Donnerstag, 28. November 2013

„Glenn Gould – Ein Pianist gegen den Rest der Welt“


Im Rahmen unserer bisherigen Beschäftigung mit der klassischen Musik haben wir uns stets mit Epochen, Komponisten oder Gattungen auseinandergesetzt. Das macht die Welt der Klassik zwar schon sehr bunt, dennoch haben wir einen Punkt bis jetzt vollkommen ausgeklammert, der diese Musik um die Tiefe einer weiteren Dimension bereichert: die Interpretation.

Nun stellt sich die Frage: Wer braucht schon verschiedene Interpretationen, wenn ein Werk bereits einmal gut eingespielt wurde?

Die Antwort ist relativ einfach: Keiner, doch die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden und so erhöht man die Freiheitsgrade! Und das soll mit diesem Beitrag gezeigt werden!

Aufgrund des Alters der meisten Komponisten sind heute selten mustergültige Studioeinspielungen von ihnen persönlich vorhanden, wie es bei heutigen Musikbands stets der Fall ist. Jedes klassische Werk wird jährlich von vielen verschiedenen Orchestern, Dirigenten und Virtuosen aufgeführt, deren Interpretationen sich oft grundlegend unterscheiden. In diesem Artikel möchte ich mich mit einem skurilen Meisterinterpreten am Klavier beschäftigen, dessen technisches Vermögen unbestritten ist, der sich jedoch durch unorthodoxe Zugänge hinsichtlich Interpretation oft Feinde gemacht hat, ja teilweise sogar abgelehnt und ausgelacht wurde. Dieser Pianist ist ein Paradebeispiel, wie man durch unkonventionelle Herangehensweise ganz neue Facetten einer Komposition entdecken kann. Und manchmal tun diese der Komposition gut!

Die Rede ist von dem kanadischen Meisterpianisten Glenn Gould (1932-1982), der für seine Akribie und seinen Perfektionismus bekannt ist und in den letzten 15 Jahren seines Lebens Konzertauftritte ablehnte, um sich im Tonstudio ganz der Suche nach dem perfekten Klang zu widmen.


Zum Vergleich mit anderen Interpretationen werden vier Werke aus drei Epochen herangezogen: Barock, Wiener Klassik (gleich 2 mal) und Romantik.


a) Barock

Der Barock gilt als Goulds Meisterdisziplin. Seine Errungenschaften auf dem Gebiet der Interpretation von Bachs Werk gelten als unumstritten und als Referenzaufnahmen, die ewige Gültigkeit besitzen. Das gelang Gould nicht nur, weil er technisch die Kontrapunkte und Polyphonie perfekt spielen konnte, sondern auch, da er dieser vergeistigten Musik mit Leidenschaft und tiefem Empfinden begegnete und ihr so Leben einhauchte; sie zur unmittelbaren Erfahrung machte. Die Intensität seines Spieles weicht von üblichen Interpretationen anderer Pianisten stark ab und versucht, zu tiefgreifenderen Welten vorzustoßen.

(Als kleine Anekdote sei dazugesagt, dass Gould selbst von seiner Interpretation derart überzeugt und berührt war, dass er während des Spiels oft wie in Trance mitsummte, was auch auf den Studioaufnahmen zu hören ist, aber kein ernsthafter Kritikpunkt sein darf!)

Als Vergleichsbeispiel wähle ich die einleitende „Aria“ der Goldbergvariationen, BWV 988 von Johann Sebastian Bach (1685-1750), welche Gould wenige Monate vor seinem Tod ein letztes Mal einspielte und die interpretatorisch bis heute als unerreicht gelten. Der Name dieser Variationen leitet sich angeblich von einem Cembalisten eines russischen Gesandten am Dresdener Hof ab, der Bach gebeten haben soll, einen Variationszyklus zu schreiben, den er seinem Herren vorspielen kann, da dieser unter Schlafproblemen leide. Ob diese Anekdote stimmt, weiß ich nicht. Auf keinen Fall darf daraus abgeleitet werden, dass diese Musik narkotisch auf ihre Zuhörer wirke!!!

Als Vergleichsinterpretation wähle ich jene des großen Pianisten Wilhelm Kempff (1895-1991), dem ebenfalls eine sehr umjubelte Einspielung der Goldbergvariationen gelungen ist:




Liebreizend, nicht wahr?

Und nun Goulds Interpretation des gleichen Stückes. Es entscheide jeder selbst, welche einem näher geht:




b) Wiener Klassik I

Um es gleich zu sagen: Das Verhältnis zwischen Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Glenn Gould war nicht das beste. Gould war Mozarts Weise zu komponieren suspekt, zu sehr war ihm Bachs Werk nahe. Und auch, wenn Mozart in seinem Spätwerk Elemente von Bach aufgriff (wir erinnern uns an einen früheren Artikel), so schürte dies noch viel mehr Goulds Aversion und verleitete ihn zu dem Satz, Mozart sei eher zu spät gestorben als zu früh.

Jetzt werden viele zu Recht den Kopf vor so pietätlosen Äußerungen schütteln und doch keimte (wenn schon keine Liebe) eine Hassliebe zwischen beiden. Gould spielte nämlich sämtliche Klaviersonaten von Mozart ein und interpretierte sie auf eine Weise, die (gelinde gesagt) auf Unverständnis in der Öffentlichkeit stieß. Gould spiele Mozart gegen den Strich, war eine häufige Kritik. Doch Gould fühlte sich missverstanden, da er sich als den einzigen Interpreten sah, der Mozarts Intension gerecht wurde.

Hier taten sich Klüfte, verhärtete Fronten sowohl bei den Musikkritikern als auch beim Publikum auf! Es schien fast so als könnte man entweder nur auf Mozarts oder auf Goulds Seite sein. Und offen gesagt, diese Fronten existieren noch heute: Viele lehnen Goulds Mozart-Experimente strikt ab und bleiben lieber bei den etablierten Interpretationen. Diese Haltung ist durchaus verständlich, dennoch sollte dieser interessante Vergleich nicht gescheut werden.

Ich wähle hierfür die Interpretation des ersten Satzes aus Mozarts Klaviersonate in a-Moll, KV 310. Es ist eine der wenigen Klaviersonaten, die Mozart in Moll geschrieben hat, und gehört zu seinen dunkelsten Werken. Er komponierte sie im Laufe einer Parisreise 1778, nachdem er vom Tode seiner Mutter erfahren hatte.

Die bekannteste und als Referenzaufnahme geltende Einspielung dieser Sonate gelang dem wunderbaren Dinu Lipatti (1917-1950):




Die Interpretation von Glenn Gould wirkt nach den sehr würdigen Klängen von Lipatti anfangs fast wie eine Parodie auf das Werk. Gould nimmt Mozarts Tempo- und Dynamikangaben nicht sonderlich ernst und kümmert sich auch um keine Wiederholungen, die Mozart vorgeschrieben hat. "Er stellt die Melodien (und zwar nicht nur die Vordergründigen) in den Vordergrund und verwandelt Tempo und Rhythmik von spröden Vorgaben zu emotionalen Variablen." (Roman Stift) Hierbei gelingt ein dynamischer Fluss, der nicht nur überzeugen kann, sondern durch seine Exaltiertheit (man könnte fast Besessenheit sagen) Mozarts Musik in ganz neue Sphären rückt:
 



Wurde ein Unterschied erkannt? Auf welcher Seite der verhärteten Fronten steht ihr?


c) Wiener Klassik II

Goulds Verhältnis zu Ludwig van Beethoven (1770-1827) war mit Sicherheit ebenfalls gespannt, dennoch sind ihm hier Einspielungen gelungen, die ähnlich originell waren wie jene von Mozarts Werken, doch (meiner Meinung nach) weniger anfechtbar.

Als Beispiel, das Gould als Interpretationsgenie in Sachen Beethoven entpuppt, wähle ich die Sammlung von Bagatellen, op.126. Es handelt sich hierbei um Beethovens letztes Klavierwerk, das er vereinsamt und stocktaub komponiert hat. Doch jeder der nun denkt, ein Komponist sei aufgrund seiner Taubheit gehandikapt, der irrt zumindest im Falle Beethovens. Auf Beethovens Werk hat sich dessen verlorenes Gehör in keinster Weise negativ ausgewirkt. Seine Musik ist höchstens etwas entrückter, extravaganter und jenseitiger geworden. Aber nur Narren führen das als Kritik an!

Vergleichen möchte ich die vierte Bagatelle in h-Moll aus dieser Sammlung. Es handelt sich um ein sehr mächtiges, finsteres Stück, das fast martialisch anmutet und Beethoven von der Seite zeigt, die viele so lieben.

Zunächst sei eine sehr gekonnt-virtuose Interpretation von Alfred Brendel (*1931) vorgestellt:




Man vergleiche diese Version nun mit Gould, der sich vom Tempo her etwas zurücknimmt und mehr Wert auf Akzentuierung setzt. Dies führt dazu, dass manche Passagen wie in Minute 0:22 oder 1:10, die bei Brendel einfach so vorbeihuschen, bei Gould fast etwas zu swingen beginnen. Ich weiß nicht, ob das im Sinne Beethovens ist, aber ich liebe es:
 



d) Romantik

Viele Freunde der Romantik müssen nun ganz stark und tapfer sein. Gould lehnte die großen Romantiker großteils strikt ab. Er leugnete Schumann und Liszt als Komponisten, kritisierte Schuberts Stil und gab an, Chopin nur in sehr schwachen Momenten zu spielen, denn seine Musik habe nichts Überzeugendes.

Glaubt mir, bei so mancher Kritik an den oben angeführten Komponisten blutet mein Herz am meisten, da ich hier oftmals ganz anderer Meinung als Gould bin!

Gould-Gegner und Romantik-Liebhaber brachten als Gegenkritik an, dass Gould diese strikte, rigorose Haltung und Abneigung gegenüber der Romantik nur deshalb hege, weil er selbst unfähig sei, sie zu spielen. Diese Kritik traf Gould schwer und er kündigte an, eine Sonate Chopins (op.58) einzuspielen, um diese Vorwürfen zu entkräften. Und das tat er auch! Aber er wäre nicht Glenn Gould, wenn er das nicht mit seiner ganz eigenen, unverwechselbare Weise getan hätte! Das Resultat war eine Interpretation, die sich durch übertriebenes „Staccato“, das aufgrund des Weglassen des Pedals am Klavier (kein Nachhall) entstand, auszeichnete. Dadurch wirkt das Werk wie ein romantisches Ungetüm im barocken Gewand, das von Gould zwar gebändigt und souverän gespielt wurde… DOCH WIE!!! Man fühlt sich mehr an Bach als an Chopin erinnert!

Verglichen wird der 4. Satz der Sonate. Hier eine fantastische, romantische Interpretation des furiosen Evgeny Kissin (*1971):




Schon eine wild romantische Nummer, nicht wahr?

Und hier das barock-romantische Ungetüm meisterhaft interpretiert von Gould:




Klingt fast wie ein anderes Werk, oder?


e) Epilog

Glenn Gould spaltet auch 30 Jahre nach seinem Tod die Gemüter genau wie zu seinen Lebenszeiten. Und ich bin mir sicher, nach lesen dieses Artikels werden zwei Parteien existieren: Jene, die begeistert diese unkonventionelle Art der Interpretation begrüßen, und jene, welche die Kompositionen von einem talentierten Egomanen missbraucht sehen, der sich inszenieren wollte.

Somit wird Gould entweder gefeiert oder verachtet, doch eines wird er nicht: als gleichgültig betrachtet. Denn zu berechtigt sind seine Interpretationsversuche, seine Annäherungen an die Kunst und zu sehr hat er die klassische Gemeinde damit bereichert und zu hitzigen Diskussionen beflügelt.

Und wenn Glenn Gould nach diesem Artikel ebenso geliebt wie abgelehnt wird, dann hat er sein Lebensziel auch posthum erreicht: die Provokation!




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