Montag, 6. Juni 2016

"Wagners Faust - Neue symphonische Wege"


Dass Dichtung und Musik sich wechselseitig beeinflussen, mag auf der Hand liegen. Dass aber die Dichtung den entscheidenden Impuls setzt, um der Musik neue Tore zu öffnen, mag einer Erklärung bedürfen. Es war schließlich die Vertonung eines Gedichts, welche eine heftige Debatte um die symphonische Form auslöste, die kaum einen Komponisten kalt lassen konnte. Ludwig van Beethoven (1770-1827) tat den ersten Schritt, Richard Wagner (1813-1883) zog seine eigenen Schlüsse daraus und am Ende blieb kein Stein auf dem anderen.



Als Richard Wagner im Jahre 1839 nach Paris kam, befand er sich in einer ausweglosen Lage: Er hatte seine letzte Anstellung als Kapellmeister in Riga verloren und musste mit seiner Frau aus Angst vor Gläubigern Hals über Kopf und finanziell nahezu mittellos fliehen. Das Ziel seiner Flucht sollte Paris sein, da hier zur damaligen Zeit das Opernwesen blühte und Wagner sich neue Aufträge und neue Einkommensquellen erhoffte. Diese Hoffnung sollte sich jedoch als vergebens erweisen. Seine Geldnot linderte sich kaum und er durchlebte eine seiner bittersten Zeiten. 

Dennoch kam es in dieser Zeit zu einem entscheidenden Ereignis, das seiner Inspiration mehr als zuträglich sein sollte: Er erlebte in Paris eine Aufführung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie op.125 in d-Moll, welche im Jahre 1824 uraufgeführt wurde. Wie einschneidend dieses Erlebnis für Wagner gewesen war und wie gewaltig die Wucht von Beethovens Klangkosmos auf ihn gewirkt hatte, kann man einem Artikel anlässlich einer eigenen Aufführung der 9. Symphonie seitens Wagner wenige Jahre später entnehmen:

"Es ist nicht möglich, daß je das Werk eines Meisters mit solch' verzückender Gewalt das Herz des Schülers einnahm, als wie das meinige vom ersten Satze dieser Symphonie erfaßt wurde."

(Wagner, "Zu Beethovens 9. Symphonie", 1846)

Und es war tatsächlich der erste Satz von Beethovens 9. Symphonie, der den Boden für Wagners neue Wege bereitete. Wie sich zu Beginn aus dem Chaos, aus dem Nichts plötzlich ein Klangmonument selbst gestaltet, so formte sich damals wohl auch in Wagner eine Vision der Möglichkeiten seiner künftigen Musik:




Doch mindestens genauso erschütternd muss für Wagner der vierte Satz, das Finale, gewesen sein. Hier sprengte Beethoven die klassischen Konventionen der Symphonik und ging über die Grenzen der absoluten Musik hinaus: Er stellte dem Orchester einen gleichberechtigten Chor zur Seite, für den er das Gedicht "An die Freude" ("Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium") von keinem Geringeren als Friedrich Schiller (1759-1805) vertonte. Das war die glorreiche Geburtsstunde der symphonischen Kantate, der Verschmelzung von Dichtung mit absoluter Musik. Seitdem war das Genre der Symphonie dramatisch erweitert und für immer verändert.




Wagner sah in diesem Konzert 1839 wohl seine große Stunde: Er betrachtete Beethovens 9. als Vollendung der klassischen Symphonik und gleichzeitig als deren Überwindung. Somit sei dieses Genre mit Beethoven zum Höhepunkt gebracht und folglich auch abgeschlossen worden. Neue Wege müssten nun eingeschlagen werden. Wagner sah die Erlösung der Musik durch das Wort. Als Grundstein hierfür betrachtete er Beethovens 9. Symphonie. Sie ist für ihn der Ausgangspunkt zur Literarisierung der Musik in Form von Musikdramen oder Programm-Symphonien. Sie ist für Wagner die Basis und gleichzeitig die Rechtfertigung für seine künftigen Opernpläne:

"Auf dieses Kunstwerk haben wir in dem Sinne zu schließen, dass es das vollendeteste Drama, somit ein weit über das Werk der eigentlichen Dichtkunst hinausliegendes sein muß. Hierauf dürfen wir schließen, die wir die Identität des Shakespeareschen und des Beethovenschen Dramas erkannten, von welchem wir andererseits anzunehmen haben, daß es sich zur 'Oper' verhalte wie ein Shakespearesches Stück zu einem Literaturdrama, und eine Beethovensche Symphonie zu einer Opernmusik." 
  
(Wagner, "Beethoven", 1870)

Wagner machte sich nach dem Konzertbesuch in Paris sofort an die Arbeit, um ein neues Werk zu komponieren, das jenen Ambitionen entsprach. Es handelte sich hierbei jedoch um keine Oper (an "Rienzi" und "Der fliegenden Holländer" arbeitete er bereits), sondern um eine Symphonie, der ein literarisches Programm zugrunde liegen sollte. Er entschied sich für kein geringeres Werk als den "Faust" von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). In diesem Werk (ohne Hoffnung auf baldige Aufführung) verarbeitete Wagner den Eindruck, den Beethoven auf ihn gemacht hatte sowie seine bittere finanzielle Situation. Als Tonart wählte er bezeichnenderweise jene der 9. Symphonie Beethovens: d-Moll! Von der geplanten "Faust-Symphonie" wurde immerhin die "Faust-Ouvertüre" fertiggestellt, in deren leitmotivartigen Hauptthema (0:42-0:50) Wagner den Zustand seiner eigenen Seelenqualen der Pariser Zeit (programmatisch maskiert von jenen Fausts) in Musik fasste.




