Samstag, 16. November 2019

"John Lennon - Neue Wege"


Vor 50 Jahren sandte John Lennon den von der Queen verliehenen Ritterorden aus Protest gegen die britische Außenpolitik zurück. Ein Tabubruch! Doch der eigentliche Tabubruch befand sich bereits in den britischen Charts: Lennons erste Solo-Single nach Trennung der Beatles.


Der Herbst 1969 bedeutete im Leben von John Lennon (1940-1980) einen Wendepunkt: Er teilte im September den Beatles mit, diese zu verlassen, veröffentlichte im Oktober eine Solo-Single über Heroinentzug, und hob im November seinen politischen Aktivismus in neue Dimensionen. Die Trennung von jener Band, mit der er in den 60ern eine beispiellose Karriere gemacht hatte, führte zu einem kreativen Ausbruch in seinem Schaffen und politischen Engagement, der seinen weiteren Lebensweg genauso wie sein musikalisches Erbe nachhaltig prägen soll.

Der politische Aktivismus im November und die Single-Veröffentlichung im Oktober sind voneinander nicht zu trennen, da sie zum einen gesellschaftspolitische Tabus auf unterschiedlichen Ebenen brachen und zum anderen John Lennon selbst beide Ereignisse miteinander verschränkte. Am 26. November schickte er den von der Queen 1965 an alle Beatles verliehenen Ritterorden fünfter Stufe („Member of the British Empire“, MBE) zurück. Begleitet wurde dies von zwei identen Schreiben an den Buckingham Palace sowie den britischen Premierminister in der Downing Street 10. Lennon führte hierbei drei Gründe für die Rückgabe an, zwei davon außenpolitischer Natur: Ihm missfiel sowohl die Beteiligung Großbritanniens am Bürgerkrieg in Nigeria, einem ehemaligen Kolonialgebiet des Empires, als auch die passive Haltung gegenüber dem eskalierenden Vietnamkrieg der USA. Diese pazifistische Einstellung Lennons verwunderte nicht weiter, hatte er doch bereits wenige Monate zuvor mit friedlichen Protesten vom Bett aus (den „Bed-Ins for Peace“ mit seiner Ehefrau Yoko Ono) sowie der Aufnahme der Anti-Kriegs-Hymne „Give Peace a Chance“ (bezeichnenderweise im „Queen Elizabeth Hotel“ in Montreal) international für Aufregung gesorgt.



Der dritte Grund für die Rückgabe des Ordens war jedoch persönlich und kokett: Es war das Abrutschen seiner im Oktober veröffentlichten Solo-Single in den britischen Charts. Es handelte sich um den Song „Cold Turkey“. Dieser Song ist sowohl inhaltlich wie musikalisch ein Meilenstein. Inhaltlich verarbeitet Lennon ein heikles Thema, das bei den Beatles nicht derart offensiv behandelt hätte werden können: seinen „kalten Entzug“ (so die freie Übersetzung des Titels) von Heroin und die damit verbundenen Qualen. Er beschreibt hierbei mit hoher Intensität und medizinischer Genauigkeit die physischen wie psychischen Begleiterscheinungen, die mit dem Drogenentzug einhergehen. Symptome wie Fieber, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, Schüttelfrost und äußerste Nervenreizung werden in stark rhythmisierte Musik gegossen, die dem Hardrock mit psychedelischen Einflüssen zugeordnet werden kann. Das verstörend aggressive Gitarrenspiel, der pulsierende Bass, das Herzschlag simulierende Schlagzeug sowie Lennons expressiver Gesang, der zum Ende hin im qualvollen Crescendo in psychotisch ekstatischen Schmerzensschreie endet, während immer neu hinzukommende verzerrte Gitarrenspuren die auftretenden Wahnvorstellungen imitieren, führen dem Publikum das nackte Leid eines im Entzug befindlichen Drogenabhängigen unmittelbar vor Augen.



Die schonungslose Thematisierung von Drogenproblemen eines führenden Musikers seiner Zeit war ein radikaler Schritt und führte zum Boykott des Songs von zahlreichen Radiosendern. (Kalmierende Interpretationsversuche, dass Lennon lediglich eine Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr eines „kalten Truthahns“ beschreibe, waren wenig überzeugend.) Dieser kompromisslose Realismus wäre bei den Beatles nicht möglich gewesen, obgleich Drogenkonsum sehr wohl Einfluss auf ihr Schaffen hatte. Doch dieser kam immer nur indirekt, chiffriert und etwas verbrämt zum Ausdruck. So war dies bereits im Lennon-Song „Tomorrow Never Knows“ des richtungsweisenden Beatles-Albums „Revolver“ aus dem Jahre 1966 der Fall. Hier verarbeitete Lennon inhaltlich die Lektüre des Buches „The Psychedelic Experience“ des umstrittenen amerikanischen Psychologen Timothy Leary, der durch seine Forderung nach Liberalisierung von LSD zu therapeutischen Zwecken zum Idol der Hippie-Bewegung wurde. Lennon bezog sich textlich stark auf Learys Buch, welches wiederum vom „Bardo Thödröl“ („Tibetisches Totenbuch“) und von Transzendentalphilosophie im Allgemeinen beeinflusst wurde. So können Passagen des Liedes schon fast wie eine Gebrauchsanweisung zu einer psychedelischen Erfahrung verstanden werden: „Turn off your mind, relax and float downstream, it is not dying“ oder „Lay down your thoughts and surrender to the void, it is shining“. Musikalisch gab Lennon dem Produzenten (entsprechend Learys tibetischer Quelle) die Anweisung, dass ihm ein ätherischer Sound vorschwebe, als sänge der Dalai Lama von Berggipfel im Himalaja. Dies wurde bewerkstelligt, indem Lennons Stimme mit Hall versehen und durch Flanging-Effekte verzerrt wurde. Der Gesang wurde durch Bass- und Schlagzeugloops sowie rückwärts laufende Tonbandschleifen begleitet, sodass eine entrückte Atmosphäre entstand, als spräche ein Mystiker in Trance zu seinen Anhängern.



Doch „Tomorrow Never Knows“ war bei Weitem nicht der einzige Beatles-Song, der mögliche Drogenbezüge aufwies. Auch anderen Beiträgen (speziell von John Lennon) wie das kalaidoskopartige „Lucy in the Sky with Diamonds“ (1967), das psychedelisch entrückte „I Am the Walrus“ (1967) oder das vielschichtige „Happiness Is a Warm Gun“ (1968, mit der Zeile „I need a fix ´cause I‘m going down“) wurden immer wieder Anspielungen auf Drogenkonsum nachgesagt (was vom Komponisten zu dieser Zeit vehement bestritten wurde).



Dieses Verstellspiel war nach der Loslösung von den Beatles vorbei. Lennon brauchte nun auf kein Bandimage mehr Rücksicht nehmen und konnte kompromisslos sein inneres Empfinden und seine persönlichen Ansichten nach außen tragen. In dieser Hinsicht war „Cold Turkey“ im Oktober 1969 eine Art „Coming-out“, ein Befreiungsschlag eines Künstlers zu neuer Sachlichkeit. Und diese verband er zeitgleich mit seinem politischen Engagement, da für ihn das eine das andere bedingte. Aus diesem Grunde wurde die Protestaktion im November (die Rückgabe des Ritterordens an die Queen) argumentativ mit seinem Bekenntniswerk „Cold Turkey“ verwoben. Seine Musik würde künftig von seinen Überzeugungen und Bekenntnissen nicht länger zu trennen sein. Der politische Mensch und der Künstler wurden eins. Und genau dieser neuen Linie sollte Lennon die nächsten Jahre treu bleiben. So schrieb er parallel zu seinem gesellschaftspolitischen Engagement gleichzeitig Musikgeschichte.

