Im Rahmen unserer bisherigen Beschäftigung mit der klassischen Musik
haben wir uns stets mit Epochen, Komponisten oder Gattungen
auseinandergesetzt. Das macht die Welt der Klassik zwar schon sehr
bunt, dennoch haben wir einen Punkt bis jetzt vollkommen
ausgeklammert, der diese Musik um die Tiefe einer weiteren Dimension
bereichert: die Interpretation.
Nun stellt sich die Frage: Wer braucht schon verschiedene
Interpretationen, wenn ein Werk bereits einmal gut eingespielt wurde?
Die Antwort ist relativ einfach: Keiner, doch die Geschmäcker sind
bekanntlich verschieden und so erhöht man die Freiheitsgrade! Und
das soll mit diesem Beitrag gezeigt werden!
Aufgrund des Alters der meisten Komponisten sind heute selten
mustergültige Studioeinspielungen von ihnen persönlich vorhanden,
wie es bei heutigen Musikbands stets der Fall ist. Jedes klassische
Werk wird jährlich von vielen verschiedenen Orchestern, Dirigenten
und Virtuosen aufgeführt, deren Interpretationen sich oft
grundlegend unterscheiden. In diesem Artikel möchte ich mich mit
einem skurilen Meisterinterpreten am Klavier beschäftigen, dessen
technisches Vermögen unbestritten ist, der sich jedoch durch
unorthodoxe Zugänge hinsichtlich Interpretation oft Feinde gemacht
hat, ja teilweise sogar abgelehnt und ausgelacht wurde. Dieser
Pianist ist ein Paradebeispiel, wie man durch unkonventionelle
Herangehensweise ganz neue Facetten einer Komposition entdecken kann. Und manchmal tun diese der Komposition gut!
Die Rede ist von dem kanadischen Meisterpianisten
Glenn Gould (1932-1982), der für seine Akribie und seinen Perfektionismus bekannt ist und in den letzten 15 Jahren seines Lebens Konzertauftritte ablehnte, um sich im Tonstudio ganz der Suche nach dem perfekten Klang zu widmen.
Zum Vergleich mit
anderen Interpretationen werden vier Werke
aus drei Epochen herangezogen: Barock, Wiener Klassik (gleich
2 mal) und Romantik.
a)
Barock
Der
Barock gilt als Goulds Meisterdisziplin. Seine Errungenschaften auf
dem Gebiet der
Interpretation
von Bachs Werk gelten als unumstritten und als Referenzaufnahmen, die
ewige Gültigkeit besitzen. Das gelang Gould nicht nur, weil er
technisch die Kontrapunkte und Polyphonie perfekt spielen konnte,
sondern auch, da
er dieser vergeistigten Musik mit Leidenschaft und tiefem
Empfinden
begegnete
und ihr so Leben
einhauchte; sie
zur unmittelbaren Erfahrung machte. Die Intensität seines Spieles
weicht von üblichen Interpretationen
anderer Pianisten stark ab
und versucht,
zu
tiefgreifenderen
Welten vorzustoßen.
(Als
kleine Anekdote sei dazugesagt, dass Gould selbst von seiner
Interpretation derart überzeugt und berührt war, dass er während
des Spiels oft wie
in Trance
mitsummte, was auch auf den Studioaufnahmen zu hören ist, aber
kein ernsthafter Kritikpunkt sein darf!)
Als
Vergleichsbeispiel wähle ich die einleitende „Aria“ der
Goldbergvariationen, BWV 988 von Johann Sebastian Bach (1685-1750),
welche Gould wenige Monate vor seinem Tod ein letztes Mal einspielte
und die interpretatorisch bis heute als unerreicht gelten. Der Name
dieser Variationen leitet sich angeblich von einem Cembalisten eines
russischen Gesandten am Dresdener Hof ab, der Bach gebeten haben
soll, einen Variationszyklus zu schreiben, den er seinem Herren
vorspielen kann, da dieser unter Schlafproblemen leide. Ob diese
Anekdote stimmt, weiß ich nicht. Auf keinen Fall darf daraus
abgeleitet werden, dass diese Musik narkotisch auf ihre Zuhörer
wirke!!!
