Samstag, 16. November 2019

"John Lennon - Neue Wege"


Vor 50 Jahren sandte John Lennon den von der Queen verliehenen Ritterorden aus Protest gegen die britische Außenpolitik zurück. Ein Tabubruch! Doch der eigentliche Tabubruch befand sich bereits in den britischen Charts: Lennons erste Solo-Single nach Trennung der Beatles.


Der Herbst 1969 bedeutete im Leben von John Lennon (1940-1980) einen Wendepunkt: Er teilte im September den Beatles mit, diese zu verlassen, veröffentlichte im Oktober eine Solo-Single über Heroinentzug, und hob im November seinen politischen Aktivismus in neue Dimensionen. Die Trennung von jener Band, mit der er in den 60ern eine beispiellose Karriere gemacht hatte, führte zu einem kreativen Ausbruch in seinem Schaffen und politischen Engagement, der seinen weiteren Lebensweg genauso wie sein musikalisches Erbe nachhaltig prägen soll.

Der politische Aktivismus im November und die Single-Veröffentlichung im Oktober sind voneinander nicht zu trennen, da sie zum einen gesellschaftspolitische Tabus auf unterschiedlichen Ebenen brachen und zum anderen John Lennon selbst beide Ereignisse miteinander verschränkte. Am 26. November schickte er den von der Queen 1965 an alle Beatles verliehenen Ritterorden fünfter Stufe („Member of the British Empire“, MBE) zurück. Begleitet wurde dies von zwei identen Schreiben an den Buckingham Palace sowie den britischen Premierminister in der Downing Street 10. Lennon führte hierbei drei Gründe für die Rückgabe an, zwei davon außenpolitischer Natur: Ihm missfiel sowohl die Beteiligung Großbritanniens am Bürgerkrieg in Nigeria, einem ehemaligen Kolonialgebiet des Empires, als auch die passive Haltung gegenüber dem eskalierenden Vietnamkrieg der USA. Diese pazifistische Einstellung Lennons verwunderte nicht weiter, hatte er doch bereits wenige Monate zuvor mit friedlichen Protesten vom Bett aus (den „Bed-Ins for Peace“ mit seiner Ehefrau Yoko Ono) sowie der Aufnahme der Anti-Kriegs-Hymne „Give Peace a Chance“ (bezeichnenderweise im „Queen Elizabeth Hotel“ in Montreal) international für Aufregung gesorgt.



Der dritte Grund für die Rückgabe des Ordens war jedoch persönlich und kokett: Es war das Abrutschen seiner im Oktober veröffentlichten Solo-Single in den britischen Charts. Es handelte sich um den Song „Cold Turkey“. Dieser Song ist sowohl inhaltlich wie musikalisch ein Meilenstein. Inhaltlich verarbeitet Lennon ein heikles Thema, das bei den Beatles nicht derart offensiv behandelt hätte werden können: seinen „kalten Entzug“ (so die freie Übersetzung des Titels) von Heroin und die damit verbundenen Qualen. Er beschreibt hierbei mit hoher Intensität und medizinischer Genauigkeit die physischen wie psychischen Begleiterscheinungen, die mit dem Drogenentzug einhergehen. Symptome wie Fieber, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, Schüttelfrost und äußerste Nervenreizung werden in stark rhythmisierte Musik gegossen, die dem Hardrock mit psychedelischen Einflüssen zugeordnet werden kann. Das verstörend aggressive Gitarrenspiel, der pulsierende Bass, das Herzschlag simulierende Schlagzeug sowie Lennons expressiver Gesang, der zum Ende hin im qualvollen Crescendo in psychotisch ekstatischen Schmerzensschreie endet, während immer neu hinzukommende verzerrte Gitarrenspuren die auftretenden Wahnvorstellungen imitieren, führen dem Publikum das nackte Leid eines im Entzug befindlichen Drogenabhängigen unmittelbar vor Augen.