Die nächste politisch motivierte Aktion in Form einer Antikriegs-Kampagne folgte bereits im Dezember 1969, bei welcher John Lennon und Yoko Ono an städtischen Knotenpunkten rund um die Welt (wie dem Times Square in New York) ihre Weihnachtsbotschaft auf großen weißen Werbeflächen verkündeten: „WAR IS OVER! If you want it.“ Diesen Appell zum Weltfrieden, der sowohl an die Politik als auch an jeden einzelnen Menschen selbst gerichtet war, verwertete Lennon zwei Jahre späte in seinem bewegenden Protestlied „Happy Xmas (War is over)“ (1971), in welchem der Slogan von Kindern des „Harlem Community Choir“ intoniert wurde und so zur erhebenden, mehrstimmigen Gestaltung des Liedes beitrug.



In dieser Geisteshaltung, die an die Vorstellungskraft der Menschen für eine Zukunft ohne Krieg appelliert, entstand im gleichen Jahr wie „Happy Xmas (War is over)“ auch Lennons berühmtestes und meistgespieltes Solowerk „Imagine“, in welchem eine utopische Welt ohne Grenzen, Hass, Eigentum und Religion erträumt wurde.



Doch auch in anderen Liedern floss Lennons politisches Engagement ein. So zum Beispiel in seinem schonungslos gesellschaftskritischen Folk-Song „Working Class Hero“ (1970), seiner Solidarisierungshymne mit der Arbeiter- und Frauenbewegung „Power to the People“ (1971) oder dem bitter-sarkastischen, antibritischen Beitrag zum Nordirland-Konflikt „The Luck of the Irish“ (1972). All diese radikalen, hochpolitischen Werke wären als Mitglied der Beatles undenkbar gewesen. (Ein erster politischer Vorstoß bei den Beatles mit dem Lied „Revolution“ im Jahr 1968 war inhaltlich vergleichsweise harmlos.)



Doch auch musikalisch beschritt Lennon durch die Veröffentlichung von „Cold Turkey“ neue Wege, die Einfluss auf sein weiteres Werk hatten. Der finstere Ton, der pulsierend getriebene Bass und der abgründige Text fanden in Kompositionen wie „I found out“ (1970), in welchem er mit vermeintlichen Allheilmitteln wie Selbstliebe, Religion oder Drogen gnadenlos abrechnete, ihre Fortsetzung.



Auch im Song „Well Well Well“ (1970) ist ein Herzschlag simulierendes Schlagzeug neben einem sehr dominanten, verkrampft wirkenden Gitarrensound vertreten. Gerade die Behandlung des Gitarrenparts wurde oft als Vorwegnahme des Grunge, welcher erst 20 Jahre später durch „Nirvana“ rund um Kurt Cobain (1967-1994) die Weltbühne betreten sollte, gedeutet. Auch Lennons ekstatisch entfesseltes Schreien in der Mitte des Liedes gab dem Vergleich mit Cobains Stil Auftrieb.



Doch unabhängig der Nähe zum Grunge können sowohl „Could Turkey“, „I found out“ als auch „Well Well Well“ bereits als richtungsweisend für die Entwicklung des Punk Rock der 70er angesehen werden, da sie den Weg zum harten Sound von Bands wie den „Sex Pistols“ bahnten.

Auf diese Weise kann John Lennon nicht nur als großer Komponist von Bekenntniswerken und Protestliedern gesehen werden, sondern auch als Wegbereiter und Inspirationsquelle für nachfolgende Generationen. Er begann seine Solokarriere vor 50 Jahren mit zwei Tabubrüchen. Seine Musik war von seinen Überzeugungen fortan nicht mehr zu trennen. Vielleicht liegt gerade darin deren Kraft, die bis heute ungebrochen ist.





Mittwoch, 13. November 2019

"Béla Bartók – Progressive Klassik"


In Béla Bartóks Werk vereinen sich historisches Bewusstsein und zukunftsweisender Anspruch zu einer einzigartigen Symbiose. Selbst als Musikethnologe tätig und die überlieferte Volksmusik im südosteuropäischen Raum eifrig studierend, gelangte er als Komponist zu neuen Ausdrucksformen einer radikalen Klangsprache. Diese ließ ihn nicht nur zu einem der wichtigsten Vertreter der Moderne werden, sondern gar zum stilbildenden Vordenker unkonventioneller Musikrichtungen wie „Progressive Rock“.


1. Hintergrund

Béla Bartóks (1881-1945) Leidenschaft galt abseits der eigenen Komposition dem systematischen Sammeln und Studieren von Volksliedern aus unterschiedlichen Regionen wie Ungarn, Rumänien oder dem vorderen Orient. Diese Beschäftigung führte zum Erkennen einer übergeordneten rhythmisch-metrischen Natur der Folklore, welche sich auf einzelne Nationen nicht mehr eingrenzen ließ. Von diesem Wissen einer archaischen Grundnatur unterschiedlicher musikalischer Traditionen blieb Bartóks eigenes Werk nicht unbeeinflusst. Doch anstatt sich folkloristischen Wendungen schablonenhaft zu bedienen, um daraus volkstümliche Kunstmusik zu schaffen, wie es Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen Komponisten populär war, absorbierte Bartók den musikalischen Ausdruck, welcher in der Folklore verborgen lag, um ein vollkommen neues, autonomes Werk zu schöpfen. Bartók verwandelte folkloristische Wendungen zu schöpferischen Keimzellen seines eigenen Schaffens.

Die Verinnerlichung der Grundnatur des musikalischen Volksgutes bedeutete für Bartóks Werk radikale Konsequenzen wie die freie Handhabung rhythmischer Gebilde und Taktwechsel, den Gebrauch dissonanter, perkussionsartiger Klangakzente, rigorose kontrapunktische Führung und letzten Endes die Überwindung des Dur-Moll-Systems. Bartóks Kompositionen werden neue harmonische Kombinationen unter Berufung auf alte Tonskalen (wie Kirchentonleiter oder noch ältere überlieferte Tonreihen) erschließen und zur freien Verfügung über jeden einzelnen Ton des chromatischen Zwölftonsystems führen, ohne das tonale Zentrum aufzugeben. Die dynamische Spannung wird durch die Anwendung vielgestaltiger, komplizierter Rhythmik gewonnen, die martialische Klangeffekte nicht scheut. Auf diese Weise gelingt Bartók die Schöpfung neuzeitlicher Musik, die von ihren archaischen Wurzeln her zu begreifen ist.