Als
Vergleichsinterpretation wähle ich jene des großen Pianisten
Wilhelm Kempff (1895-1991), dem ebenfalls eine sehr umjubelte
Einspielung der Goldbergvariationen gelungen ist:
Liebreizend,
nicht wahr?
Und
nun Goulds Interpretation des gleichen Stückes. Es entscheide jeder
selbst, welche einem näher
geht:
b)
Wiener Klassik I
Um es
gleich zu sagen: Das Verhältnis zwischen Wolfgang Amadeus Mozart
(1756-1791) und Glenn Gould war nicht das beste. Gould war Mozarts
Weise zu komponieren suspekt, zu sehr war ihm Bachs Werk nahe. Und
auch, wenn Mozart in seinem Spätwerk Elemente von Bach aufgriff (wir
erinnern uns an einen früheren Artikel), so schürte dies noch viel
mehr Goulds Aversion und verleitete ihn zu dem Satz, Mozart sei eher
zu spät gestorben als zu früh.
Jetzt
werden viele zu Recht den Kopf vor so pietätlosen Äußerungen
schütteln und doch keimte (wenn schon keine Liebe) eine Hassliebe
zwischen beiden. Gould spielte nämlich
sämtliche
Klaviersonaten von Mozart ein und interpretierte sie auf eine Weise,
die (gelinde gesagt) auf Unverständnis in der Öffentlichkeit stieß.
Gould
spiele Mozart gegen den Strich, war eine häufige Kritik. Doch
Gould
fühlte sich missverstanden, da
er
sich als den einzigen Interpreten sah,
der Mozarts Intension gerecht wurde.
Hier
taten sich Klüfte, verhärtete Fronten sowohl bei den Musikkritikern
als auch beim Publikum auf! Es schien fast so als könnte man
entweder nur auf Mozarts oder auf Goulds Seite sein. Und offen
gesagt, diese Fronten existieren noch heute: Viele lehnen Goulds
Mozart-Experimente strikt ab und bleiben lieber bei den etablierten
Interpretationen. Diese Haltung ist durchaus verständlich, dennoch
sollte dieser interessante Vergleich nicht gescheut werden.
Ich
wähle hierfür die Interpretation des ersten Satzes aus Mozarts
Klaviersonate in a-Moll, KV 310. Es ist eine der wenigen
Klaviersonaten, die Mozart in Moll geschrieben hat, und gehört zu
seinen dunkelsten Werken. Er komponierte sie im Laufe einer
Parisreise 1778, nachdem er vom Tode seiner Mutter erfahren hatte.
Die
bekannteste und als Referenzaufnahme geltende Einspielung dieser
Sonate gelang dem wunderbaren Dinu Lipatti (1917-1950):
Die Interpretation
von
Glenn Gould
wirkt nach den sehr würdigen Klängen von Lipatti anfangs fast wie
eine Parodie auf
das Werk.
Gould nimmt
Mozarts Tempo-
und Dynamikangaben
nicht sonderlich ernst und kümmert
sich
auch
um
keine
Wiederholungen, die Mozart vorgeschrieben
hat. "Er stellt die Melodien (und zwar nicht nur die Vordergründigen) in den
Vordergrund und verwandelt Tempo und Rhythmik von spröden Vorgaben zu
emotionalen Variablen." (Roman Stift) Hierbei gelingt ein dynamischer Fluss, der nicht nur überzeugen
kann, sondern durch
seine Exaltiertheit (man
könnte fast Besessenheit sagen)
Mozarts Musik in ganz neue
Sphären rückt:
Wurde
ein Unterschied erkannt? Auf welcher Seite der verhärteten Fronten
steht ihr?
c)
Wiener Klassik II
Goulds
Verhältnis zu Ludwig van Beethoven (1770-1827) war mit Sicherheit
ebenfalls
gespannt, dennoch sind ihm hier Einspielungen gelungen, die ähnlich
originell waren wie jene von Mozarts Werken, doch (meiner Meinung
nach) weniger anfechtbar.
