Dienstag, 28. November 2017

"Williams - Symphonie, Shakespeare und Atombombe"


Wenn große Komponisten klassischer Symphonien genannt werden, so fallen rasch die klangvollsten Namen der Musikgeschichte. Gerade die Zahl Neun besitzt hierbei magische Bedeutung und ist untrennbar mit Beethoven, Bruckner, Dvorak und Mahler verbunden. Der englische Komponist Ralph Vaughan Williams (1872-1958) wird in dieser Reihe kaum genannt. Er schrieb jedoch nicht nur neun Symphonien, sondern zugleich einige der bedeutendsten und unergründlichsten des 20. Jahrhunderts. Gerade seine 6. Symphonie birgt ein Geheimnis, das über den zeitgeschichtlichen Kontext hinaus einen allumfassenden Anspruch erhebt und in seiner Rätselhaftigkeit ein einsames Meisterwerk darstellt.  



Ralph Vaughan Williams begann an der Komposition seiner 6. Symphonie kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu arbeiten und schloss diese im Jahre 1947 ab. Es handelt sich um sein düsterstes Werk voller Varianten an Dunkelheit und Dissonanz. Von finsterstem Aufbegehren und strahlendstem Leuchten bis hin zur bittersten Resignation beinhaltet dieses Werk alle Facetten des Ausdrucks und provoziert nahezu, interpretiert zu werden. Doch trotz vieler programmatischer Spekulationen seitens Hörerschaft und Kritik bestritt Vaughan Williams stets vehement die Symphonie mit den Schrecken des Krieges wie den Luftangriffen über England oder den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki in Verbindung gebracht zu haben. Folgende überlieferte Aussage von ihm scheint dies zu bestätigen: „It never seems to occur to people that a man might just want to write a piece of music.”  Diese Aussage ist freilich zu respektieren. Dennoch besteht dieses düster-kraftvolle halbstündige Werk, dessen vier Sätze nahtlos ineinander übergehen, aus derart vielen Anspielungen, dass eine Verarbeitung von Kriegstraumata doch sehr naheliegend, womöglich sogar zwingend scheint. Dennoch gilt dieses Werk als absolute Musik, das unabhängig seiner Entstehung und seines inneren Programms bestehen kann und erst durch die uneingeschränkte Interpretationsmöglichkeit seine wahre Größe erlangt.





Der erste Satz wirkt wie ein Sturz in unkontrolliertes Chaos und grenzt an Atonalität, da die Musik sich weder auf e-Moll noch auf f-Moll festlegen kann. Doch nicht nur harmonisch ist der Satz schwierig zu definieren, auch rhythmisch mag er sich nicht so recht deklarieren. Langsam bildet sich aus dem Chaos eine Melodie heraus, die in Minute 3:09 das erste Mal ganz (wenn auch noch etwas verhalten) Klang wird. Es ist eine erhabene kleine Melodie, die zu Williams  romantischsten Einfällen gehört. Doch schnell wird sie von der wieder dominierender werdenden Rhythmik des Satzes hinfort gerissen und erscheint auf fratzenhaft entstellte Weise als Variation des anschwellenden Orchesterklanges. Dieses Schauspiel wird bald von wilden Orchesterläufen unterbrochen, die den Satz harmonisch und rhythmisch wieder ins Chaos zu stürzen drohen. Es scheint wie ein Alptraum in finsterster Nacht, ein Ausdruck voll Panik und Terror. Doch so schnell dieser Abgrund erschienen ist, verschwindet er auch wieder: Ab Minute 5:50 geht der Schrecken in hymnische Sphären über und  die romantische Melodie von zuvor erklingt nun choralartig und himmlisch in ihrer reinsten Schönheit und in strahlendem E-Dur. Es wird einer der wenigen Lichtblicke sein, welche in die düstere Stimmung der Symphonie eindringen. Dafür wird dieser voll und ganz ausgekostet. Doch im erhabensten Moment, wo die Musik zu ihrem Höhepunkt zuzustreben scheint, bricht die Finsternis in Minute 7:13 wieder ein und das Thema des Chaos vom Anfang des Satzes tritt erneut auf, bevor die Musik fließend ohne Unterbrechung in die dunklen Abgründe des zweiten Satzes übergeht. 