Doch nicht nur die Beschäftigung mit Folklore bewirkte einen maßgebenden Einfluss auf Bartóks Werk, sondern auch die Musik großer Meister vergangener Epochen. So lernte er bei Johann Sebastian Bach (1685-1750) die transzendentale Bedeutung des Kontrapunkts und bei Claude Debussy (1862-1918) jene der Harmonik, welche durch Fusion mit exotischer Musik zu neuen, schwebenden Klangidealen gelang, kennen. Auch die Beschäftigung mit Ludwig van Beethoven (1770-1827) war essenziell für die Bartóks Entwicklung. War es doch Beethoven, welcher in seinem Spätwerk die Möglichkeit zur progressiven Form (man denke an die Diabelli-Variationen, die „Große Fuge“ oder die Finalsätze der 32. Klaviersonate und 9. Symphonie) erschloss, mit welcher er überlieferte Formen sprengte und mit harmonischen Extravaganzen musikalische Stile des 20.Jahrhunderts fast hundert Jahre vorwegnahm. Was dem ertaubten, vereinsamten Beethoven in seinem Spätwerk frei nach dem Motto „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt“ (Goethe, Werther) gelang, war bahnbrechend und erschütterte die Musikgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein, sodass auch Bartók davon nicht unbeeinflusst blieb und daran anschließen konnte.

Das Erbe dieser drei Meister (Bach, Beethoven und Debussy) verband Bartók mit seinem Wissen über die musikalische Grundnatur der Folklore und schuf damit etwas Neues, zuvor noch nie Dagewesenes: Er schuf eine tragfähige Synthese aus uraltem Musikgut (als Quelle von Urmusik) mit der verfeinerten abendländischen Musikkultur. Diese Errungenschaft sollte wiederum auf nachfolgende Generationen (auch abseits der klassischen Musik) erheblichen Einfluss haben.

2. Werkbeispiele

Eines der ersten Werke, das bereits vollends Bartóks eigene Klangsprache aufweist, ist das „Allegro barbaro“ für Klavier aus dem Jahre 1911. Die Namensgebung ist einerseits eine Anspielung auf Bartóks Kritiker, die nicht müde wurden, seine Kompositionsweise als barbarisch zu bezeichnen, andererseits ist der Titel ein Verweis auf die Ursprünglichkeit der Musik. Hier verschmelzen traditionelle Volksklänge mit moderner Harmonik zu einer ungeheuren rhythmischen Gewalt, die das Klavier zu einem martialischen Schlagwerk zu verwandeln scheint. Die markante Rhythmik trägt eine einfache Melodie, die reibungsvolle Dissonanzen unter ständigen dynamischen Veränderungen und wilden Ostinati in Form von repetierender Motorik durchwandern muss, wodurch ein hoher Grad an Spannung sowie eine Atmosphäre der Verrohung, der Barbarei erzeugt wird. Darüber hinaus ist das Werk bitonal angelegt, sodass ein ständiger Kampf der vorhandenen Tonelemente gegeneinander austragen wird, der sich mit dem überlieferten Dur-Moll-System kaum mehr fassen lässt.



Doch dieses „Allegro barbaro“ sollte erst den Beginn von Bartóks Weg darstellen, den er konsequenten weiterverfolgen wird. Sein kompromisslosestes und vielleicht modernstes Werk ist die einaktige Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“, die nach einem Skandal bei der Uraufführung in Köln 1925 (wo das empörte Publikum zu randalieren begann und eine Diffamierungskampagne gegen den Komponisten folgte, worauf der damalige Kölner Oberbürgermeister und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer das Werk wegen seines unmoralischen Inhalts vom Spielplan nehmen ließ) von Bartók zu einer Konzertsuite umgearbeitet wurde. Die delikate Handlung wurde von Bartók selbst zusammengefasst:

„In einem ärmlichen Vorstadtzimmer zwingen drei Strolche ein Mädchen, Männer, die ausgeraubt werden sollen, von der Straße heraufzulocken. Ein schäbiger Kavalier und ein schüchterner Jüngling, die sich anlocken lassen, werden als arme Schlucker hinausgeworfen. Der dritte Gast ist der unheimliche Mandarin. Das Mädchen sucht seine angsterregende Starrheit durch einen Tanz zu lösen, aber da er sie ängstlich umfängt, flieht sie schaudernd vor ihm. Nach wilder Jagd holt er sie ein, da stürzen die Strolche aus ihrem Versteck, plündern ihn aus und versuchen, ihn unter Kissen zu ersticken. Aber er erhebt sich und blickt sehnsüchtig nach dem Mädchen. Da durchbohren sie ihn mit dem Schwert: er wankt, aber seine Sehnsucht ist stärker als die Wunden: er stürzt sich auf das Mädchen. Da hängen sie ihn auf: aber er kann nicht sterben. Erst als man den Körper herabgenommen und das Mädchen ihn in die Arme genommen hat, fangen seine Wunden an zu bluten und er stirbt.“ 

Die Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“ ist ein formales Ungetüm, dessen erste strukturelle Entsprechungen möglicherweise zum späten Beethoven führen und als progressive symphonische Dichtung gelten kann. Am ehesten kann man die Suite einem musikalischen, ja „barbarischen“ Expressionismus zuordnen, der keine Rücksicht mehr auf sein Publikum nimmt. Geprägt ist dieses Werk von aggressiver Motorik, atonaler Klangballungen, wilder Ausdrucksgebärden, oszillierend-impressionistischer Klangfarben und ungezügelter Verwendung schriller Dissonanzen. Dennoch finden sich in dieser Suite auch lyrische Intermezzi, welche anhand der unterschiedlichen Klangfarben den Lockungen der Freier zugeordnet werden können, die Beibehaltung tonaler Schwerpunkte sowie Anleihen von tradierten Tanzstilen wie Marsch und Walzer. Es handelt sich bei diesem Werk um einen Meilenstein der modernen Musikgeschichte, der seine (auch volkstümlichen) Ursprünge eben sowenig verleugnet wie seinen selbstsicheren Anspruch, das Tor in die Zukunft weit aufzustoßen. 



Eines der bedeutendsten und gleichzeitig populärsten Werke Bartóks ist seine „Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug“ aus dem Jahre 1937. Diese exotische Zusammensetzung von Instrumenten ist der Steigerung und Akzentuierung des Klavierklangs geschuldet, um den durch Anschlag erzeugten Ton in all seinen Sphären vollends zu würdigen. Das Schlagzeug (bestehend aus Pauken, Trommeln, Becken, Triangel und Xylophon) wird so zum gleichberechtigten Partner der Klaviere, der nicht nur die rhythmischen Besonderheiten der Komposition hervorhebt, sondern auch Motive kontrapunktisch mitträgt, sodass es als stützenden Säule zur Melodiebildung beiträgt. Bartók gelingt auf diese unkonventionelle Weise eine Klangfülle, die nie zum Lärm als Selbstzweck verkommt, sondern kristallklar eine musikalische Substanz zu Tage fördert, deren archaische Rhythmik und progressive Harmonik durch eine meisterhafte Konstruktion kontrolliert und gebändigt wurden. 

Der erste Satz des Werkes, welcher in modifizierter Sonatenhauptsatzform steht, beginnt mit einer düsteren Einleitung, die eine brütend-expressive Stimmung erzeugt, welche künftig auch die Filmindustrie atmosphärisch für sich zu verwenden weiß. In dieser Einleitung erlebt das Themenmaterial ein unheimliches Crescendo, sodass es nach dem dunklen, ruhigen Beginn, zu einem wilden Hämmern anschwillt, wo nur noch rohe Rhythmik in ihrem Naturzustand zu herrschen scheint. Nach einem kurzen dynamischen Wechselspiel von Rücknahme und Beschleunigung mündet die Einleitung direkt in das Hauptthema des Allegros des Sonatenhauptsatzes. An diesem können unschwer Anklänge des „Allegro barabro“ erkannt werden, welche aber nun dynamisch und kontrapunktisch viel weitergeführt werden. Es setzt eine rastlose Jagd von wilden Ostinati und getriebener Motorik ein, die erst durch Einsetzen eines etwas ruhigeren zweiten Themas abklingt. Ein drittes Thema bringt eine sehr starke Rhythmisierung ins Spiel, die „swingig“ anmutet, als wollte Bartók dort anknüpfen, wo Beethoven in seinem Spätwerk, in welchem er Musikstilen wie Swing, Ragtime oder Boogie-Woogie vorwegnahm, geendet hatte. Nach kurzer Durchführung setzt in der Reprise das Hauptthema wieder ein, welches von machtvoller Rhythmik in Form von repetierender, maschinell wirkender Motorik getragen wird und unerbittlich dem ungeheuren Höhepunkt des Satzes zusteuert, wo alle Themen ineinander kulminieren. Nach diesem Ballungszentrum musikalischer Expressivität, das kaum seinesgleichen in der Musikgeschichte besitzt, ebbt die Klangintensität ab. Doch damit ist der Satz noch nicht zu Ende. Bartók gestaltet die Coda zu einem weiteren Höhepunkt, indem er das dritte, swingende Thema in einer Fuge verarbeitet. Hier finden Beethovens Pioniergeist, Bachs kontrapunktische Meisterschaft und Bartóks Verständnis für Musik zu neuem Ausdruck, zu einer Katharsis, die all das Wissen von überlieferter Musik in die Schöpfung eines neuen, modernen, autonomen Kunstwerkes zu kanalisieren weiß. 


3. Wirkungsgeschichte

Bartóks fundiertes historisches Wissen und seine unermüdliche Suche nach neuen Ausdrucksmitteln haben – die musikalischen Entwicklungen vergangener Zeiten überblickend – zu etwas Neuem von zeitloser Beständigkeit geführt, das folgende Generationen an Komponisten genreübergreifend beschäftigten musste. So wurde zum Beispiel Bartóks ungarischer Landsmann György Ligeti (1923-2006) in dessen Frühwerk stark vom älteren Meister beeinflusst, wie sich in der Klavierstücksammlung „Musica ricercata“ (1951-53), von denen ein Werk mit „Béla Bartók in Memoriam“ überschrieben wurde, erkennen lässt. 


Doch auch in einzelnen Werken aus Ligetis späterer Zeit bleibt Bartóks Einfluss präsent. Dies lässt sich in der 13. Etüde für Klavier mit dem Titel „L‘escalier du diable“ („Die Teufelsleiter“) aus der zweiten Etüdensammlung (1988-94) erkennen, in welcher Bartóks getriebene Motorik virtuos und eindrucksvoll in Form einer polymetrischen Toccata heraufbeschworen wird.


Ein weiterer Komponist, der stark von Bartók beeinflusst wurde, war der Argentinier Alberto Ginastera (1916-1983), der Rhythmen der südamerikanischen Folklore mit Harmonik der klassischen Musik verband. Seine erste Klaviersonate (1952) lebt von rhythmischer Prägnanz, raschen Taktwechsel, freier Tonalität und einer getriebenen Motorik, die sowohl den Reiz des Werkes ausmachen als auch auf dessen Ursprünge verweisen. 



Doch nicht nur in der klassischen Musik machten Bartóks progressive Errungenschaften Schule. Seine Wirkungsgeschichte floss auch in unterschiedlichste Gattungen der modernen Musik ein. So war das Erbe seines Werks auch bei einem der größten Umbrüche der Populärkultur vor rund 50 Jahren präsent und impulsverleihend, bei der Entwicklung des „Progressive Rock“. Die Musikrichtung des „Progressive Rock“ griff (ähnlich wie Bartóks Spurensuche in der Folklore nach der Urnatur der Musik) Wurzeln populärer Genres wie Blues, Jazz, Rock ‘n‘ Roll, Popmusik und psychedelsichen Rock auf und ergänzte diese mit Kompositionsweisen, Formprinzipien, Instrumentierungen und harmonischen Grundlagen der klassischen Musik. Was dabei entstand, war eine neues, synkretisch-allumfassendes Genre, das sich ohne Scheuklappen komplexer Musik näherte und bediente, um selbst etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. In dieser Geisteshaltung war Bartók ein sehr dankbares Vorbild. Doch auch musikalisch konnte er diesen Umbruch der Populärkultur befruchten und intensivieren. 

Pioniere des „Progressive Rock“ war zum Beispiel die britische Band „Emerson, Lake & Palmer“ (ELP). ELP wurde vor 50 Jahren 1970 gegründet und formierte sich rund um die namensgebenden Musiker Keith Emerson (1944-2016), Greg Lake (1947-2016) und Carl Palmer (*1950). (Wäre Jimi Hendrix nicht vor ebenso 50 Jahren plötzlich verstorben, hätte die Band ein weiteres Gründungsmitglied und als Bandnamen die Abkürzung „HELP“ erhalten.) Der Musikstil der Band wurde neben Einflüssen aus dem Blues und dem Jazz sehr stark von klassischer Musik geprägt. Besonders der Pianist und Keyboarder der Band, Keith Emerson, forcierte die Entwicklung in diese Richtung und scheute nicht davor zurück, auch etablierte klassische Werke neu zu arrangieren und in Gestalt des „Progressive Rock“ aufzuführen. So kam es, dass der erste Track ihres Debütalbums (sozusagen als Visitenkarte der Band) eine Hommage an jenen Komponisten war, dessen Kompromisslosigkeit im Beschreiten neuer Wege Emersons tief beeindruckt hatte, nämlich Béla Bartók. Daher stellte sich die Band auf ihrem ersten Album mit einer Bearbeitung des „Allegro barbaro“ vor, das auch in seiner neuen Gestalt mit dem Titel „The Barbarian“ nichts von der rhythmischen Wildheit und aggressiven Getriebenheit des Originals verloren hat. Bartóks „barbarische“ Komposition verhalf somit dieser jungen Gattung der Rockmusik zu ersten, ungeahnten Höhen und erschloss sowohl ELP als auch Bartók selbst neues Publikum. 



Doch mit der reinen Bearbeitung klassischer Werke im progressiven Stil gab sich ELP nicht zufrieden. Die Band wollte auch mit progressiven Eigenkompositionen glänzen, die ihre klassischen Wurzeln nicht verleugnen. Dies gelang ELP in ihrem nächsten Album „Tarkus“ (1971), wo der Titeltrack eine 20minütige, monumentale Rocksuite ist, die zum Bedeutendsten aus dem Schaffen von ELP gehört, und zum Meilenstein des „Progressive Rock“ wurde. Es handelt sich hierbei um eine monströse Konstruktion, die möglicherweise sowohl formal als auch harmonisch ihren Vorläufer in Bartóks radikaler Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“ finden kann. „Tarkus“ wird strukturell von einem Präludium (mit dem Titel „Eruption“) und einem Postludiom umklammert, die auf demselben Themenmaterial basieren. Dazwischen befinden sich drei voneinander unabhängige Intermezzi im Stile des Hardrocks, welche mit den Motiven des Präludiums verbunden werden. Das musikalische Material des Präludiums führt also thematisch durch das gesamte Werk und kann als Leitmotiv betrachtet werden, das die gesamte Komposition zu einem organischen Gesamtkunstwerk macht. 

