin zu Richard Wagners "Parsifal" und Thomas Manns "Joseph und seine Brüder"– zu behandeln scheinen. Bei näherer Betrachtung beleuchten diese aber dessen innere Not sowie den Versuch, diese zu überwinden. Darüber hinaus beinhalten die Botschaften ein dichtes Netz an Querbezügen, die tiefe Einblicke in die Psyche des verstorbenen Freundes sowie dessen letzten Tage geben. Dem nachforschenden Freund wird bald bewusst, dass auch den Schauplätzen, an die er geführt wird, sowie den Personen, denen er auf der Reise begegnet, wiederkehrende Motive eingeschrieben sind, die einem Muster entsprechen und Bezüge zueinander sowie zu den Botschaften des Verstorbenen aufweisen. 

Im Laufe der Reise erfährt der Physiker selbst eine Entwicklung vom Suchenden zum Involvierten, vom außenstehenden Betrachter zum aktiv Interagierenden, der plötzlich im Gewirr von unterschiedlichen Weltbildern und Betrachtungsweisen Teil eines immer enger gestrickten Netzes aus Motiven, Reflexionen und Symbolen wird. – So gelangt er letztlich zur leisen Ahnung, welcher Art die Not seines Freundes beschaffen war. Als er schließlich versteht, dass alle Begegnungen, Gespräche sowie die in den Botschaften verarbeiteten Themen schlüssige Komponenten eines übergeordneten Ganzen sind, tritt zur leisen Ahnung eine weitreichende Einsicht, die dem Suchenden die Augen öffnen und sein Leben für immer verändern wird … 



Mittwoch, 5. August 2020

"Hamlet – Sein oder Nichtsein"


"Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage …"

So beginnt der wohl berühmteste Monolog der Weltliteratur von William Shakespeare. Es handelt sich um eine Frage von existenzieller Bedeutung und jene Person, welcher diese in den Mund gelegt wird, hat auch allen Grund dazu: Schließlich musste Prinz Hamlet von Dänemark vom Geist seines Vaters, des verstorbenen Königs, erfahren, dass dieser hinterlistig von seinem eigenen Bruder ermordet wurde. Der Mörder - Hamlets Onkel - heiratete kurz darauf die Mutter des Prinzen und reihte sich so in der Thronfolge unrechtmäßig vor Hamlet ein. Dessen Ansinnen ist fortan Rache. Doch dafür braucht es nicht nur ein Motiv, sondern auch den letzten Entschluss zur Tat zur rechten Zeit. Ein Dilemma, das Hamlet von innen nach außen trägt und zur ersten modernen Figur des Welttheaters macht.



Hamlet ist nicht nur ein grüblerischer Prinz, sondern auch ein perfekter Schauspieler, der sein wahres Ich bis hin zur Selbstaufgabe hinter Masken zu verbergen versteht. Er spielt ständig Theater und passt dabei seine Rolle der jeweiligen Situation, in der er sich befindet, an, um seine Ziele - ohne sich selbst preiszugeben - ungehindert verfolgen zu können. Entsprechend dynamisch gestaltet sich auch sein Sprachbild, das ständiger Wandlung unterworfen ist, sodass selbst der aufmerksamste Leser kaum hinter die Fassade des Protagonisten zu blicken vermag. Lediglich die Monologe sind es, die möglicherweise einen Schlüssel zu seinem wahren Empfinden bieten könnten (wobei auch hier fraglich bleibt, inwieweit sich Hamlet während dieser tatsächlich unbeobachtet fühlt und zu welchem Grad auch diese Selbstinszenierung sind…). Jedenfalls wird die höfische Außenwelt durch die Monologe, Hamlets Innenwelt, kontrastiert. Das innere Geschehen - bestehend aus schonungslosen Reflexionen voller Abgründe - wird so der äußeren Handlung zur Seite gestellt, ja wird selbst zum eigentlichen Drama. Wir erleben auf der Bühne das Gedankenringen eines Werdenden, der im Spielen seiner Rollen sich selbst abhanden zu kommen droht und im Inneren seines uferlos gewordenen Geistes Halt sucht. Den Prozess, den Hamlet durchmacht, könnte man als Geburt des Individuums, des mündig werdenden Ichs, das aus einem domestizierten Kollektiv auszubrechen begehrt, bezeichnen. Doch um dies zu erreichen, bedarf es nicht nur Gedanken und Reflexionen, sondern auch des Tätigwerdens, das dem Werdenden schließlich zum Seienden formt. Dass genau dieser Punkt Hamlet beschäftigt - und ihm letztlich auch zum Verhängnis wird -, macht das Stück nicht nur zu einem Drama über einen Prinzen aus einer vergangenen Epoche, sondern zur Tragödie des modernen Intellektuellen an sich. Die Fragen, die von Hamlet aufgeworfen werden, sind auch heute noch von zeitloser Brisanz und verlangen von jedem strebenden Menschen, sich ihnen im Laufe seines Lebens zu stellen. Hamlet tat dies in seinem berühmtesten Monolog, welcher die einleitende Frage nach Sein oder Nichtsein enigmatisch weiterführt und unzählige Interpretationsmöglichkeiten anbietet, auf beklemmend schonungslose Weise:

"Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben– schlafen–

Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben– schlafen–
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegt‘s:"

Hamlet sinniert hier nicht - wie oft behauptet - über den Selbstmord, sondern ob es „edler“ sei, das Leben zu ertragen oder es zu gestalten. Sollen die Widrigkeiten des Lebens stillschweigend erduldet oder soll gegen diese angekämpft werden? Das „Sein“ wird hier gleichgesetzt mit dem passiven Erdulden, dem Akzeptieren der Widrigkeiten, dem weiteren Fristen des Daseins unter den waltenden Umständen. Dem „Nichtsein“ kommt hier die heroische Geste des Aufbäumens zu, des Widerstandes gegen die herrschende Übermacht der Dinge, des Trotzens der gegebenen Bedingungen. Diesen Kampf könnte man mit dem Verlust des Lebens, der Nichtexistenz bezahlen. Das Nichtsein wäre damit dem Tod gleichgestellt. Natürlich würden die Plagen des Lebens dann enden, da sie für einen Toten ohne jede Bedeutung wären. Doch ist damit gesagt, dass das nicht Erdulden automatisch den Tod zur Folge hat? Oder ist es möglicherweise so zu verstehen, dass durch Widerstand die Chance besteht, seinem bisherigen Sein zu entsteigen und das „Nichtsein“ so vielmehr zu einem „Nicht-mehr-wie-vorher-sein“ würde, da man das einstige Dasein entgegen der waltenden Umstände überwunden und die alte Existenz abgestreift hätte? Auch dann verlören die Widrigkeiten ihre ursprüngliche Bedeutung für jenen der unter ihnen gelitten hat. Überwindet nicht auch ein Mensch im Zuge seines Heranreifens regelmäßig, ja sogar notwendigerweise seine unwissenden, hilfloseren früheren Existenzen? Ist ein potentes Heute nicht der Tod eines ohnmächtigen Gestern? Die einstigen Widrigkeiten könnten einem dann nichts mehr anhaben. Ruhe wäre die Folge. Und die sinnlichste wie ausdrucksstärkste Allegorie für Ruhe – wie auch für den Tod – ist der Schlaf. Und genau dieses Sinnbild gebraucht Hamlet in Verbindung mit Träumen und fährt weiter fort:

"Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir die irdische Verstrickung lösten,
Das zwingt uns stillzustehn. Das ist die Rücksicht,
Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,

Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte

Mit einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten
Und stöhnt’ und schwitzte unter Lebensmüh?
Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod,
Das unentdeckte Land, von des Bezirk
Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt,

Daß wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen als zu unbekannten fliehn."

Hamlet wird hier sehr bildlich und skizziert den Grund, weshalb so viele in den gegebenen Umständen zu verharren bevorzugen: Es ist die Angst vor dem Danach, vor den daraus resultierenden Konsequenzen. Das Ungewisse, was Menschen nach dem Widerstand erwartet, lässt sie vor diesem zurückschrecken. Wenn dem Sterben der Schlaf, mit dem auch die Träume einhergehen, folgt, spielt es nicht auch eine Rolle, welcher Art diese Träume sind? Hamlet wird an dieser Stelle sogar mit aller poetischer Kraft polemisch und stellt die Frage wer denn all das ertrüge, wenn man doch mit einer bloßen Nadel sogleich Schluss machen könne. Er spielt hier natürlich mit der Metapher des bequemen Entfliehens, des einfachen Selbstmordes, der allerdings aufgrund der Furcht vor dem ungewissen Jenseits vereitelt würde. Man sollte dies aber nicht zu wörtlich nehmen und die Ausführungen schlicht darauf reduzieren. Das, womit Hamlet ringt, sind nicht der Selbstmord, die Nadel und das unentdeckte Land, sondern die Symbole wofür diese stehen. Letzteres ist nicht nur eine Ungewissheit nach dem Tod, sondern auch ein Zustand im Leben, der sich nach einer Tat einstellen könnte. Ein Mensch betritt in seinem Werden stets Neuland, sei es auch nur im Fassen eines neuen Gedankens, und betritt Bezirke, in denen er zuvor noch nie gewesen. Auch in Hamlet formte sich sich ein Gedanke, auf den der Monolog abzielte und am Ende klar und unmissverständlich ausgedrückt wird:

"So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;

Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen."