Die schonungslose Thematisierung von Drogenproblemen eines führenden Musikers seiner Zeit war ein radikaler Schritt und führte zum Boykott des Songs von zahlreichen Radiosendern. (Kalmierende Interpretationsversuche, dass Lennon lediglich eine Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr eines „kalten Truthahns“ beschreibe, waren wenig überzeugend.) Dieser kompromisslose Realismus wäre bei den Beatles nicht möglich gewesen, obgleich Drogenkonsum sehr wohl Einfluss auf ihr Schaffen hatte. Doch dieser kam immer nur indirekt, chiffriert und etwas verbrämt zum Ausdruck. So war dies bereits im Lennon-Song „Tomorrow Never Knows“ des richtungsweisenden Beatles-Albums „Revolver“ aus dem Jahre 1966 der Fall. Hier verarbeitete Lennon inhaltlich die Lektüre des Buches „The Psychedelic Experience“ des umstrittenen amerikanischen Psychologen Timothy Leary, der durch seine Forderung nach Liberalisierung von LSD zu therapeutischen Zwecken zum Idol der Hippie-Bewegung wurde. Lennon bezog sich textlich stark auf Learys Buch, welches wiederum vom „Bardo Thödröl“ („Tibetisches Totenbuch“) und von Transzendentalphilosophie im Allgemeinen beeinflusst wurde. So können Passagen des Liedes schon fast wie eine Gebrauchsanweisung zu einer psychedelischen Erfahrung verstanden werden: „Turn off your mind, relax and float downstream, it is not dying“ oder „Lay down your thoughts and surrender to the void, it is shining“. Musikalisch gab Lennon dem Produzenten (entsprechend Learys tibetischer Quelle) die Anweisung, dass ihm ein ätherischer Sound vorschwebe, als sänge der Dalai Lama von Berggipfel im Himalaja. Dies wurde bewerkstelligt, indem Lennons Stimme mit Hall versehen und durch Flanging-Effekte verzerrt wurde. Der Gesang wurde durch Bass- und Schlagzeugloops sowie rückwärts laufende Tonbandschleifen begleitet, sodass eine entrückte Atmosphäre entstand, als spräche ein Mystiker in Trance zu seinen Anhängern.



Doch „Tomorrow Never Knows“ war bei Weitem nicht der einzige Beatles-Song, der mögliche Drogenbezüge aufwies. Auch anderen Beiträgen (speziell von John Lennon) wie das kalaidoskopartige „Lucy in the Sky with Diamonds“ (1967), das psychedelisch entrückte „I Am the Walrus“ (1967) oder das vielschichtige „Happiness Is a Warm Gun“ (1968, mit der Zeile „I need a fix ´cause I‘m going down“) wurden immer wieder Anspielungen auf Drogenkonsum nachgesagt (was vom Komponisten zu dieser Zeit vehement bestritten wurde).



Dieses Verstellspiel war nach der Loslösung von den Beatles vorbei. Lennon brauchte nun auf kein Bandimage mehr Rücksicht nehmen und konnte kompromisslos sein inneres Empfinden und seine persönlichen Ansichten nach außen tragen. In dieser Hinsicht war „Cold Turkey“ im Oktober 1969 eine Art „Coming-out“, ein Befreiungsschlag eines Künstlers zu neuer Sachlichkeit. Und diese verband er zeitgleich mit seinem politischen Engagement, da für ihn das eine das andere bedingte. Aus diesem Grunde wurde die Protestaktion im November (die Rückgabe des Ritterordens an die Queen) argumentativ mit seinem Bekenntniswerk „Cold Turkey“ verwoben. Seine Musik würde künftig von seinen Überzeugungen und Bekenntnissen nicht länger zu trennen sein. Der politische Mensch und der Künstler wurden eins. Und genau dieser neuen Linie sollte Lennon die nächsten Jahre treu bleiben. So schrieb er parallel zu seinem gesellschaftspolitischen Engagement gleichzeitig Musikgeschichte.

Die nächste politisch motivierte Aktion in Form einer Antikriegs-Kampagne folgte bereits im Dezember 1969, bei welcher John Lennon und Yoko Ono an städtischen Knotenpunkten rund um die Welt (wie dem Times Square in New York) ihre Weihnachtsbotschaft auf großen weißen Werbeflächen verkündeten: „WAR IS OVER! If you want it.“ Diesen Appell zum Weltfrieden, der sowohl an die Politik als auch an jeden einzelnen Menschen selbst gerichtet war, verwertete Lennon zwei Jahre späte in seinem bewegenden Protestlied „Happy Xmas (War is over)“ (1971), in welchem der Slogan von Kindern des „Harlem Community Choir“ intoniert wurde und so zur erhebenden, mehrstimmigen Gestaltung des Liedes beitrug.



In dieser Geisteshaltung, die an die Vorstellungskraft der Menschen für eine Zukunft ohne Krieg appelliert, entstand im gleichen Jahr wie „Happy Xmas (War is over)“ auch Lennons berühmtestes und meistgespieltes Solowerk „Imagine“, in welchem eine utopische Welt ohne Grenzen, Hass, Eigentum und Religion erträumt wurde.



Doch auch in anderen Liedern floss Lennons politisches Engagement ein. So zum Beispiel in seinem schonungslos gesellschaftskritischen Folk-Song „Working Class Hero“ (1970), seiner Solidarisierungshymne mit der Arbeiter- und Frauenbewegung „Power to the People“ (1971) oder dem bitter-sarkastischen, antibritischen Beitrag zum Nordirland-Konflikt „The Luck of the Irish“ (1972). All diese radikalen, hochpolitischen Werke wären als Mitglied der Beatles undenkbar gewesen. (Ein erster politischer Vorstoß bei den Beatles mit dem Lied „Revolution“ im Jahr 1968 war inhaltlich vergleichsweise harmlos.)



Doch auch musikalisch beschritt Lennon durch die Veröffentlichung von „Cold Turkey“ neue Wege, die Einfluss auf sein weiteres Werk hatten. Der finstere Ton, der pulsierend getriebene Bass und der abgründige Text fanden in Kompositionen wie „I found out“ (1970), in welchem er mit vermeintlichen Allheilmitteln wie Selbstliebe, Religion oder Drogen gnadenlos abrechnete, ihre Fortsetzung.



Auch im Song „Well Well Well“ (1970) ist ein Herzschlag simulierendes Schlagzeug neben einem sehr dominanten, verkrampft wirkenden Gitarrensound vertreten. Gerade die Behandlung des Gitarrenparts wurde oft als Vorwegnahme des Grunge, welcher erst 20 Jahre später durch „Nirvana“ rund um Kurt Cobain (1967-1994) die Weltbühne betreten sollte, gedeutet. Auch Lennons ekstatisch entfesseltes Schreien in der Mitte des Liedes gab dem Vergleich mit Cobains Stil Auftrieb.



Doch unabhängig der Nähe zum Grunge können sowohl „Could Turkey“, „I found out“ als auch „Well Well Well“ bereits als richtungsweisend für die Entwicklung des Punk Rock der 70er angesehen werden, da sie den Weg zum harten Sound von Bands wie den „Sex Pistols“ bahnten.

Auf diese Weise kann John Lennon nicht nur als großer Komponist von Bekenntniswerken und Protestliedern gesehen werden, sondern auch als Wegbereiter und Inspirationsquelle für nachfolgende Generationen. Er begann seine Solokarriere vor 50 Jahren mit zwei Tabubrüchen. Seine Musik war von seinen Überzeugungen fortan nicht mehr zu trennen. Vielleicht liegt gerade darin deren Kraft, die bis heute ungebrochen ist.





Mittwoch, 13. November 2019

"Béla Bartók – Progressive Klassik"


In Béla Bartóks Werk vereinen sich historisches Bewusstsein und zukunftsweisender Anspruch zu einer einzigartigen Symbiose. Selbst als Musikethnologe tätig und die überlieferte Volksmusik im südosteuropäischen Raum eifrig studierend, gelangte er als Komponist zu neuen Ausdrucksformen einer radikalen Klangsprache. Diese ließ ihn nicht nur zu einem der wichtigsten Vertreter der Moderne werden, sondern gar zum stilbildenden Vordenker unkonventioneller Musikrichtungen wie „Progressive Rock“.


1. Hintergrund

Béla Bartóks (1881-1945) Leidenschaft galt abseits der eigenen Komposition dem systematischen Sammeln und Studieren von Volksliedern aus unterschiedlichen Regionen wie Ungarn, Rumänien oder dem vorderen Orient. Diese Beschäftigung führte zum Erkennen einer übergeordneten rhythmisch-metrischen Natur der Folklore, welche sich auf einzelne Nationen nicht mehr eingrenzen ließ. Von diesem Wissen einer archaischen Grundnatur unterschiedlicher musikalischer Traditionen blieb Bartóks eigenes Werk nicht unbeeinflusst. Doch anstatt sich folkloristischen Wendungen schablonenhaft zu bedienen, um daraus volkstümliche Kunstmusik zu schaffen, wie es Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen Komponisten populär war, absorbierte Bartók den musikalischen Ausdruck, welcher in der Folklore verborgen lag, um ein vollkommen neues, autonomes Werk zu schöpfen. Bartók verwandelte folkloristische Wendungen zu schöpferischen Keimzellen seines eigenen Schaffens.

Die Verinnerlichung der Grundnatur des musikalischen Volksgutes bedeutete für Bartóks Werk radikale Konsequenzen wie die freie Handhabung rhythmischer Gebilde und Taktwechsel, den Gebrauch dissonanter, perkussionsartiger Klangakzente, rigorose kontrapunktische Führung und letzten Endes die Überwindung des Dur-Moll-Systems. Bartóks Kompositionen werden neue harmonische Kombinationen unter Berufung auf alte Tonskalen (wie Kirchentonleiter oder noch ältere überlieferte Tonreihen) erschließen und zur freien Verfügung über jeden einzelnen Ton des chromatischen Zwölftonsystems führen, ohne das tonale Zentrum aufzugeben. Die dynamische Spannung wird durch die Anwendung vielgestaltiger, komplizierter Rhythmik gewonnen, die martialische Klangeffekte nicht scheut. Auf diese Weise gelingt Bartók die Schöpfung neuzeitlicher Musik, die von ihren archaischen Wurzeln her zu begreifen ist.

Doch nicht nur die Beschäftigung mit Folklore bewirkte einen maßgebenden Einfluss auf Bartóks Werk, sondern auch die Musik großer Meister vergangener Epochen. So lernte er bei Johann Sebastian Bach (1685-1750) die transzendentale Bedeutung des Kontrapunkts und bei Claude Debussy (1862-1918) jene der Harmonik, welche durch Fusion mit exotischer Musik zu neuen, schwebenden Klangidealen gelang, kennen. Auch die Beschäftigung mit Ludwig van Beethoven (1770-1827) war essenziell für die Bartóks Entwicklung. War es doch Beethoven, welcher in seinem Spätwerk die Möglichkeit zur progressiven Form (man denke an die Diabelli-Variationen, die „Große Fuge“ oder die Finalsätze der 32. Klaviersonate und 9. Symphonie) erschloss, mit welcher er überlieferte Formen sprengte und mit harmonischen Extravaganzen musikalische Stile des 20.Jahrhunderts fast hundert Jahre vorwegnahm. Was dem ertaubten, vereinsamten Beethoven in seinem Spätwerk frei nach dem Motto „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt“ (Goethe, Werther) gelang, war bahnbrechend und erschütterte die Musikgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein, sodass auch Bartók davon nicht unbeeinflusst blieb und daran anschließen konnte.

Das Erbe dieser drei Meister (Bach, Beethoven und Debussy) verband Bartók mit seinem Wissen über die musikalische Grundnatur der Folklore und schuf damit etwas Neues, zuvor noch nie Dagewesenes: Er schuf eine tragfähige Synthese aus uraltem Musikgut (als Quelle von Urmusik) mit der verfeinerten abendländischen Musikkultur. Diese Errungenschaft sollte wiederum auf nachfolgende Generationen (auch abseits der klassischen Musik) erheblichen Einfluss haben.

2. Werkbeispiele

Eines der ersten Werke, das bereits vollends Bartóks eigene Klangsprache aufweist, ist das „Allegro barbaro“ für Klavier aus dem Jahre 1911. Die Namensgebung ist einerseits eine Anspielung auf Bartóks Kritiker, die nicht müde wurden, seine Kompositionsweise als barbarisch zu bezeichnen, andererseits ist der Titel ein Verweis auf die Ursprünglichkeit der Musik. Hier verschmelzen traditionelle Volksklänge mit moderner Harmonik zu einer ungeheuren rhythmischen Gewalt, die das Klavier zu einem martialischen Schlagwerk zu verwandeln scheint. Die markante Rhythmik trägt eine einfache Melodie, die reibungsvolle Dissonanzen unter ständigen dynamischen Veränderungen und wilden Ostinati in Form von repetierender Motorik durchwandern muss, wodurch ein hoher Grad an Spannung sowie eine Atmosphäre der Verrohung, der Barbarei erzeugt wird. Darüber hinaus ist das Werk bitonal angelegt, sodass ein ständiger Kampf der vorhandenen Tonelemente gegeneinander austragen wird, der sich mit dem überlieferten Dur-Moll-System kaum mehr fassen lässt.