Bevor auf die klanglichen Eigenheiten des Präludiums eingegangen wird, ist es wichtig zu klären, was denn eigentlich ein „Tarkus“ ist. Es handelt sich hierbei um ein fiktives Wesen, das halb Panzer (Tank) und halb Gürteltier ist. Möglicherweise dient diese Eigenart als systemkritisches Symbol gegen die aufkommende Technisierung und die einhergehende Zerstörung von Kultur in einer totalitärer werdenden Industriegesellschaft, wo Kunstsinn und Menschlichkeit wie von einem Panzer niedergewalzt werden. In dieser Betrachtung liegt bereits der Schlüssel zur Musik: Ein Panzer ist ein kettengetriebenes Fahrzeug, das sein Fortkommen der repetierenden Bewegung seiner Laufrolle verdankt. Diese Bewegung lässt sich musikalisch durch Ostinati in Form einer kreisenden Motorik darstellen. Darüber hinaus muss ein Panzer durch aggressiv-akzentuierte Rhythmik markant dargestellt werden, um ihn ohne Zweifel als einsatzfähiges Kriegsgerät auszuweisen. Und zu guter Letzt muss seine Robustheit und Geländegängigkeit unter Beweis gestellt werden. Dies gelingt am besten durch viele plötzliche Taktwechsel und aufkommende Dissonanzen, welche der getriebenen Motorik dennoch keinen dauerhaften Abbruch tun. Die Zutaten all dieser Anforderungen fand ELP bereits vollends ausgeprägt im Schaffen Béla Bartóks und brachte diese sehr souverän und virtuos im Stile des „Progressive Rock“ zur Anwendung. So kann der visionäre Vordenker Bartók völlig zu Recht als Pate der einleitenden „Eruption“ gelten, welche das Leitmotiv einer der größten und einflussreichsten Rocksuiten der Musikgeschichte bildet. 



Doch auch viele weitere Vertreter des „Progressive Rock“ haben sich Elemente von Bartóks Musik einverleibt und auf ihre eigene Weise Ausdruck verliehen. Als Beispiele seien zwei der führenden progressiven Bands Italiens Anfang der 70er Jahre angeführt. Die erste ist Premiata Forneria Marconi (PFM), welche im Track „Generale!“ ihres Albums „Per un amico“ (1972) auf originelle Weise Bartóksche Motorik mit Blues- und Rocknoten zu einem neuen Ganzen verbinden. 


Die andere Band ist „Banco della mutuo socorsso“, deren Konzeptalbum „Darwin!“ (1972) von der Entstehung der Erde und der Evolution des Menschen handelt. In der Komposition „La conquista della posizione eretta“ („Die Eroberung der aufrechten Haltung“) vereinen sich sowohl harte, „barbarische“ Klänge aus einer archaischen Vorzeit als auch die repetierende, treibende Figur des Klaviers, die auf das allmähliche Fortkommen durch evolutionäre Entwicklung hinweist. Darüber hinaus lässt die Band auch das melodische Element der italienischen Operntradition gepaart mit psychedelischen Effekten nicht außer Acht und gelangt so zu einer ganz eigenen Auslegung von „Progressive Rock“. 


Béla Bartók, der große Spurensucher und Ethnologe der Musikgeschichte, hat selbst darauf hingewiesen, dass es in der Kunst nur schnelle oder langsame Entwicklungen gebe. Kunst sei im Wesentlichen eine Angelegenheit von Evolution und nicht von Revolution. So war auch seine eigene Musik zu verstehen, die im vollen Bewusstsein des historischen Kontextes nach neuen Ausdrucksformen strebte und diese letztlich fand. Dass hinsichtlich der Entwicklung des „Progressive Rocks“ nun wiederum Bartóks eigene Musik in einen historischen Kontext gestellt wurde, woraus etwas Neues entstand, konnte folglich nur in seinem Sinne sein. Die Quelle der Urmusik, auf die Bartók gestoßen war, lebt so auch in anderen Genres fort und macht das weite Feld der Musik nur umso vielseitiger und reicher.




 

Montag, 7. Oktober 2019

"Charles Baudelaire - Nachtgedanken zu Wein"

(K.K. und T.S. in Paris in tiefer Dankbarkeit gewidmet)


„Tiefe Freuden des Weins, wer hat euch nicht gekannt? Jeder, der jemals Gewissensbisse beschwichtigen, eine Erinnerung heraufbeschwören, einen Kummer ertränken, ein Luftschloss errichten wollte – kurzum, alle haben dich angerufen, geheimnisvoller Gott, verborgen in den Fibern des Rebstocks. Wie großartig sind die Schauspiele des Weins im strahlenden Licht unserer inneren Sonne! Wie glühend und echt fühlt sich die zweite Jugend an, die der Mensch aus ihm schöpft! Aber wie gefährlich sind auch seine überwältigende Sinnlichkeit und seine kräftezehrenden Verzauberungen. Und dennoch lasst eure Herzen und euer Gewissen sprechen, ihr Richter, Gesetzgeber, Mitglieder der besseren Kreise, ihr alle, die das Glück sanftmütig stimmt, denen der Wohlstand es leicht macht, tugendhaft und gesund zu sein: Wer von euch wäre so unerbittlich und hätte den Mut, jemanden zu verdammen, der sich Genie antrinkt? [..] 

Auf der Erdkugel gibt es eine unzählbare, unbezifferte Menge von Menschen, deren Leiden der Schlaf nicht ausreichend lindert. Für sie singt und dichtet der Wein.“ 




„Manchmal scheint mir, ich hörte den Wein sprechen – seine Seele spricht mit der Stimme der Geister, die nur von Geistern gehört wird -: ‚Mensch, mein Geliebter, ich will hinter gläsernen Gefängnismauern und einem Riegel aus Kork einen Gesang voller Brüderlichkeit anstimmten, einen Gesang voller Freude, voller Licht und Hoffnung. […] Die Brust eines anständigen Mannes ist ein Aufenthalt, der mir weit mehr zusagt als die melancholischen und fühllosen Keller. Sie ist ein fröhliches Grab, in dem ich mit Begeisterung mein Schicksal erfülle. […] 

Ich werde mich wie pflanzliches Ambrosia in deine Brust ergießen. Ich werde der Samen sein, der die unter Schmerzen gepflügte Furche befruchtet. Aus unserer intimen Vereinigung wird Poesie hervorgehen. Wir zwei werden ein Gott sein und uns der Unendlichkeit entgegenschwingen ...‘“



aus dem Essay "Wein und Haschisch" von Charles Baudelaire übersetzt von Melanie Walz