Übersetzung: August Wilhelm Schlegel

Das Bewusstsein vom Unbewussten halte uns also von der Tat, dem Widerstand gegen unzumutbare Umstände, ab und zwinge uns zum Erdulden des Daseins im Jetzt. Schließlich seien es die Gedanken selbst, die einem Entschluss zum Handeln im Wege stehen. Die Nadel symbolisierte also den Entschluss, der Selbstmord die Tat, das unentdeckte Land ein Danach mit allen seinen Konsequenzen (und nicht notwendigerweise erst nach dem Tod). Die eigentliche Frage Hamlets war zu keinem Zeitpunkt „Selbstmord oder kein Selbstmord“, sondern viel grundsätzlicher und tiefgreifender „Handeln oder Nicht-Handeln“. Sein Wunsch war schließlich nie aus dem Leben zu scheiden, sondern seinen Vater zu rächen und den Thron rechtmäßig zu besteigen. Selbstmord wäre seinen Zielen stets diametral entgegengesetzt gewesen. Seine Gedanken sind daher keine pathologische Bestandsaufnahme eines suizidalen Gemüts, sondern besitzen ungeahnte psychologische, soziologische sowie politische Dimensionen von zeitloser Aktualität. Und dass es gerade die Gedanken seien, welche die Entschlusskraft hemmen und den Handlungen den Namen nehmen, trifft tief ins Mark des intellektuellen Wesens und benennt selbst-analytisch schonungslos Hamlets Dilemma: Die Angst vor dem Handeln, dem aktiven Gestalten, der Verantwortung für die Konsequenzen und damit einhergehend der Ungewissheit, den rechten Zeitpunkt zum Tätigwerden zu erkennen. Ein schier unbewältigbarer Konflikt entspinnt sich im Inneren Hamlets auf offener Bühne. Das beständige Warten auf den rechten Moment und die Unfähigkeit Selbstreflexion in Aktion münden zu lassen ist die große Tragödie, die uns durch Hamlet vor Augen geführt wird. Hamlet bietet sich zwar einmal die ideale Gelegenheit zur Tat, doch von Gedanken gehemmt ließ er diese verstreichen, um auf eine noch günstigere zu warten, die aber nie kam. Versäumnis heißt sein Schicksal. Als er schließlich zu handeln begann, war es bereits zu spät. Hamlet scheitert und lässt das Publikum mit den aufgeworfenen Fragen und inneren Konflikten allein zurück. In dem Moment, in dem wir verstehen, dass Hamlets Dilemma auch immanenter Teil unseres eigenen Lebens ist, werden wir von Betrachtenden zu Involvierten, denen das beklemmende Bewusstsein der Ungewissheit des Handelns zur rechten Zeit als Mahnung – ohne jede Lösung - mit auf den Weg gegeben wird. Einmal verinnerlicht lässt uns diese Problematik nicht mehr los und wir erkennen, dass Hamlet ein Abbild unserer selbst in einem Werk ist, dessen Schatten von beklemmender Beständigkeit auch in unsere Zeit ragt.

Hamlets letzte Worte waren: „Der Rest ist Schweigen.“ - Doch genau so soll dieser Artikel nicht enden. Das Harren auf den rechten Moment des gedankenverlorenen, im Handeln gehemmten Hamlet beschäftigte auch große Komponisten und inspirierte sie zu gewaltigen Tondichtungen. Drei Meister – Berlioz, Liszt und Tchaikovsky - seien hier repräsentativ hervorgehoben, die sich dem Thema auf ihre Weise gewidmet und musikalischen Ausdruck gegeben haben. Die verrinnende Zeit, das nagende Warten, die Unfähigkeit sich zur Tat zu entschließen und die damit einhergehende Tragik sind die durchdringenden Elemente der Werke, welche den soeben beschriebenen Konflikt auf musikalischer Ebene weiterführen: