Samstag, 8. Juni 2019

"L'amico Fritz - Das vergessene Meisterwerk"


Wer glaubt, Meisterwerke bahnen sich mit der Zeit von selbst ihren Weg ins kollektive Gedächtnis der Nachwelt, um dort letztendlich ihre verdiente Würdigung zu erfahren, der irrt. Das Vergessenwerden ist wohl die bitterste Form von Rezeption, die einem Kunstwerk widerfahren kann. Von den vielen Beispielen in der Musikgeschichte besitzt gerade die italienische Oper ein besonders tragisches Schicksal: jenes von Pietro Mascagnis idyllischem Meisterwerk „L’amico Fritz“. Dieses übersehene Kleinod strahlt voll reicher Klangfarben und birgt nahezu unentdeckt Italiens schönste musikalische Perlen.


Pietro Mascagni (1863-1945) selbst ist hingegen kein Unbekannter. Sein frühes Meisterwerk „Cavalleria rusticana“ (1890) hat die Opernbühnen der Welt im Sturm erobert und bis heute nichts von seiner leidenschaftlichen Kraft und Frische eingebüßt. Auf diesem triumphalen Erfolg hin erhielt Mascagni bald einen neuen Auftrag für eine weitere Oper, den er in kürzester Zeit hochinspiriert erfüllte. Was dabei entstand, war 1891 das lyrische Meisterwerk „L’amico Fritz“, das an Subtilität und Klangschönheit die Vorgängeroper weit übertraf. Das Publikum hatte dafür jedoch kein Verständnis. Der triumphale Erfolg blieb aus und die Oper geriet bald in Vergessenheit. Auch in weiterer Folge sollte es Mascagni nicht gelingen, ein zweites Werk neben seinem Erstling auf den Opernbühnen zu etablieren. Somit wurde Mascagni das Schicksal zuteil, als One-Hit-Wonder mit „Cavalleria rusticana“ in die Musikgeschichte einzugehen. Diese historische Ungerechtigkeit fiel in den frühen 1890er Jahren bereits einem jungen, ambitionierten Operndirigenten auf, der „L’amico Fritz“ im deutschsprachigen Raum zur Erstaufführung brachte. Es war kein Geringerer als Gustav Mahler (1860-1911), der fassungslos ob der Tatsache war, dass sich dieses Werk neben „Cavalleria rusticana“ trotz aller Verfeinerungen im Stil und musikalischen Ausdruck auf den Opernbühnen nicht durchsetzen konnte. Ein verständnisloses Publikum war Mahler, der bekanntlich auch selbst als Komponisten tätig war, nicht fremd. Vielleicht fühlte er deshalb mit Mascagnis Schicksal mit und wurde nicht müde, gemeinsame Berührungspunkte zu betonen. Dass heute, 130 Jahre später, Mahlers Werk längst in den Konzertsälen angekommen ist, Mascagnis „L’amico Fritz“ allerdings noch immer ein Schattendasein fristet, gäbe wohl beiden keinen ungetrübten Grund zur Freude.

Worum geht es in „L’amico Fritz“? Die Handlung ist relativ einfach gestrickt und anhand der wunderbaren Musik nahezu nebensächlich: Ein wohlhabender Großgrundbesitzer und eingefleischter Junggeselle namens Fritz wettet mit seinem Freund David um einen Weinberg, dass er nie heiraten werde. Nun gibt es aber eine ebenso junge wie hübsche Tochter eines Gutsverwalters, dem Fritz in schweren Zeiten geholfen hat, mit dem Namen Suzel. Fritz hegt insgeheim Gefühle für sie, welche durch das von David gestreute Gerücht, Suzel würde kurz vor einer Hochzeit stehen, offen entflammen. Fritz heiratet letztendlich Suzel und übergibt David den versprochenen Weinberg. David gibt hingegen den Weinberg als Hochzeitsgeschenk wieder zurück und freut sich, dass sein gestreutes Gerücht Realität geworden ist. - So weit, so banal. Würde man nur die Handlung kennen, die Kostbarkeiten der Oper blieben unentdeckt, da die Rechnung ohne dem Wesentlichen gemacht werde würde: der herrlichen Musik.