Montag, 5. August 2019

"Monteverdi - Orpheus' Walking Bass"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Besonders radikales Neuland betrat Monteverdi in der Gestaltung des Aufstieges von Orpheus und Eurydike aus der Unterwelt. (Dieser sollte bekanntlich unter der Bedingung durchgeführt werden, dass Orpheus sich während des Aufstieges nie nach seiner Geliebten, die ihm stumm folgt, umdrehen dürfe, da dies ansonsten den endgültigen Verlust Eurydikes zur Folge hätte.) Bei dieser Szene gelang Monteverdi ein musikdramatischer Geniestreich, den es zuvor noch nicht gegeben hatte: Es handelt sich um eine Bassbewegung, die beschreibt, was der Zuhörer mit seinem geistigen Auge sehen soll. Es soll der Gang aus der Unterwelt als Schreiten hörbar dargestellt werden. Die Musik wird also zum Handlungsträger und illustriert das auf der Bühne Geschehende. Das war ein revolutionäres, bislang einzigartiges Unterfangen in der Musikgeschichte: Musik, der Klang des Basses, wurde essenzieller Teil der Inszenierung. Diese fortschreitende Geste kann als „gehender Bass“ gedeutet werden, der von Minute 0:00 bis 1:19 der Hörprobe den gut gelaunten Orpheus auf seinem Weg aus der Unterwelt begleitet:



Doch erst im Jazz des 20. Jahrhunderts soll dieser Kunstgriff als „Walking Bass“ zum geflügelten Wort für eine rhythmisch gleichmäßige und trotzdem abwechslungsreiche Basslinie werden, welche den Beat wiedergibt und die Harmoniefolge verdeutlicht:




Doch auch in französische Chansons hielt dieser Bass Einzug, wie das nächste Hörbeispiel beweist, wo der gezähmte Schritt (bzw. Trab) eines Pferdes („Le cheval“) vom Bass wiedergegeben wird. (Das Pferd gilt in diesem Lied als Symbol für einen Mann, der in keiner so erfüllenden Beziehung wie Orpheus mit Eurydike lebt und eher unter einer weiblichen Dominanz leidet.)





Selbst in höchster Populärkultur fand der „Walking Bass“ Anwendung: 




Zurück zum antiken Vorbild unserer Oper: Leider soll Orpheus‘ „Walking Bass“ kein glückliches Ende haben. Ab Minute 1:19 der ersten Hörprobe wird Orpheus nervös und fragt sich, ob Eurydike sich denn tatsächlich hinter ihm befindet oder ob der Gott der Unterwelt nur ein böses Spiel mit ihm treibt. Als er schließlich ein Geräusch vernimmt, dreht er sich um und erblickt tatsächlich das Antlitz seiner Geliebten. Diese Begegnung wird von einer Orgel, Symbol des Todes und Jenseits, durch lang anhaltende Töne untermalt. Genau dieser Moment symbolisiert das Erkennen, dass Orpheus Eurydike endgültig verloren hat. Der Wechsel der musikalischen Besetzung verdeutlicht dies auf unüberbietbar theaterwirksame Weise. Die Orgel signalisiert: Eurydike ist längst wieder dem Totenreich anheimgefallen, diesmal für immer. Und entsprechend werden die letzten, mitleidvollen Worte der zuvor Stillen jenseitig begleitet:






So endet die Geschichte der zwei Liebenden, deren Schicksal uns durch Monteverdis Musikdrama auch heute noch tief bewegen kann und zeitlos scheint. Doch mag Orpheus seine Begleitung (Eurydike) auch verloren haben, eine andere Art von Begleitung („Walking Bass“) schreitet heute noch - Jahrhunderte später - durch die Musikgeschichte munter fort …









Freitag, 2. August 2019

"Monteverdi - Orpheus in der Unterwelt"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Gerade die dramatisch motivierte Instrumentation findet in „L’Orfeo“ besonders eindrucksvolle Umsetzung: So werden verschiedene Instrumente der Ober- wie der Unterwelt (also dem Leben wie dem Tode) zugeordnet. Während im Diesseits helle Klänge von Streicher, Blockflöten, Lauten und einem Cembalo dominieren, kommen im Jenseits tiefe, abgründige Instrumente wie Posaunen, Zinken oder sogar ein schnarrendes Regal (eine historische Kleinorgel mit Zungenpfeifen) zum Einsatz. Auch die Chöre sind unterschiedlich besetzt. Das Leben begleitet ein gemischter Chor, der Chor der Unterwelt besteht ausschließlich aus tiefen Männerstimmen. Der Handlungsverlauf wird also durch die unterschiedlichen Besetzungen mit ihren verschiedenen Klangcharakteren veranschaulicht und intensiviert.

Sinnbild des Lebens und der Oberwelt ist das einleitende „Ritornell“. Dieses beschreibt die irdische Sphäre, in welcher der Sänger Orpheus die Nymphe Eurydike für sich gewinnen konnte und damit sein Glück fand. Es ist in allen Akten, welche in der Oberwelt spielen, präsent und kann als „Leitmotiv“ verstanden werden.







Die Handlung selbst basiert auf dem berühmten antiken Mythos und gestaltet sich für die Oper auf folgende Weise: Anfangs besingt Orpheus in dieser dem Leben zugewandten Oberwelt sein Glück und erinnert sich an schmerzliche Tage der Vergangenheit, die durch die Liebe zu Eurydike überwunden wurden. Begleitet wird Orpheus‘ mitreißender Gesang, der eine der ersten Arien der Musikgeschichte darstellt, vom irdischen Instrumentarium, das bereits im einleitenden „Ritornell“ erklungen ist.







Doch sein Glück soll nicht von Dauer sein. Eine Botin eilt zu Orpheus und überbringt ihm die tragische Nachricht vom Tod Eurydikes, die in einer Blumenwiese von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Die Musik wandelt sich plötzlich, erhält eine dunkle Note und beginnt Trauer zu tragen. Eine Orgel, die den Tod und tiefes Leid symbolisiert, bricht in die helle Welt des Lebens ein und untermalt die Verkündigung des Unglücks. Die Szene, in der Orpheus die tragische Botschaft erhält, wird nicht als Arie gestaltet, sondern als tragendes Rezitativ, das die Worte gut vernehmbar für sich sprechen lässt und in der Reduktion der musikalischen Mittel, die Tragweite der Tragödie für das Publikum begreiflich macht. Nur die Orgel steuert der Welt des Lebens die Gewissheit bei, dass es so etwas wie Vergänglichkeit und ewigen Verlust gibt. Als raffiniertes Stilmittel lässt Monteverdi die Botin und Orpheus in unterschiedlichen Tonarten miteinander interagieren, was einen zusätzlichen dramaturgisch brisanten Effekt erzeugt. Der Mitteilung des Todes Eurydike (in Minute 0:50) folgt Orpheus Seufzer mit einer anschließenden Pause, welche das Verstummen des größten Sänger und somit seine tiefste Erschütterung stillen Ausdruck verleiht. Hier endet also die klangliche Dimension der Musik unter gleichzeitiger Maximierung der theatralischen Wirkung. Erst danach folgt der Bericht der Boten über den Hergang des Todes der Geliebten, der in der wörtlichen Wiedergabe die letzten Worte Eurydikes gipfelt und zugleich den höchsten Ton des erschütternden Berichtes bildet: „Orfeo, Orfeo!“ (in Minute 2:57).







Orpheus will sich mit diesem Verlust aber nicht abfinden und beschließt, in die Unterwelt hinabzusteigen, um Eurydike wieder zu sich ins Leben zurückzuholen. Bis zu den Pforten der Unterwelt wird Orpheus von der personifizierten Hoffnung ("La Speranza") begleitet, welche mit „La Musica“ aus dem Prolog der Oper ident ist. Allerdings verweigert sie, ab dieser Schwelle ihr Geleit und verlässt Orpheus.

