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Donnerstag, 1. April 2021

"Bachs Passion - Szenen einer Kreuzigung"


Wie viele Nägel wurden zur Kreuzigung von Jesus Christus verwendet? Diese etwas abwegig scheinende Frage spaltete die größten Maler der Kunstgeschichte und ließ unterschiedliche Bildtraditionen entstehen. Doch auch im Bereich der Musik nahm sich einer dieses Themas an: Johann Sebastian Bach fand in seiner „Johannespassion“ eine eindringliche Antwort und setzte sie mit dramatischer Wucht um. 

Zunächst ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Malerei: Im Spätmittelalter herrschte bei Kreuzigungsmotiven ein sogenannter "Viernageltypus" vor, wonach jeder Fuß – genauso wie jede Handfläche – mit einem eigenen Nagel versehen wurde. Das wohl beeindruckendste Kruzifix dieses Typus jener Zeit entwarf der florentinische Maler Cimabue (ca.1240-1302), in welchem noch die Tradition der spätbyzantinischen Ikonenmalerei spürbar ist: 


Allerdings wandelte sich diese Ausführungsform noch zu Cimabues Lebzeiten. Schon sein mutmaßlicher Schüler Giotto (ca. 1270-1337), der Wegbereiter der italienischen Renaissance, bemühte sich um eine räumlichere Körperhaftigkeit des Gekreuzigten und verwendete zu dessen Befestigung einen "Dreinageltypus", welcher den Verlauf der Gliedmaßen als auch den verinnerlichten Schmerz diskreter und natürlicher erscheinen ließ: 


Den Übergang von der etwas künstlich wirkenden Ikonografie eines Cimabue hin zu den körperbezogenen, weltlicheren Tendenzen der sich ankündigenden Frührenaissance eines Giottos wurde von einem bekannten Zeitgenossen, der vermutlich beide Maler persönlich kannte, kommentiert. Es war der große Dichterfürst Dante Alighieri (1265-1321), der beiden in seiner "Commedia" ein Denkmal setzte und dabei über die Vergänglichkeit des Ruhms reflektierte:
 
"O eitler Ruhm der menschlichen Begabung;
Wie schnell vergeht das Grünen seines Gipfels,
Wenn hinter ihm nicht rohe Zeiten folgen!
Das Feld der Malerei zu halten dachte
Einst Cimabue; jetzt rühmt sich Giotto,
So daß verdunkelt wird der Ruf des ersten.
...
Der Preis der Welt ist nichts als nur ein Hauch,
Der bald von hierher bläst bald von dorther,
Und mit der Richtung seinen Namen ändert."
 
Purgatorio, Canto XI  (Witte, 1865)
 
Doch der Ruhm Giottos hielt an und dessen Malkunst machte Schule. So ziemlich jeder große Meister der italienischen Renaissance berief sich auf Giotto und folgte seiner natürlichen, weltnahen, greifbaren Körperlichkeit. Und was Kreuzigungsmotive betraf, so wurden diese über viele Generationen hinweg mit dem "Dreinageltypus" ausgeführt, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen. 

Masaccio (1401-1428): 


 
Fra Angelico (1395-1455): 

 

Andrea Mantegna (1431-1506): 



Raffael (1483-1520): 



Tizian (ca.1490-1576): 



Tintoretto (1518-1594):
 

 
Selbst deutsche Malermeister wie Albrecht Dürer (1471-1528), welcher längere Studienaufenthalte in Venedig verbrachte, dort von den Errungenschaften der italienischen Renaissance inspiriert wurde und anschließend seine Erkenntnisse bei seiner Rückreise mit sich nördlich der Alpen nahm, vollendete noch in der Lagunenstadt eine Miniatur eines Kruzifixes in guter alter Giotto-Tradition: 


Allerdings änderte sich im späten 16.Jahrhundert – an der Wende zum Barock – erneut der Zeitgeist. Man begann – vor allem im katholischen Spanien – den Viernageltypus als historisch authentischer anzusehen und Kreuzigungsszenen entsprechend auszuführen. Zwei der beeindruckendsten und wirkmächtigsten Kreuzigungsgemälde stammen demnach von spanischen Pinseln. Da wäre zunächst das weltberühmte, fast naturalistisch wirkende Meisterwerk „Christus am Kreuz“ von keinem Geringeren als Diego Velázquez (1599-1660): 


Das andere Meisterwerk – ebenso realistisch anmutend – schuf Francisco de Zurbarán (1598-1664): 



Demnach war sich die Malerei im Laufe ihrer Geschichte durchaus uneins, wie die Kreuzigungsszene korrekt darzustellen sei. Doch obwohl diese Debatte ureigenes Thema der bildenden Künste schien, hinderte das den barocken Komponisten Johann Sebastian Bach (1685-1750) nicht daran, im Eingangschor seiner „Johannespassion“ Stellung zu beziehen und sich musikalisch zu deklarieren. 

Dieser Eingangschor ist der eigentlichen Handlung übergeordnet und birgt im Keim bereits das, wovon das weitere Werk erzählen wird. Demnach ist bereits der Eröffnung die gesamte Leidenshistorie eingeschrieben, welche in schmerzvoller, schonungsloser Abgründigkeit heraufbeschworen wird: In der Klagetonart g-Moll entspinnt sich über einem leiderfüllten Klangteppich aus hoffnungslos kreisenden Sechzehntelfiguren der Violinen sowie einem unerbittlich pulsierenden Bass ein von schmerzlichen Dissonanzen durchsetzter Dialog aus Flöten und Oboen, der auf erschütternde Weise das Martyrium und die Qualen eines geschundenen Leibes uns zu vergegenwärtigen sucht. Nachdem der anfangs statisch kreisende Klangteppich chromatisch abzusteigen beginnt und die Musik anschwellen lässt, mündet dies unmittelbar zum Höhepunkt des bis dahin rein instrumentalen Vorspiels, dem Einsatz des Chors (1:09). Doch dieser hebt nicht – wie zu erwarten wäre – zu einem Klagegesang, sondern zu einem Loblied der allumfassenden Herrschaft Christus mit den Worten „Herr, unser Herrscher“ an. Diese Doppelbödigkeit war zu Bachs Zeiten etwas Einzigartiges, wenn nicht gar Radikales: Es wird mit Worten die Herrlichkeit Gottes gepriesen, während musikalisch sein Martyrium, sein Sterben, sein Kreuztod heraufbeschworen wird. Selten wurde die Dualität von Licht und Schatten, von Geist und Fleisch drastischer in ein und demselben Moment dargestellt. – Doch damit nicht genug: Die Stimmen setzen alle gemeinsam, zeitgleich mit geballter Wucht zur Anrede „Herr“ an. Doch diesen gewaltigen Anruf des Höchsten tätigen sie nicht – entsprechend der literarischen Vorlage – einmal, sondern mit Nachdruck gleich dreimal hintereinander: Diese drei Rufe gleichen Mark und Bein durchdringenden Stichen, kraftvollen Stößen oder gar mit Wucht ins nackte Fleisch getriebenen Nägeln – der gewaltsame Ursprung aller Stigmata –, die das leiderfüllte Brodeln des musikalischen Klangteppichs durchschneiden. Dadurch wird der dramatische Höhepunkt der Passion bereits in den ersten Takten des Werkes atmosphärisch vorweggenommen: Die dreimalige Anrufung des Herren korrespondiert mit dessen Kreuzigung, jeder Schrei nach dem Herrn entspricht einem Nagel der am Kreuz in den Leib des Gemarterten geschlagen wird. Der Opfertod des Erlösers und die Sehnsucht einer erlösungsbedürftigen Masse, des Chors, verschmelzen zu einer unheimlichen Einheit von expliziter Körperlichkeit und metaphysischer Transzendenz, die an Ausdrucksstärke und Bildhaftigkeit ihresgleichen sucht. Die Anrufung Gottes (Invokation) und Heraufbeschwörung einer Vorstellung (Evokation) überlagern sich untrennbar zu einem übergeordneten Ganzen, das die vielgestaltige, suggestive Wirkungsmacht von Musik auf eindrucksvollste Weise demonstriert und dem Unsagbaren eine weitere Schicht abringt. 




Dieser Interpretation folgend unterstützte Bach musikalisch die Bildtradition der italienischen Renaissance, der auch viele protestantische Maler nördlich der Alpen gefolgt waren, den "Dreinageltypus". 

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P.S.: Es gibt tatsächlich Stätten, die behaupten, im Besitz einer dieser Nägel zu sein. Nähme man jede dieser Angaben ernst, wären es um die dreißig Nägel, eine Anzahl, die selbst den Viernageltypus sprengen und jeden mit der Kreuzigung befassten Künstler vor ganz neue Herausforderungen stellen würde…  









Mittwoch, 22. Mai 2019

"Robert Musil - Nachtgedanken II"



"Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewußt hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.  

Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehn, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. [...] Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! [...] 

Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben."


aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" 
- Kapitel 11 "Der wichtigste Versuch"






Mittwoch, 12. April 2017

"Bachs Matthäus-Passion – Von Liebe und Leiden"



Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach (1685-1750) gehört zu den bedeutendsten Monumentalwerken des Barocks. Hier werden alle Register des musikalischen Ausdrucks gezogen, um den Leidensweg von Jesus Christus darzustellen, welchen das Bibelwort nach Matthäus verkündet. Dieses wird in Form von Rezitativen vorgetragen, welche an markanten Stellen von Arien sowie Chorälen unterbrochen werden, um die meditative Verinnerlichung des Geschehens zu ermöglichen. Doch gerade die Choräle, welche zu tiefreligiösen Sinnbildern des Martyriums wurden, sind teils gar keines geistlichen Ursprungs und wurden erst im Nachhinein auf die Leiden Christi bezogen.  


Die Choräle der ansonsten frei konzipierten Passion bilden wichtige Fundamente zur kirchlich-liturgischen Tradition und basieren auf bekannten protestantischen Kirchenliedern. Der wohl berühmteste Choral  besteht textlich aus dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“, einer Übersetzung des lateinischen "Salve caput cruentatum" durch den Barockdichter Paul Gerhardt (1607-1676). Die Melodie des Chorals fungiert als transzendentaler Leitfaden (um nicht zu sagen als „Leitmotiv“) durch die gesamten Passion, greift an verschiedenen Stellen diverse Strophen des Gedichtes auf und bildet die innere Geschlossenheit des Großwerks. Die Choralmelodie erscheint stets dann, wenn in der Leidensgeschichte bedeutende Umbrüche geschehen und zeugt dadurch von hohem Wiedererkennungswert, der zur Aufmerksamkeit gemahnt: Zum ersten Mal erklingt sie am Ende des letzten Abendmahls, kurz bevor Jesus mit seinen Jüngern nach Gethsemane am Fuße des Ölbergs aufbricht. Etwas später ertönt diese (wenn auch mit Worten aus einem anderen Gedichte Paul Gerhardts) nach der Gefangennahme Jesus beim Verhör vor Pontius Pilatus, wo Jesus bekanntlich die Aussage verweigert. 

Die Choralmelodie bildet schließlich auch den Beginn des Höhepunktes der Passion, der Kreuzigung, welche mit den ersten beiden Strophen des Gedichts „O Haupt voll Blut und Wunden“ eingeleitet wird und im kollektiven Gedächtnis der Glaubensgemeinschaft zum Sinnbild der Leiden Christi wurde:

O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

Du edles Angesichte,
davor sonst schrickt und scheut
das große Weltgewichte:
wie bist du so bespeit,
wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
dem sonst kein Licht nicht gleichet,
so schändlich zugericht’?






Ein weiteres, letztes Mal hebt die Choralmelodie beim Tode Jesus am Kreuze in Golgatha an, wodurch die Passion schmerzliche Einheit gewinnt und musikalisch abgerundet wird.

So ergreifend, erschütternd und gleichzeitig erhebend Bachs Verwendung des Chorals in seiner Matthäus-Passion auch ist, es handelt sich hierbei um keine eigentliche Schöpfung Bachs, sondern um ein altes Kirchenlied aus dem Jahre 1656, welches auf einen Zeitgenossen und Freund Paul Gerhardts namens Johann Crüger (1598-1662) zurückgeht. Bach nahm dieses effektvolle Kirchenlied in seine Passion auf, da es zur damaligen Zeit sehr bekannt und im protestantischen Raum weit verbreitet war. Somit konnte es der Kirchengemeinde als vertrauter roter Faden durch das umfangreiche Meisterwerk Bachs dienen. -

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein und womöglich war dies auch der Wissensstand von Johann Sebastian Bach bei Entstehung seiner Passion in den 1720er Jahren. Was dieser aber wohl nicht wusste, war, dass Johann Crüger sich ebenso wenig als Schöpfer der Choralmelodie bezeichnen konnte wie Bach selbst, da dieser die Melodie einem weltlichen Liebeslied aus der späten Renaissance entnommen hatte. Es handelt sich um das Liebeslied „Mein G’müt ist mir verwirret“ des Komponisten Hans Leo Haßler (1564-1612), welches im Jahre 1601 im „Lustgarten neuer deutscher Gesäng“ veröffentlicht worden ist. Wenn man nun dessen ersten beiden Strophen betrachtet und der wunderbaren Vertonung lauscht, so besticht doch die pikante Tatsache, dass aus diesem sinnlich-wehmütigen Lied (ab 0:08) zu späteren Zeiten der Inbegriff des Leidensweges und des Martyriums von Jesus Christus werden sollte: 

Mein G‘müt ist mir verwirret,
das macht ein Jungfrau zart,
bin ganz und gar verirret,
mein Herz das kränckt sich hart,
hab tag und nacht kein Ruh,
führ allzeit grosse klag,
thu stets seufftzen und weinen,
in trauren schier verzag.

Ach daß sie mich thet fragen,
was doch die uersach sei,
warum ich führ solch klagen,
ich wolt irs sagen frei,
daß sie allein die ist,
die mich so sehr verwundt,
köndt ich ir Hertz erweichen,
würd ich bald wider g’sund.






Gelitten hat der junge Sänger mit Sicherheit auch, allerdings aus ganz anderen … viel, viel weltlicheren Gründen …






Montag, 2. November 2015

"Heinrich Isaac - Innsbruck, ich muss dich lassen"


Heinrich Isaac (1450-1517) war ein gut vernetzter Komponist an den Höfen der Renaissance. Er war viele Jahre Musiklehrer der Kinder von Lorenzo I. de' Medici (1449-1492) in Florenz und später Komponist bei den Habsburgern in Innsbruck und Wien unter Maximilian I. (1459-1519). Durch diese Verbindungen gelang es ihm, die musikalischen Errungenschaften Italiens über die Alpen in den deutschsprachigen Raum zu bringen. Speziell die Stadt Innsbruck spielte hierfür eine bedeutende Rolle. Und dieser setzte er in einem seiner Werke auch ein wunderbares Denkmal, das Lied "Innsbruck, ich muss dich lassen".


Der Text des Liedes ist von ergreifender Zeitlosigkeit. Es ist ein Abschiedslied von jemandem, der seine Liebe in Innsbruck zurücklassen muss. Er verspricht ihr ewige Treue und wünscht ihr Gottes Schutz, damit es ihr gut ergeht, bis er wieder zurückkehrt.   

Innsbruck, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen,
in fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiß bekommen,
wo ich Elend bin.

Groß Leid muß ich ertragen,
das ich allein tu klagen
dem liebsten Buhlen mein.
Ach Lieb, nun laß mich Armen
im Herzen dein erwarmen,
daß ich muß dannen sein.