Doch dieses „Allegro barbaro“ sollte erst den Beginn von Bartóks Weg darstellen, den er konsequenten weiterverfolgen wird. Sein kompromisslosestes und vielleicht modernstes Werk ist die einaktige Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“, die nach einem Skandal bei der Uraufführung in Köln 1925 (wo das empörte Publikum zu randalieren begann und eine Diffamierungskampagne gegen den Komponisten folgte, worauf der damalige Kölner Oberbürgermeister und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer das Werk wegen seines unmoralischen Inhalts vom Spielplan nehmen ließ) von Bartók zu einer Konzertsuite umgearbeitet wurde. Die delikate Handlung wurde von Bartók selbst zusammengefasst:

„In einem ärmlichen Vorstadtzimmer zwingen drei Strolche ein Mädchen, Männer, die ausgeraubt werden sollen, von der Straße heraufzulocken. Ein schäbiger Kavalier und ein schüchterner Jüngling, die sich anlocken lassen, werden als arme Schlucker hinausgeworfen. Der dritte Gast ist der unheimliche Mandarin. Das Mädchen sucht seine angsterregende Starrheit durch einen Tanz zu lösen, aber da er sie ängstlich umfängt, flieht sie schaudernd vor ihm. Nach wilder Jagd holt er sie ein, da stürzen die Strolche aus ihrem Versteck, plündern ihn aus und versuchen, ihn unter Kissen zu ersticken. Aber er erhebt sich und blickt sehnsüchtig nach dem Mädchen. Da durchbohren sie ihn mit dem Schwert: er wankt, aber seine Sehnsucht ist stärker als die Wunden: er stürzt sich auf das Mädchen. Da hängen sie ihn auf: aber er kann nicht sterben. Erst als man den Körper herabgenommen und das Mädchen ihn in die Arme genommen hat, fangen seine Wunden an zu bluten und er stirbt.“ 

Die Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“ ist ein formales Ungetüm, dessen erste strukturelle Entsprechungen möglicherweise zum späten Beethoven führen und als progressive symphonische Dichtung gelten kann. Am ehesten kann man die Suite einem musikalischen, ja „barbarischen“ Expressionismus zuordnen, der keine Rücksicht mehr auf sein Publikum nimmt. Geprägt ist dieses Werk von aggressiver Motorik, atonaler Klangballungen, wilder Ausdrucksgebärden, oszillierend-impressionistischer Klangfarben und ungezügelter Verwendung schriller Dissonanzen. Dennoch finden sich in dieser Suite auch lyrische Intermezzi, welche anhand der unterschiedlichen Klangfarben den Lockungen der Freier zugeordnet werden können, die Beibehaltung tonaler Schwerpunkte sowie Anleihen von tradierten Tanzstilen wie Marsch und Walzer. Es handelt sich bei diesem Werk um einen Meilenstein der modernen Musikgeschichte, der seine (auch volkstümlichen) Ursprünge eben sowenig verleugnet wie seinen selbstsicheren Anspruch, das Tor in die Zukunft weit aufzustoßen. 



Eines der bedeutendsten und gleichzeitig populärsten Werke Bartóks ist seine „Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug“ aus dem Jahre 1937. Diese exotische Zusammensetzung von Instrumenten ist der Steigerung und Akzentuierung des Klavierklangs geschuldet, um den durch Anschlag erzeugten Ton in all seinen Sphären vollends zu würdigen. Das Schlagzeug (bestehend aus Pauken, Trommeln, Becken, Triangel und Xylophon) wird so zum gleichberechtigten Partner der Klaviere, der nicht nur die rhythmischen Besonderheiten der Komposition hervorhebt, sondern auch Motive kontrapunktisch mitträgt, sodass es als stützenden Säule zur Melodiebildung beiträgt. Bartók gelingt auf diese unkonventionelle Weise eine Klangfülle, die nie zum Lärm als Selbstzweck verkommt, sondern kristallklar eine musikalische Substanz zu Tage fördert, deren archaische Rhythmik und progressive Harmonik durch eine meisterhafte Konstruktion kontrolliert und gebändigt wurden. 