Weshalb? 

Um diese Frage zu beantworten, muss man die hohe Weltliteratur befragen. Nach der „Commedia“ von Dante Alighieri (1265-1321) steht über dem Portal zum „Inferno“ geschrieben: 

 Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate.
Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.”

Somit kann die Figur der Hoffnung (it. speranza) als Ehrerbietung Dante und dessen Epos gegenüber verstanden werden. Dass Monteverdi die personifizierte Hoffnung mit der Musik in Verbindung bringt, könnte als Bestreben verstanden werden, mit seiner neuartigen Kunst auch einen Platz im Dichterolymp zu finden. Jedenfalls reichen sich hier zwei Meister, die eine Kunstepoche zu Ende geführt und eine neue begonnen haben, sich hier über Jahrhunderte hinweg die Hände.

Die Hoffnung wusste, wohl, weshalb sie nicht mit in die Unterwelt hinabsteigen wollte. Die Szenerie wird plötzlich eine völlig andere und mir ihr auch die Musik. Nicht mehr der helle Klang des „Ritornells“ der Oberwelt ist hier die prägende Kraft, sondern der dunkle Klang jenseitiger Posaunen. So gestaltet sich das „Leitmotiv der Unterwelt“ als starker Kontrast zum Klang des Lebens an der Erdoberfläche.







Und auch die Bewohner der Unterwelt klingen anders. So trifft Orpheus bei seinem Abstieg Charon, welcher als Fährmann die Verstorbenen in das Reich der Toten befördert und mit seiner tiefen Bassstimme nur von einem schnarrenden Regal begleitet wird, das reibungsvolle Dissonanzen von sich gibt. Charon erklärt Orpheus auf sehr eindringliche Art, dass Lebende keinen Zutritt in die Unterwelt haben, und will ihn abweisen. Dabei lotet er die tiefsten Gründe des musikalisch Machbaren aus:







Orpheus überwindet jedoch Charon durch einen Trick und gelangt in die Unterwelt, wo er den dort herrschenden Pluto durch Vermittlung von dessen Frau Persephone, welche zutiefst mit Orpheus und Eurydike mitleidet und von seinem Gesang ergriffen ist, überzeugt wird, dem liebenden Sänger die Chance zu geben, Eurydike aus der Unterwelt zu führen. Die einzige Bedingung Plutos ist: Orpheus darf sich während des Aufstieges aus der Unterwelt nie zu Eurydike, welche ihm still und leise folgen wird, umdrehen. Voll Glück nimmt Orpheus die Gelegenheit wahr und beginnt freudvoll seinen Gang ins Leben zurück.

Wie Monteverdi das Folgende musikalisch in Szene setzt, hat es zuvor nicht gegeben. Es gelingt ihm ein Kunstgriff, der für die künftige Musik stilbildend sein wird und selbst begleitende Figuren des Jazz Jahrhunderte vorwegnehmen soll. Doch unabhängig davon gelingt Monteverdi hier die Gestaltung einer der ergreifendsten Szenen, welche jemals für die Bühne geschaffen wurden …





Dienstag, 30. Juli 2019

"Monteverdi - Orpheus und das Leitmotiv"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Wenn man „Leitmotive“ sucht, so wird man bereits im Prolog von Monteverdis „L’Orfeo“ fündig. Eingeleitet wird die Oper durch eine wuchtige, von Trompeten niederschmetternd intonierte Toccata (von Minute 0:00-1:50). Bereits diese ist streng genommen ein „Leitmotiv“, allerdings keines das zu der Oper selbst gehört. Es ist ein werkübergreifendes Motiv, für dessen Verständnis geschichtliches Hintergrundwissen von Nutzen ist: „L’Orfeo“ wurde 1607 in Mantua unter der Schirmherrschaft der dortigen Herzogsfamilie der Gonzaga uraufgeführt und auch dem Herzogssohn Francesco (1586-1612) gewidmet. Nun hatten Adelsgeschlechter, die etwas auf sich hielten, zur damaligen Zeit nicht nur Familienwappen, sondern auch eine musikalische Signatur in Form einer Fanfare, einer Kennmelodie. Diese wurde in Monteverdis Toccata besonders eindrucksvoll zitiert und als Reminiszenz an seine Auftraggeber in Szene gesetzt. So erklärt es sich, weshalb die drei Jahre später ebenfalls in Mantua entstandene „Marienvesper“, Monteverdis sakrales Meisterwerk, mit derselben Toccata eingeleitet wird (auch wenn sie Papst Paul V. gewidmet war). Kurzum, die Toccata ist ein „Leitmotiv“, das auf die adeligen Mäzene Bezug nimmt, mit dem eigentlichen Werk allerdings nichts zu tun hat.

Mit dem „Ritornell“ (ab Minute 1:50), welches auf die Toccata folgt, verhält es sich jedoch anders. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein wunderbares Instrumentalstück, sondern um das wichtigste „Leitmotiv“ der Oper. Dieses frühbarocke, erhabene Ritornell symbolisiert das Leben und die pastorale Sphäre der Oberwelt. Es ist als klingendes Bühnenbild in den Akten, die nicht in der Unterwelt spielen, immer präsent und wird vom diesseitigen Instrumentarium des Lebens, welches hell und leicht aus Blockflöten, Lauten, Streichern und dem Cembalo besteht, intoniert.







Auch die Musik selbst („La Musica“) ist Attribut des Lebens und der Oberwelt. Und so können wir uns im folgenden Prolog bereits vom Einsatz der Leitmotivtechnik überzeugen, da hier die Musik als Person auftritt und sich mit ergreifenden Worten über mehrere Strophen hin direkt an das Publikum wendet. Nach jeder Strophe erscheint als Zwischenspiel das „Leitmotiv“ des Ritornells in Ausdruck und Orchestrierung verwandelt, um das Gesagte der letzten Strophe in seiner jeweiligen Stimmung zu untermalen und Nachdruck zu verleihen.







In der ersten Strophe wendet sich „La Musica“ direkt an die Herzogsfamilie und erweist ihr (nach der einleitenden Toccata) erneut die Ehre in Form einer Huldigung. Allerdings ist hier ein kleiner, ironischer Seitenhieb eingebaut, da die Lobpreisung derart übertrieben ausfällt, sodass sich der eine oder andere im Publikum gefragt haben muss, ob der Herzog denn tatsächlich diesen Lorbeeren gerecht wird oder ob gemessen an seinen Taten sich nicht eine bescheidenere Bilanz offenbaren mag. (Monteverdi hatte allen Grund für diese kleine Finte, da der Herzog von Mantua ihm des Öfteren das Gehalt schuldig geblieben war…) In der zweiten und dritten Strophe stellt sich „La Musica“ selbst vor und findet berührende Worte über die Kraft der Musik. In der vierten Strophe nimmt sie auf Orpheus selbst Bezug, worauf sie in der letzten Strophe vom Publikum offen und streng die gebührende Aufmerksamkeit während der gesamten Oper einfordert. Wir wollen dem nichts hinzufügen und überlassen „La Musica“ natürlich das letzte Wort, bevor wir uns im nächsten Artikel mit der eigentlichen Handlung der Oper beschäftigen und uns mutig der Unterwelt, welche nicht mehr zur Einflusssphäre der Musik und des Lebens gehört, zuwenden.