Mein Trost ob allen Weiben,
dein tu ich ewig bleiben,
stet, treu, der Ehren frumm.
Nun muß dich Gott gewahren
in aller Tugen sparen,
bis daß ich wiederkumm.

Isaacs Vertonung (um das Jahr 1495) ist schlicht und zurückhaltend, voll tragender Trauer wie es dem Ernst des Anlasses entspricht. Seufzermotive am Ende jeder Strophe in Form eines Melismas (wie beim Wort "Elend" in Minute 0:41-0:48 der ersten Hörprobe) unterstreichen den tiefen, ehrlichen Abschiedsschmerz und geben dem Kummer fast fühlbaren Ausdruck:




Da heutzutage unsicher ist, welche Begleitinstrumente zur Zeit der Renaissance zum Einsatz kamen, weil dies vom Komponisten nicht exakt am Notenblatt vermerkt wurde, variieren diese oft von Interpretation zu Interpretation. Das gilt auch für die folgende Hörprobe, wo dem sehnsuchtsvollen Lied ein wunderbares Lautenspiel vorangestellt und ein gemischtes Ensemble zugrunde gelegt wurde:




Das Lied erhielt nicht nur hinsichtlich der Instrumente unterschiedliche Fassungen, sondern wurde auch als geistliches Lied neu ausgelegt. So hielt es im 16. Jahrhundert Einzug in die lutherischen Choräle unter dem Titel "O Welt, ich muss dich lassen" und wurde im gesamten protestantischen Raum als Kirchenlied bekannt.

Die Krönung in der Rezeptionsgeschichte diesbezüglich gelang wohl keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach (1685-1750) in seiner geistlichen Kantate "In allen meinen Taten" (BWV 97) aus dem Jahre 1734. Er griff im Eingangschor und im Abschlusschoral der Kantate (Minute 0:00 bzw. 26:09 der folgenden Hörprobe) auf die Melodie des Liedes zurück und verarbeitete sie mit barocker Meisterschaft:




Doch auch in der Spätromantik inspirierte die schlichte Melodie des Liedes große Komponisten. Bei Johannes Brahms (1833-1897) bildete sie in gewissem Sinne den Abschluss seines umfangreichen Schaffens. Er komponierte 1896 ein Choralvorspiel zu "O Welt, ich muss dich lassen" (op.122) für Orgel. Wenig später schied er selbst von dieser Welt. Es war sein letztes Werk und sein stiller Abschied zugleich:




Doch auch wenn die Rezeption des Liedes von Heinrich Isaac transzendentale Dimensionen wie bei Bach und Brahms erreichte, so waren dessen Ursprünge doch zutiefst weltliche: die Liebe zu einem Menschen, der Trennungsschmerz und die Sehnsucht nach Wiederkehr. 

Das Lied entstand zur Zeit der Renaissance in Innsbruck. 

Sein Inhalt erreicht uns heute noch, wo auch immer wir uns befinden.


(für Milica)




Montag, 26. Oktober 2015

"So you want to write a fugue, Mr. Gould?"


Glenn Gould (1932-1982) war nicht nur ein genialer Pianist und einer der größten Interpreten von Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Klavier, sondern auch ein hochintelligenter Musikautor und intimer Kenner der Musikgeschichte im Allgemeinen. Speziell der Barock und Bachs "Kunst der Fuge" beschäftigten ihn sein ganzes Leben. Für Gould war die Fuge "eine der dauerhaftesten schöpferischen Erfindungen in der Geschichte des formalen Denkens und eine der ehrwürdigsten Praktiken des musizierenden Menschen"(1)

Goulds Expertise und seine Leidenschaft für jene streng aufgebauten mehrstimmigen Musikstücke waren für den kanadischen Fernsehsender CBC (Canadian Broadcasting Corporation) Grund genug, Gould 1963 eine eigene Fernsehsendung mit dem Titel "The Anatomy of Fugue" zu überlassen.