Der erste Satz des Werkes, welcher in modifizierter Sonatenhauptsatzform steht, beginnt mit einer düsteren Einleitung, die eine brütend-expressive Stimmung erzeugt, welche künftig auch die Filmindustrie atmosphärisch für sich zu verwenden weiß. In dieser Einleitung erlebt das Themenmaterial ein unheimliches Crescendo, sodass es nach dem dunklen, ruhigen Beginn, zu einem wilden Hämmern anschwillt, wo nur noch rohe Rhythmik in ihrem Naturzustand zu herrschen scheint. Nach einem kurzen dynamischen Wechselspiel von Rücknahme und Beschleunigung mündet die Einleitung direkt in das Hauptthema des Allegros des Sonatenhauptsatzes. An diesem können unschwer Anklänge des „Allegro barabro“ erkannt werden, welche aber nun dynamisch und kontrapunktisch viel weitergeführt werden. Es setzt eine rastlose Jagd von wilden Ostinati und getriebener Motorik ein, die erst durch Einsetzen eines etwas ruhigeren zweiten Themas abklingt. Ein drittes Thema bringt eine sehr starke Rhythmisierung ins Spiel, die „swingig“ anmutet, als wollte Bartók dort anknüpfen, wo Beethoven in seinem Spätwerk, in welchem er Musikstilen wie Swing, Ragtime oder Boogie-Woogie vorwegnahm, geendet hatte. Nach kurzer Durchführung setzt in der Reprise das Hauptthema wieder ein, welches von machtvoller Rhythmik in Form von repetierender, maschinell wirkender Motorik getragen wird und unerbittlich dem ungeheuren Höhepunkt des Satzes zusteuert, wo alle Themen ineinander kulminieren. Nach diesem Ballungszentrum musikalischer Expressivität, das kaum seinesgleichen in der Musikgeschichte besitzt, ebbt die Klangintensität ab. Doch damit ist der Satz noch nicht zu Ende. Bartók gestaltet die Coda zu einem weiteren Höhepunkt, indem er das dritte, swingende Thema in einer Fuge verarbeitet. Hier finden Beethovens Pioniergeist, Bachs kontrapunktische Meisterschaft und Bartóks Verständnis für Musik zu neuem Ausdruck, zu einer Katharsis, die all das Wissen von überlieferter Musik in die Schöpfung eines neuen, modernen, autonomen Kunstwerkes zu kanalisieren weiß. 


3. Wirkungsgeschichte

Bartóks fundiertes historisches Wissen und seine unermüdliche Suche nach neuen Ausdrucksmitteln haben – die musikalischen Entwicklungen vergangener Zeiten überblickend – zu etwas Neuem von zeitloser Beständigkeit geführt, das folgende Generationen an Komponisten genreübergreifend beschäftigten musste. So wurde zum Beispiel Bartóks ungarischer Landsmann György Ligeti (1923-2006) in dessen Frühwerk stark vom älteren Meister beeinflusst, wie sich in der Klavierstücksammlung „Musica ricercata“ (1951-53), von denen ein Werk mit „Béla Bartók in Memoriam“ überschrieben wurde, erkennen lässt. 


Doch auch in einzelnen Werken aus Ligetis späterer Zeit bleibt Bartóks Einfluss präsent. Dies lässt sich in der 13. Etüde für Klavier mit dem Titel „L‘escalier du diable“ („Die Teufelsleiter“) aus der zweiten Etüdensammlung (1988-94) erkennen, in welcher Bartóks getriebene Motorik virtuos und eindrucksvoll in Form einer polymetrischen Toccata heraufbeschworen wird.