Der zweite Satz beginnt in Minute 7:38 und wird von einem eigenartig diabolischen Grundmotiv geprägt („rat-a-tat“), welches in Werken von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) später als Ausdruck von Terror und Schrecken dienen soll. Das Motiv setzt nach einer Weile aus und es folgen Episoden, in denen Blechbläser auf dämonische Weise Dominanz gewinnen (ab 9:22) und von einem Klangteppich der Streicher verbunden werden, bis die Streicher selbst wie beschwörend und willenlos den dämonischen Ausdruck der Blechbläser übernehmen (ab 10:29). Eine unheimliche, jenseitig-entrückte Stimmung stellt sich ein. Das dämonische Motiv erscheint noch weitere Male in dieser entrückten Atmosphäre, bis das Grundmotiv des Satzes („rat-a-tat“) wieder zum bestimmenden Element wird (ab 12:43). Die Musik gewinnt immer mehr an Spannung und staut sich zu einem gigantischen Höhepunkt, einer Art Apokalypse, auf, die sich ab Minute 14:42 entlädt. Es folgt mit voller Kraft des Orchesters Eskalation und Kollaps zugleich. Dies geschieht über ein Leitmotiv von Richard Wagner (1813-1883). Es handelt sich um das „Rheingold“-Motiv aus seinem Opus Magnum „Der Ring des Nibelungen“ und ist in Vaughan Williams Kontext wohl als Luftkrieg-Terror von Nazi-Deutschland gegen England zu begreifen. Hier gewinnt der Wahnsinn des Krieges musikalischen Ausdruck und bricht kurz darauf erschöpft in sich zusammen, worauf das Grundmotiv des Satzes („rat-a-tat“) in sich erstirbt. Ein lamentierendes, trauerndes Saxophon schließt diesen spannungsgeladenen, abgründigen Satz, als wollte es seine Klage und Ohnmacht angesichts des Schreckens kundtun.        

In Minute 16:38 schließt nahtlos der dritte Satz der Symphonie an. Es handelt sich um ein wildes, furioses Scherzo, das harmonisch stark von einem Intervall namens Tritonus, welches wegen seiner Dissonanz als „diabolus in musica“ („Teufel in der Musik“) genannt wird, geprägt ist. Das Trio des Scherzos (ab Minute 18:21) wird vom Saxophon eingeleitet und bringt Jazz-Anklänge mit sich. Diese sollen eine Reminiszenz an eine Jazz-Band sein, welche im Nachtclub Café de Paris in London bei einem deutschen Bombardement ums Leben gekommen war. Das Hauptthema des Scherzos übernimmt kurz darauf erneut die Führung, bevor die Musik nahtlos in eine der mysteriösesten und geheimnisvollsten Orchesterpassagen in der Musikgeschichte übergeht, dem Finale von Williams 6. Symphonie:  

Bei dem Finale (ab 22:51) handelt es sich um einen Epilog der Erstarrung, um ein vage fugales Konstrukt, das zur Gänze im Pianissimo ohne Crescendo und Ausdruck gespielt werden muss und nach zehn Minuten in aller Stille endgültig zum Erliegen kommt. Der gesamte Satz verläuft als fahler Anti-Klimax in Form einer düsteren, eindringlich kreisenden Meditation ohne Ziel. Vielfach wurde spekuliert, was Vaughan Williams damit sagen wollte: Von der Beschreibung der Einsamkeit des modernen Menschen über die Vergänglichkeit des Seins bis hin zum Stillstehen der Zeit in einem Szenario des nuklearen Holocaust nach Abwurf einer Atombombe bietet dieser entrückte Satz jegliche Möglichkeit der Interpretation. Es ist ein stilles Meisterwerk, das durch seine Unergründbarkeit an Tiefe gewinnt und Zeitlosigkeit erlangt.  

Gegen Ende von Vaughan Williams Leben wurde dieser im Jahre 1956 noch einmal über die Bedeutung dieses mysteriösen, rätselhaften Finales befragt. Er ließ sich zu nicht minder geheimnisvollen Aussagen hinreißen: Es sei „ein agnostischer Lobgesang des Simeon“ („an agnostic Nunc dimittis“) und basiere auf Prosperos Worten im IV. Akt von William Shakespeares (1564-1616) spätem Meisterwerk „Der Sturm“ (“The Tempest”): „We are such stuff as dreams are made on; and our little life is rounded with a sleep.“  

Wenn wir uns den so berühmten Satz im Kontext von Prosperos Gesagtem vergegenwärtigen, bekommen diese Worte eine gewichtige Bedeutung, die so mancher Interpretation nicht nur Auftrieb, sondern ein Fundament geben dürfte:

“Our revels now are ended. These our actors,
As I foretold you, were all spirits, and
Are melted into air, into thin air:
And like the baseless fabric of this vision,
The cloud-capp'd tow'rs, the gorgeous palaces,
The solemn temples, the great globe itself,
Yea, all which it inherit, shall dissolve,
And, like this insubstantial pageant faded,
Leave not a rack behind. We are such stuff
As dreams are made on; and our little life
Is rounded with a sleep.”

Shakespeare, “The Tempest”, Act IV, Scene I

“Die Zauber sind vorbei. Da unsre Mimen,
Wie ich dir sagte, waren alle Geister und
Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft;
Und, wie dies körperlose Traumgewebe, so
Die wolkenhohen Türme, die Paläste,
Die stillen Tempel, selbst der Erdenball,
Ja, was ihm nur teilhat, wird zerfließen,

Und, wie dies wesenlose Schauspiel schwand,
Vergehen ohne Spur. Wir sind vom Stoff,
Aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben

Beginnt und schließt ein Schlaf.”

Übersetzung: Frank Günther


Und nachdem wir diese Worte gelesen, die Musik gehört haben und alles sich in Luft aufgelöst hat oder zerflossen ist, sind wir möglicherweise dem Rätsel näher gekommen, nicht aber der Lösung …