Was in dieser einen Sendung von Gould dargestellt wurde, gehört zum geistreichsten, kompaktesten und gleichzeitig humorvollsten, was je über Musik ausgestrahlt wurde:




Für alle, die nicht so viel Zeit haben, sich die ganze Episode anzuschauen, sei das letzte Musikstück dieser Sendung ans Herz gelegt. Nachdem Gould den Werdegang der Fuge anhand einer Führung durch die verschiedensten Epochen der Musikgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert erläutert hat, lässt er es sich nicht nehmen, die Sendung mit einer eigens komponierten Fuge im Stile Bachs zu schließen. Seine Meisterschaft in der Fugenlehre paart sich hier mit seinem ausgeprägten Sinn für Humor.

Das Ensemble, welches für die Komposition herangezogen wird, ist die ungewöhnliche Besetzung von einem Vokal- und einem Streichquartett. Den Text, den Gould seiner Fuge zugrunde legt, ist ebenfalls von ihm selbst verfasst und könnte humorvoller nicht sein. Er beginnt mit den programmatischen Worten:

"So you want to write a fugue?
You've got the urge to write a fugue,
You've got the nerve to write a fugue,
So go ahead and write a fugue that we can sing."

Was sich darauf entspinnt, ist eine vierstimmige Fuge im besten barocken Sinne, gespickt mit vielen Reminiszenzen an Bach und anderen Meistern der Fugentechnik. Die bekannteste Reminiszenz ist wohl in Minute 2:41 der folgenden Hörprobe, in welcher der Beginn des 2. Brandenburgischen Konzertes (BWV 1047) von Bach durch ein Zwischenspiel des Streichquartetts kurz erklingt:




Bei dieser Komposition handelt es sich um ein ungewöhnliches Stück, das in seiner Einzigartigkeit nicht überschätzt werden kann. Es ist ein Werk aus dem 20. Jahrhundert mit einem Fenster in den Barock und zu Bach zurück. Diese Fuge lebt im Rahmen einer bachschen Formstrenge durch den Humor eines modernen Geistes wie Gould, der sein Leben einer Kunst verschrieben hatte, der er nie müde wurde, uns zu vermitteln. Bachs Perfektion war für Gould Auftrag und Herausforderung zugleich.


So spricht auch Gould, wenn er meint, "dass die Fuge eine ursprüngliche Neugierde weckt, die in den Beziehungen von Vorstellung und Beantwortung, von Herausforderung und Erwiderung, von Ruf und Echo das Geheimnis jener stillen, verlassenen Orte zu entdecken sucht, welche die Schlüssel zum Schicksal des Menschen bergen, aber aller Erinnerung seiner schöpferischen Einbildungskraft vorausliegen"(2).

Thank you for writing a fugue, Mr. Gould!



(1) und (2): Zitate aus dem Artikel "So you want to write a fugue?" von Glenn Gould; Begleitartikel zu einer HiFi/Stereo Review vom April 1964 beigelegten Schallfolie mit der ersten Einspielung von Goulds Fuge




Montag, 6. Juli 2015

"Das Siciliano - Poesie des Herzens"

Milica Zdravkovic zum Geburtstag gewidmet

Das Siciliano ist eine Satzbezeichnung von bitter-süßer Wehmut in Opern, Sonaten oder Suiten. Idyllische Melodien und ein markanter, wiegender Rhythmus machen es zum unverwechselbaren Kleinod der klassischen Musik. Es kann sowohl einer einsamen Seele Trost schenken als auch zwei Herzen näher zusammenführen. Kaum jemand kann sich der Poesie erwehren, die das Siciliano verströmt und auf seine stille Weise von innen nach außen trägt.  


Ob der Begriff "Siciliano" dem Namen nach wirklich aus Sizilien stammt, kann nicht eindeutig belegt werden. Sicher ist, dass es im Italien der Renaissance seine Ursprünge hatte, doch erst um 1700 seine moderne Gestalt gewann. Maßgeblich daran beteiligt war der aus Sizilien stammende Komponist Alessandro Scarlatti (1660-1725), der das Siciliano manchen Arien seiner Opern und Kantaten zugrunde legte. Georg Friedrich Händel (1685-1759), der von 1706-1710 in Rom weilte und mit der Familie Scarlatti befreundet war, machte es darauf weit über Italien hinaus bekannt.