Ein weiterer Komponist, der stark von Bartók beeinflusst wurde, war der Argentinier Alberto Ginastera (1916-1983), der Rhythmen der südamerikanischen Folklore mit Harmonik der klassischen Musik verband. Seine erste Klaviersonate (1952) lebt von rhythmischer Prägnanz, raschen Taktwechsel, freier Tonalität und einer getriebenen Motorik, die sowohl den Reiz des Werkes ausmachen als auch auf dessen Ursprünge verweisen. 



Doch nicht nur in der klassischen Musik machten Bartóks progressive Errungenschaften Schule. Seine Wirkungsgeschichte floss auch in unterschiedlichste Gattungen der modernen Musik ein. So war das Erbe seines Werks auch bei einem der größten Umbrüche der Populärkultur vor rund 50 Jahren präsent und impulsverleihend, bei der Entwicklung des „Progressive Rock“. Die Musikrichtung des „Progressive Rock“ griff (ähnlich wie Bartóks Spurensuche in der Folklore nach der Urnatur der Musik) Wurzeln populärer Genres wie Blues, Jazz, Rock ‘n‘ Roll, Popmusik und psychedelsichen Rock auf und ergänzte diese mit Kompositionsweisen, Formprinzipien, Instrumentierungen und harmonischen Grundlagen der klassischen Musik. Was dabei entstand, war eine neues, synkretisch-allumfassendes Genre, das sich ohne Scheuklappen komplexer Musik näherte und bediente, um selbst etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. In dieser Geisteshaltung war Bartók ein sehr dankbares Vorbild. Doch auch musikalisch konnte er diesen Umbruch der Populärkultur befruchten und intensivieren. 

Pioniere des „Progressive Rock“ war zum Beispiel die britische Band „Emerson, Lake & Palmer“ (ELP). ELP wurde vor 50 Jahren 1970 gegründet und formierte sich rund um die namensgebenden Musiker Keith Emerson (1944-2016), Greg Lake (1947-2016) und Carl Palmer (*1950). (Wäre Jimi Hendrix nicht vor ebenso 50 Jahren plötzlich verstorben, hätte die Band ein weiteres Gründungsmitglied und als Bandnamen die Abkürzung „HELP“ erhalten.) Der Musikstil der Band wurde neben Einflüssen aus dem Blues und dem Jazz sehr stark von klassischer Musik geprägt. Besonders der Pianist und Keyboarder der Band, Keith Emerson, forcierte die Entwicklung in diese Richtung und scheute nicht davor zurück, auch etablierte klassische Werke neu zu arrangieren und in Gestalt des „Progressive Rock“ aufzuführen. So kam es, dass der erste Track ihres Debütalbums (sozusagen als Visitenkarte der Band) eine Hommage an jenen Komponisten war, dessen Kompromisslosigkeit im Beschreiten neuer Wege Emersons tief beeindruckt hatte, nämlich Béla Bartók. Daher stellte sich die Band auf ihrem ersten Album mit einer Bearbeitung des „Allegro barbaro“ vor, das auch in seiner neuen Gestalt mit dem Titel „The Barbarian“ nichts von der rhythmischen Wildheit und aggressiven Getriebenheit des Originals verloren hat. Bartóks „barbarische“ Komposition verhalf somit dieser jungen Gattung der Rockmusik zu ersten, ungeahnten Höhen und erschloss sowohl ELP als auch Bartók selbst neues Publikum. 



Doch mit der reinen Bearbeitung klassischer Werke im progressiven Stil gab sich ELP nicht zufrieden. Die Band wollte auch mit progressiven Eigenkompositionen glänzen, die ihre klassischen Wurzeln nicht verleugnen. Dies gelang ELP in ihrem nächsten Album „Tarkus“ (1971), wo der Titeltrack eine 20minütige, monumentale Rocksuite ist, die zum Bedeutendsten aus dem Schaffen von ELP gehört, und zum Meilenstein des „Progressive Rock“ wurde. Es handelt sich hierbei um eine monströse Konstruktion, die möglicherweise sowohl formal als auch harmonisch ihren Vorläufer in Bartóks radikaler Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“ finden kann. „Tarkus“ wird strukturell von einem Präludium (mit dem Titel „Eruption“) und einem Postludiom umklammert, die auf demselben Themenmaterial basieren. Dazwischen befinden sich drei voneinander unabhängige Intermezzi im Stile des Hardrocks, welche mit den Motiven des Präludiums verbunden werden. Das musikalische Material des Präludiums führt also thematisch durch das gesamte Werk und kann als Leitmotiv betrachtet werden, das die gesamte Komposition zu einem organischen Gesamtkunstwerk macht. 