Dieses Werk lag Wagner anscheinend sehr am Herzen, da er es mehrmals überarbeitete. Zuletzt tat er dies in den 1850er Jahren, als er von Franz Liszts (1811-1886) Plänen erfuhr, selbst eine "Faust-Symphonie" zu schreiben. Liszt war schließlich nicht nur Wagners späterer Schwiegervater, sondern selbst ein glühender Verfechter von Wagners neuen Wegen. Viele großartige symphonische Dichtungen sowie Programm-Symphonien aus seiner Feder zeugen davon.

Doch nicht alle Komponisten teilten den neuen Weg von Richard Wagner und Franz Liszt. Komponisten wie Robert Schumann (1810-1856) und Johannes Brahms (1833-1897) waren Verfechter der absoluten Symphonik und lehnten das Literarisieren durch feste Programme ab.   

In diese Reihe könnte man auch Anton Bruckner (1824-1896) stellen. Dieser war zwar zeitlebens ein glühender Wagner-Verehrer, doch so sehr er den Operndramatiker Wagner mit seinen kühnen Harmoniken und Neuerungen bewunderte, sowenig folgte er dessen Form. Bruckner komponierte nie ein Musikdrama oder eine Symphonie mit programmatischem Hintergrund. Er bevorzugte die klassische Form nach Beethoven. Doch im Rahmen dieser Form schuf er bahnbrechend Modernes.

Ein wunderbares Beispiel hierfür ist Bruckners 9. Symphonie, an welcher er bis zu seinem Tod arbeitete und letztendlich mit unvollendetem Finale zurücklassen musste. Trotz aller Moderne machte Bruckner hier auch zahlreiche Referenzen zu Beethoven und Wagner. An Beethovens 9. Symphonie erinnern beispielsweise der misteriöse, aus dem Nichts entstehende erste Satz sowie einige verwandte Themen daraus, das Scherzo als zweiter Satz der Symphonie und natürlich die Tonart d-Moll.

Doch auch der Bezug zu Wagner kommt nicht zu kurz. Im ersten Satz meint man Referenzen zu Wagners "Tristan-Ouvertüre" erkennen zu können und auch die Harmoniken sind entsprechend kühn. Wirklich spannend wird es im dritten Satz der Symphonie, dem großen Adagio, das Bruckner als "Abschied vom Leben" bezeichnet hat: Einerseits werden die Blechbläser durch "Wagner-Tuben" verstärkt, welche Wagner eigens für die Aufführung seines "Ring des Nibelungen" um 1870 anfertigen ließ, andererseits basiert das einleitende Hauptthema dieses Satzes auf dem Leitmotiv von Wagners "Faust-Ouvertüre". Dieses Thema legt sich bei Bruckner anfangs tonal nicht fest, sodass in diesem Satz eine frühe Art von Atonalität streckenweise zugegen ist. Da das Thema im weiteren Verlauf alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter berührt, kann man mit einiger Vorsicht eine Tendenz zu einer Vorstufe der Zwölftonmusik erahnen. 

Angesichts dessen erreichte Bruckner im äußeren Rahmen des klassisch-symphonischen Modells eine Progressivität der Harmonik, die selbst Wagner überflügelte und weit das Tor ins 20. Jahrhundert aufstieß. Bruckners Revolution fand also im Inneren statt, nicht in der äußeren Form:




Der Stein des Anstoßes war die Vertonung eines Gedichts, welche eine Debatte um die symphonische Form auslöste. Diese Debatte zog sich durch das gesamte 19. Jahrhundert und spaltete die Komponisten in verschiedene Lager, die tiefe Gräben trennten. Viele Wege wurden eingeschlagen; eine Versöhnung gab es nicht. So kam es, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die symphonische Form endgültig aus der Mode kam. Es war der Untergang von etwas, das längst keine einheitliche Form mehr besaß.

Was bleibt, sind symphonische Dokumente, die zeigen, wie es auf der Suche nach neuen Wegen zur Überwindung einer Gattung kam. Man kann nun sagen, es seien Dokumente eines Verfalls. Man kann aber auch sagen, dass es sich hierbei um Monumente handelt, die in einer bestimmten Zeit entstanden sind und sich gleichzeitig von dieser losgelöst haben. Sie stehen heute unbeschadet von allen historischen Debatten im Olymp der Musikgeschichte für all jene Musikfreunde bereit, die sich daran laben und erfreuen wollen. 
 
Die Gräben sind heute verschwunden. Was bleibt, ist viel gute Musik und der tiefe Trost, dass man aus dem reichen Angebot selbst schöpfen darf.