Doch den ersten wahren Höhepunkt erlebte das Siciliano in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach (1685-1750). Dieser komponierte verschiedenste Siciliani für unterschiedlichste Gattungen. Das bekannteste ist wohl jenes aus der Sonate für Flöte und Cembalo in Es-Dur (BWV 1031):




Doch auch das Siciliano aus der Sonate für Violine und Cembalo in c-Moll (BWV 1017) darf nicht vergessen werden:




Abseits der Kammermusik komponierte Bach auch Siciliani für größere Ensembles. Besonders berühmt ist jenes aus der Kantate "Gott soll allein mein Herze haben" (BWV 169) für Alt-Stimme, Orchester und Orgel. Die Arie mit Siciliano-Charakter trägt den etwas trübseligen Titel "Stirb in mir, Welt, und alle deine Liebe":




Bach musste die Melodie dieser Arie sehr gemocht haben, denn er hatte sie zuvor schon in einem Solo-Konzert verwendet, das leider verlorenging. Später griff er sie erneut für ein weiteres Solo-Konzert auf. Es handelt sich um den 2. Satz des Cembalokonzertes in Es-Dur (BWV 1053). Dieses ging zum Glück nicht verloren und kann uns nun als Hörbeispiel dienen:




Doch auch nach Bach sollten sich große Meister mit dem Siciliano beschäftigen. Dies tat beispielsweise Joseph Haydn (1732-1809), der Vater des modernen Streichquartetts. Er ließ es sich nicht nehmen, dem langsamen Satz aus seinem Streichquartett op.20 Nr.5 in f-Moll ein Siciliano zugrunde zu legen:




Eine der wohl ergreifendsten und tiefsinnigsten Schöpfungen eines Sicilianos gelang Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) im zweites Satz seines 23. Klavierkonzerts in A-Dur (KV 488). Dieser Satz stellt einen Höhepunkt in Mozarts Schaffen dar und gewährt tiefe Einblicke in die Seele des zuweilen melancholischen Meisters:




Es wäre nicht richtig, eine italiensische Erfindung nur mit deutschsprachigen Meistern zu illustrieren. Deswegen soll die letzte Hörprobe ganz und gar Italien verschrieben sein. Mehr noch ... das Siciliano soll durch die Arie einer Oper veranschaulicht werden, die uns nach Sizilien (dem vermeintlichen Ursprung des Sicilianos) entführt. Es handelt sich um Pietro Mascagnis (1863-1945) Meisterwerk "Cavalleria Rusticana", das in einem sizilianischen Dorf spielt, wo Wein und Blut, Ehre und Rache noch großgeschrieben werden.

Dem an sich schon sehr leidenschaftlichen Vorspiel der Oper ist eine Arie (2:43-4:25) eingeschoben, welche authentisch im siziliansichen Dialekt zu singen ist. Natürlich ist dieser Arie ein echtes Siciliano zugrunde gelegt, wo sehnsuchtsvoll ein Mann seine Liebe zu einer verheirateten Frau preist. Hier nimmt das Unglück mit wunderbarster Musik seinen Ausgang und es folgt eine der leidenschaftlichsten Opern, die je komponiert wurden.

[Das Titelbild dieses Artikels stammt übrigens von einer Illustration der Novelle "Cavalleria Rusticana" des sizilianischen Schriftstellers Giovanni Verga (1840-1922), auf der die Oper basiert.]

Doch wir begnügen uns hier mit dem Vorspiel der Oper inklusive jener Arie, die uns ein weiteres ergreifendes Siciliano schenkt

... und das mit sizilianischer Poesie, deren Worte man nicht verstehen muss, um das Gefühl zu begreifen ...