Nun zu dieser: Beginnen wir mit dem Vorspiel der Oper, dem Preludietto. Im Grunde handelt es sich hierbei um ein Charakterbild von Fritz. Es beginnt ebenso scherzohaft verspielt wie ruhig behäbig und spiegelt die aktuelle Lebenslage des älteren Junggesellen Fritz wider. Es handelt sich um einen gemütlichen, sympathischen, nicht sonderlich spektakulären und vielleicht etwas unbeholfenen Herren, der mit sich und seinem Leben aber durchaus zufrieden ist. Man könnte bei der Musik daher vom Leitmotiv des unkomplizierten Junggesellendaseins sprechen. Trotz aller Zufriedenheit und inneren Ruhe zeichnet die Musik aber auch eine gewisse Eindimensionalität und Einfachheit aus, die auch für sein derzeitiges Leben bezeichnend sind. Dies ist Fritz durchaus bewusst und er fragt sich wohl selbst, ob das bereits alles gewesen sein soll. Ein schüchternes Träumen von einem tieferen und reicheren Dasein, die leise Ahnung von etwas Höherem kann Fritz nicht unterdrücken und so nimmt die Musik ab Minute 1:17 sehnsüchtig schwebenden Charakter an. Die oberflächliche Verspieltheit weicht plötzlich lang ausschwingenden Melodiebögen, welche der Sehnsucht, die manchmal in Fritz aufkommen mag, Ausdruck verleihen. Diese zarten Kantilenen, deren sich kaum ein sensibles Herz erwehren kann, sind es, welche italienische Oper so unverwechselbare Intensität schenken, und Mascagni weiß diese wunderbar effektvoll einzusetzen. Doch dieses ätherische, sehnsuchtsvolle Zwischenspiel bleibt nur ein Tagtraum, eine isolierte Episode, und ab Minute 3:12 fällt Fritz wieder in seine verspielte, gemütliche und etwas langweilig behäbige Ausgangslage zurück. Man merkt, mit welch liebevollem Einfühlungsvermögen Mascagni bei diesem subtilen musikalischen Portrait des Hauptcharakters vorgeht.






Bereits nach dieser kurzen instrumentalen Vorstellung wissen wir, dass es eines aufrüttelnden Ereignisses in Fritzens Leben bedarf, damit sein sehnsuchtsvoller Tagtraum Wirklichkeit werden und sein Leben Erfüllung finden kann. Dieses Ereignis soll bald in Form von Suzel kommen. Das ist der Stoff aus dem große italienische Oper gemacht ist und Mascagni entwickelt daraus im Folgenden ein wunderschönes Leitmotiv: Als zu Fritzs Geburtstag Suzel diesem voll Dankbarkeit für seine Hilfsbereitschaft gegenüber ihrer Familie einen Strauß Veilchen überreichen möchte, drückt sie diese in Form einer Arie aus. (In der italienischen Oper nichts Ungewöhnliches!) In ihren Worten des Dankes erklärt sie, dass die Blumen, könnten sie reden, sich glücklich schätzen würden, ihr kurzes Leben zu Ehren eines Mannes geendigt zu haben, der den Armen in ihrer größten Not hilft. Diese Arie („Son pochi fiori“) gehört zu den schönsten Vorstellungsarien, mit denen eine Hauptprotagonistin je in eine Oper eingeführt wurde. Wenn man bedenkt, dass Mascagni dies sieben Jahre vor Giacomo Puccinis (1858-1924) „La Bohème“ gelungen ist, wo Puccini seine Mimì mit ihrer Einstiegsarie „Sì, mi chiamano Mimì“ trotz Tuberkulose im Endstadium unsterblich gemacht hat, so kann man „L’amico Fritz“ durchaus als stilbildend bezeichnen. Das angedeutete Sehnen aus dem Vorspiel erhält plötzlich Substanz, eine Wesenheit von musikalischer Fülle und klanglichem Reichtum. Die Träumerei von Fritz findet seine weltliche Entsprechung aus Fleisch und Blut, eben Suzel, welche den Traum mit Leben füllt und das Leben selbst sich plötzlich ungemein reicher gestalten lassen würde. Und genau hier schwingt sich die italienische Oper zu unerreichten Höhen auf. Mascagni erweist sich hierbei als einer ihrer lyrischsten und würdigsten Vertreter und das Leitmotiv ab Minute 0:57, das in der Oper immer wiederkehrt, als eine seiner schönsten Eingebungen:





Was im weiteren Verlauf der Oper einen besonderen Reiz ausmacht, ist die Einbeziehung unterschiedlichster musikalischer Einflüsse und Stile. So erleben wir Suzel im zweiten Akt in der Morgendämmerung beim Kirschenpflücken am Feld. Sie singt ein Lied ("Bel cavaliere") vor sich hin, das einen traurigen Ritter zum Thema hat, dem von einem Mädchen Rosen für seine Braut angeboten werden. Der Ritter lehnt dankend aber tieftraurig ab, da er keine Braut besitzt. Wir wissen allein durch den Text des Liedes nicht wer dieser Ritter ist und wo sich diese Begebenheit zutrug. Mascagni gibt mit seiner Musik jedoch aufschlussreiche Hinweise: Er verleiht ihr exotische Noten, verziert mit orientalischen Arabesken. Entführt uns diese Musik gar ins ferne Andalusien, wo sich Morgen- und Abendland, Mauren- und Christentum zwar nicht immer friedlich die Hand reichten, das eine aber das andere maßgeblich beeinflusste? Wie sich Gegensätze zu einem neuen Ganzen vereinten? Es scheint so, anders wäre der orientalische Klang nicht zu erklären. Auch die wunderbaren Rosengärten des Generalife der Alhambra in Granada würden einen herrlichen szenischen Rahmen hierfür bieten. In jedem Fall geht die Musik Mascagnis weit über das Libretto hinaus und verleiht ihm durch die Verschmelzung von italienischer Arie mit orientalischen Klangornamenten zusätzlich Tiefe und übergeordnete Deutungsebenen. Diese musikalische Aufwertung des Textes kennen wir in noch viel konsequenterer und weitreichenderer Ausführung aus der Kunst Richard Wagners (1813-1883), auf dessen Methodik Mascagni nicht nur im Gebrauch vereinzelter Leitmotive zurückgreift.

Spannend ist aber auch, wie Mascagni nahtlos zwischen Stilen wechseln kann. Als Fritz, der Suzel beim Kirschenpflücken beobachtet hat, zu ihr tritt und sich zwischen ihnen ab Minute 3:44 das „Kirschenduett“ entspinnt, tritt ein gänzlich anderer musikalischer Charakter in Erscheinung: War die Musik der Ritterlegende kühn und exotisch, so erscheint das darauffolgende Duett in leichter, lieblicher Manier ganz dem italienischen Zeitgeschmack entsprechend.





Doch damit nicht genug: Etwas später wird in diesem Akt auf eine weitere Legende angespielt: Diesmal ist es jene Bibelszene, in der Abraham aufruft, für seinen Sohn Isaac eine Frau zu suchen. (Das Junggesellendasein und das Brautwerben zieht sich also thematisch durch das Libretto wie ein Leitmotiv.) Mascagni nutzt auch für diese Passage originelle musikalische Umsetzung, indem er auf die alte christliche Form des Chorals zurückgreift. Wir erleben hier eine wunderbare Verschmelzung von einstimmiger Kirchenmusik mit dem Melos der italienischen Oper. Das Ergebnis ist eine Synthese voll Erhabenheit in einer Arie („Faceasi vecchio Abramo“), die an hehrem Ausdruck ihresgleichen sucht. - Allgemein betrachtet gelingt Mascagni in diesem Akt ein Meisterstück, was Menschen selten gelungen ist: Orientalische Exotik und tiefverwurzeltes Christentum versöhnt nebeneinander zu stellen, um sich zu einem übergeordneten, facettenreicheren Ganzen zu vereinen. Das scheinbar Unvereinbare wird durch die Essenz der italienischen Oper verbunden: Melodienreichtum und musikalische Schönheit.