Bevor auf die klanglichen Eigenheiten des Präludiums eingegangen wird, ist es wichtig zu klären, was denn eigentlich ein „Tarkus“ ist. Es handelt sich hierbei um ein fiktives Wesen, das halb Panzer (Tank) und halb Gürteltier ist. Möglicherweise dient diese Eigenart als systemkritisches Symbol gegen die aufkommende Technisierung und die einhergehende Zerstörung von Kultur in einer totalitärer werdenden Industriegesellschaft, wo Kunstsinn und Menschlichkeit wie von einem Panzer niedergewalzt werden. In dieser Betrachtung liegt bereits der Schlüssel zur Musik: Ein Panzer ist ein kettengetriebenes Fahrzeug, das sein Fortkommen der repetierenden Bewegung seiner Laufrolle verdankt. Diese Bewegung lässt sich musikalisch durch Ostinati in Form einer kreisenden Motorik darstellen. Darüber hinaus muss ein Panzer durch aggressiv-akzentuierte Rhythmik markant dargestellt werden, um ihn ohne Zweifel als einsatzfähiges Kriegsgerät auszuweisen. Und zu guter Letzt muss seine Robustheit und Geländegängigkeit unter Beweis gestellt werden. Dies gelingt am besten durch viele plötzliche Taktwechsel und aufkommende Dissonanzen, welche der getriebenen Motorik dennoch keinen dauerhaften Abbruch tun. Die Zutaten all dieser Anforderungen fand ELP bereits vollends ausgeprägt im Schaffen Béla Bartóks und brachte diese sehr souverän und virtuos im Stile des „Progressive Rock“ zur Anwendung. So kann der visionäre Vordenker Bartók völlig zu Recht als Pate der einleitenden „Eruption“ gelten, welche das Leitmotiv einer der größten und einflussreichsten Rocksuiten der Musikgeschichte bildet. 



Doch auch viele weitere Vertreter des „Progressive Rock“ haben sich Elemente von Bartóks Musik einverleibt und auf ihre eigene Weise Ausdruck verliehen. Als Beispiele seien zwei der führenden progressiven Bands Italiens Anfang der 70er Jahre angeführt. Die erste ist Premiata Forneria Marconi (PFM), welche im Track „Generale!“ ihres Albums „Per un amico“ (1972) auf originelle Weise Bartóksche Motorik mit Blues- und Rocknoten zu einem neuen Ganzen verbinden. 


Die andere Band ist „Banco della mutuo socorsso“, deren Konzeptalbum „Darwin!“ (1972) von der Entstehung der Erde und der Evolution des Menschen handelt. In der Komposition „La conquista della posizione eretta“ („Die Eroberung der aufrechten Haltung“) vereinen sich sowohl harte, „barbarische“ Klänge aus einer archaischen Vorzeit als auch die repetierende, treibende Figur des Klaviers, die auf das allmähliche Fortkommen durch evolutionäre Entwicklung hinweist. Darüber hinaus lässt die Band auch das melodische Element der italienischen Operntradition gepaart mit psychedelischen Effekten nicht außer Acht und gelangt so zu einer ganz eigenen Auslegung von „Progressive Rock“. 


Béla Bartók, der große Spurensucher und Ethnologe der Musikgeschichte, hat selbst darauf hingewiesen, dass es in der Kunst nur schnelle oder langsame Entwicklungen gebe. Kunst sei im Wesentlichen eine Angelegenheit von Evolution und nicht von Revolution. So war auch seine eigene Musik zu verstehen, die im vollen Bewusstsein des historischen Kontextes nach neuen Ausdrucksformen strebte und diese letztlich fand. Dass hinsichtlich der Entwicklung des „Progressive Rocks“ nun wiederum Bartóks eigene Musik in einen historischen Kontext gestellt wurde, woraus etwas Neues entstand, konnte folglich nur in seinem Sinne sein. Die Quelle der Urmusik, auf die Bartók gestoßen war, lebt so auch in anderen Genres fort und macht das weite Feld der Musik nur umso vielseitiger und reicher.