Als
Beispiel, das Gould als Interpretationsgenie in Sachen Beethoven
entpuppt, wähle ich die Sammlung von Bagatellen, op.126. Es handelt
sich hierbei um Beethovens letztes
Klavierwerk, das er vereinsamt und stocktaub komponiert hat. Doch
jeder der nun denkt, ein Komponist sei aufgrund seiner Taubheit
gehandikapt, der irrt zumindest im Falle Beethovens. Auf Beethovens
Werk hat sich dessen verlorenes Gehör in keinster Weise negativ
ausgewirkt. Seine Musik ist höchstens etwas entrückter,
extravaganter und jenseitiger geworden. Aber nur Narren führen das
als Kritik an!
Vergleichen
möchte ich die vierte Bagatelle in h-Moll aus dieser Sammlung. Es
handelt sich um ein sehr mächtiges, finsteres Stück, das fast
martialisch anmutet und Beethoven von der Seite zeigt, die viele so
lieben.
Zunächst
sei eine sehr gekonnt-virtuose Interpretation von Alfred Brendel
(*1931) vorgestellt:
Man
vergleiche diese Version nun mit Gould, der sich vom Tempo her etwas
zurücknimmt und mehr Wert auf Akzentuierung setzt. Dies führt dazu,
dass manche
Passagen
wie in Minute 0:22 oder
1:10, die
bei Brendel einfach so vorbeihuschen, bei Gould
fast
etwas zu
swingen
beginnen.
Ich weiß nicht, ob das
im Sinne Beethovens
ist,
aber ich liebe es:
d)
Romantik
Viele
Freunde der Romantik müssen nun ganz stark und tapfer sein. Gould
lehnte die großen Romantiker großteils strikt ab. Er leugnete
Schumann und Liszt als Komponisten, kritisierte Schuberts Stil und
gab an, Chopin nur in sehr schwachen Momenten zu spielen, denn seine
Musik habe nichts Überzeugendes.
Glaubt
mir, bei so mancher Kritik an den oben angeführten Komponisten
blutet mein Herz am meisten, da ich hier oftmals ganz anderer Meinung
als Gould bin!
Gould-Gegner
und Romantik-Liebhaber brachten als Gegenkritik an, dass Gould diese
strikte, rigorose Haltung und Abneigung gegenüber der Romantik nur
deshalb hege, weil er selbst unfähig sei, sie zu spielen. Diese
Kritik traf Gould schwer und er kündigte an, eine Sonate Chopins
(op.58) einzuspielen, um diese Vorwürfen zu entkräften. Und das tat
er auch! Aber er wäre nicht Glenn Gould, wenn er das nicht mit
seiner ganz eigenen, unverwechselbare Weise getan hätte! Das
Resultat war eine Interpretation, die sich durch übertriebenes
„Staccato“, das aufgrund des Weglassen des Pedals am Klavier
(kein Nachhall) entstand, auszeichnete. Dadurch wirkt das Werk wie
ein romantisches Ungetüm im barocken Gewand, das von Gould zwar
gebändigt und souverän gespielt wurde… DOCH WIE!!! Man fühlt sich mehr an Bach als an Chopin erinnert!
Verglichen wird
der 4. Satz der Sonate. Hier eine fantastische, romantische
Interpretation des furiosen Evgeny Kissin (*1971):
Schon eine wild
romantische Nummer, nicht wahr?
Und hier das
barock-romantische Ungetüm meisterhaft interpretiert von Gould:
Klingt fast wie ein
anderes Werk, oder?
e) Epilog
Glenn Gould spaltet auch
30 Jahre nach seinem Tod die Gemüter genau wie zu seinen
Lebenszeiten. Und ich bin mir sicher, nach lesen dieses Artikels
werden zwei Parteien existieren: Jene, die begeistert diese
unkonventionelle Art der Interpretation begrüßen, und jene, welche
die Kompositionen von einem talentierten Egomanen missbraucht sehen,
der sich inszenieren wollte.
Somit
wird Gould entweder gefeiert oder verachtet, doch eines wird er
nicht: als gleichgültig betrachtet. Denn
zu
berechtigt sind seine Interpretationsversuche, seine
Annäherungen an die Kunst
und zu sehr hat er die klassische Gemeinde
damit bereichert und
zu
hitzigen Diskussionen beflügelt.
Und
wenn Glenn Gould nach diesem Artikel ebenso geliebt wie abgelehnt
wird, dann hat er sein Lebensziel auch posthum erreicht: die
Provokation!
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