Ein weiterer Höhepunkt der Oper ist das rein instrumentale Intermezzo, das Mascagni zwischen zweitem und drittem Akt platziert. Hier greift er melodisch auf ein Motiv zurück, das ein weitgereister, melancholischer Geigenspieler im ersten Akt anlässlich des Geburtstages von Fritz alleine intoniert. Im Intermezzo erstrahlt dieses Motiv im vollen Orchesterklang. Es ist eine sehnsuchtsvolle Melodie voll Schmerz und Wehmut. Man vermeint fasst Nachwehen vom Pathos der „Cavalleria rusticana“ zu vernehmen. Die Melodie will uns eine Geschichte erzählen. Es ist jene von Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Eine Geschichte die so alt ist wie die Menschheit selbst, aber die gerade in Italien so effektvoll und herzergreifend beschworen wird. Dieser deklamierende, legendenbildende Stil hat Musikgeschichte geschrieben und ungeheuren Einfluss auf die moderne Filmmusik ausgeübt. Man könnte beispielsweise fast meinen, als stünde Mascagnis Intermezzo Pate für den Film-Soundtrack des großartigen Mafia-Epos „The Godfather“ von Nino Rota (1911-1979). Der Gestus des markanten, lamentierenden Hauptthemas sowie die Intonierung durch ein Soloinstrument führen in direkter Linie zu Mascagnis Operneinfall zurück. Diese leidenschaftliche Vortragsweise voll Wehmut und Schmerz hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Popkultur eingeprägt und unzählige Hörer tief ergriffen, auch wenn nur wenige den Ursprung bei Mascagni orten können. (Aber unabhängig davon ist Mascagni auch über „Cavalleria rusticana“ mit „The Godfather“ verbunden, da der Showdown im dritten Teil der Reihe während einer Aufführung von ebendieser Oper stattfindet.) 

Doch nun geben wir uns ganz dem leidenschaftlichen, originalen Pathos von Mascagnis Intermezzos hin, der nach einer eindrucksvollen Einleitung ab Minute 1:27 zum hehren Gesang anhebt und die Geschichte des liebeskranken, veränderten Fritz zu erzählen beginnt, der sich nach Suzel verzehrt und seinem Leben eine tiefere Bedeutung mit ihr an seiner Seite beimessen möchte:





„L’amico Fritz“ ist Mascagnis lyrisches Meisterwerk, das einen Vergleich mit „Cavalleria rusticana“ nicht zu scheuen braucht. Begeistert bei der einen Oper der unverblümte leidenschaftliche Effekt, so ist es bei der anderen die feingliedrige Subtilität, die man wie Gustav Mahler durchaus auch als Weiterentwicklung der musikalischen Sprache betrachten kann. Leider entging der Nachwelt diese Subtilität und was für Schätze in diesem Meisterwerk zu bergen wären. Nur ein kleiner Kreis an Wissenden kennt heute diesen übersehenen Stern am Opernhimmel und räumt ihm den Stellenwert ein, den er verdienen würde: Als chronologischer Meilenstein der italienischen Oper zwischen Verdis Spätwerk und Puccinis großen Erfolgen erkannt zu werden. So handelt es sich bei „L’amico Fritz“ zwar um vergessene, nicht aber um verlorene Musik, da sie auch heute noch durch ihre Ausdruckskraft Liebhaber tief zu ergreifen vermag, welche sich demütig und dankbar vor ihr verneigen.

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