Nun lassen wir aber „La Musica“ sprechen, welche folgende Worte an uns richtet:

Dal mio Permesso amato à voi ne vegno,
Incliti Eroi, sangue gentil de’ Regi,
Di cui narra la Fama eccelsi pregi,
Nè giunge al ver, perch’è tropp’ alto il segno.

Io la Musica son, ch’a i dolci accenti,
Sò far tranquillo ogni turbato core,
Ed hor di nobil ira, ed hor d’amore
Posso infiammar le più gelate menti.

Io sù Cetera d’or cantando soglio 
Mortal orecchio lusingar talhora,
E in questa guisa a l’armonia sonora
De la lira del Ciel più l’alme invoglio. 


Quinci à dirvi d’ORFEO desio mi sprona, 
D’ORFEO che trasse al suo cantar le fere,
E servo fè l’Inferno a sue preghiere, 
Gloria immortal di Pindo e d’Elicona.


Hor mentre i canti alterno hor lieti, hor mesti,
Non si mova augellin fra queste piante,
Nè s’oda in queste rive onda sonante,
Ed ogni auretta in suo cammin s’arresti.

Von meinem geliebten Permessos komm ich zu euch,
ihr glorreichen Helden vom Blut der Könige.
Euer Ruhm zeugt von großen Taten,
doch wird er ihnen nicht gerecht, da es zu viele sind.

Ich bin die Musik, die mit süßen Tönen
jedes ruhelose Herz zu stillen vermag.
Bald mit edlem Zorn, bald mit Liebe
Auch die kühlsten Sinne zu entflammen weiß.

Singend zum Klang der goldenen Harfe
entzücke ich das Ohr des Sterblichen
und erwecke in der Seele Sehnsucht nach den
klangvollen Harmonien der Himmelsleier.

Nun will ich euch von Orpheus berichten,
der mit seinem Gesang die Tiere zähmte,
dessen Flehen selbst die Unterwelt erhörte,
Pindos und Helikon zum ewigen Ruhm.

Dieweil ich nun von Heiterem und Ernsterem singe,
soll sich kein Vogel in den Zweigen regen,
soll keine Welle an die Ufer schlagen
und jedes Lüftchen stehe still.

Samstag, 8. Juni 2019

"L'amico Fritz - Das vergessene Meisterwerk"


Wer glaubt, Meisterwerke bahnen sich mit der Zeit von selbst ihren Weg ins kollektive Gedächtnis der Nachwelt, um dort letztendlich ihre verdiente Würdigung zu erfahren, der irrt. Das Vergessenwerden ist wohl die bitterste Form von Rezeption, die einem Kunstwerk widerfahren kann. Von den vielen Beispielen in der Musikgeschichte besitzt gerade die italienische Oper ein besonders tragisches Schicksal: jenes von Pietro Mascagnis idyllischem Meisterwerk „L’amico Fritz“. Dieses übersehene Kleinod strahlt voll reicher Klangfarben und birgt nahezu unentdeckt Italiens schönste musikalische Perlen.


Pietro Mascagni (1863-1945) selbst ist hingegen kein Unbekannter. Sein frühes Meisterwerk „Cavalleria rusticana“ (1890) hat die Opernbühnen der Welt im Sturm erobert und bis heute nichts von seiner leidenschaftlichen Kraft und Frische eingebüßt. Auf diesem triumphalen Erfolg hin erhielt Mascagni bald einen neuen Auftrag für eine weitere Oper, den er in kürzester Zeit hochinspiriert erfüllte. Was dabei entstand, war 1891 das lyrische Meisterwerk „L’amico Fritz“, das an Subtilität und Klangschönheit die Vorgängeroper weit übertraf. Das Publikum hatte dafür jedoch kein Verständnis. Der triumphale Erfolg blieb aus und die Oper geriet bald in Vergessenheit. Auch in weiterer Folge sollte es Mascagni nicht gelingen, ein zweites Werk neben seinem Erstling auf den Opernbühnen zu etablieren. Somit wurde Mascagni das Schicksal zuteil, als One-Hit-Wonder mit „Cavalleria rusticana“ in die Musikgeschichte einzugehen. Diese historische Ungerechtigkeit fiel in den frühen 1890er Jahren bereits einem jungen, ambitionierten Operndirigenten auf, der „L’amico Fritz“ im deutschsprachigen Raum zur Erstaufführung brachte. Es war kein Geringerer als Gustav Mahler (1860-1911), der fassungslos ob der Tatsache war, dass sich dieses Werk neben „Cavalleria rusticana“ trotz aller Verfeinerungen im Stil und musikalischen Ausdruck auf den Opernbühnen nicht durchsetzen konnte. Ein verständnisloses Publikum war Mahler, der bekanntlich auch selbst als Komponisten tätig war, nicht fremd. Vielleicht fühlte er deshalb mit Mascagnis Schicksal mit und wurde nicht müde, gemeinsame Berührungspunkte zu betonen. Dass heute, 130 Jahre später, Mahlers Werk längst in den Konzertsälen angekommen ist, Mascagnis „L’amico Fritz“ allerdings noch immer ein Schattendasein fristet, gäbe wohl beiden keinen ungetrübten Grund zur Freude.

Worum geht es in „L’amico Fritz“? Die Handlung ist relativ einfach gestrickt und anhand der wunderbaren Musik nahezu nebensächlich: Ein wohlhabender Großgrundbesitzer und eingefleischter Junggeselle namens Fritz wettet mit seinem Freund David um einen Weinberg, dass er nie heiraten werde. Nun gibt es aber eine ebenso junge wie hübsche Tochter eines Gutsverwalters, dem Fritz in schweren Zeiten geholfen hat, mit dem Namen Suzel. Fritz hegt insgeheim Gefühle für sie, welche durch das von David gestreute Gerücht, Suzel würde kurz vor einer Hochzeit stehen, offen entflammen. Fritz heiratet letztendlich Suzel und übergibt David den versprochenen Weinberg. David gibt hingegen den Weinberg als Hochzeitsgeschenk wieder zurück und freut sich, dass sein gestreutes Gerücht Realität geworden ist. - So weit, so banal. Würde man nur die Handlung kennen, die Kostbarkeiten der Oper blieben unentdeckt, da die Rechnung ohne dem Wesentlichen gemacht werde würde: der herrlichen Musik.

Nun zu dieser: Beginnen wir mit dem Vorspiel der Oper, dem Preludietto. Im Grunde handelt es sich hierbei um ein Charakterbild von Fritz. Es beginnt ebenso scherzohaft verspielt wie ruhig behäbig und spiegelt die aktuelle Lebenslage des älteren Junggesellen Fritz wider. Es handelt sich um einen gemütlichen, sympathischen, nicht sonderlich spektakulären und vielleicht etwas unbeholfenen Herren, der mit sich und seinem Leben aber durchaus zufrieden ist. Man könnte bei der Musik daher vom Leitmotiv des unkomplizierten Junggesellendaseins sprechen. Trotz aller Zufriedenheit und inneren Ruhe zeichnet die Musik aber auch eine gewisse Eindimensionalität und Einfachheit aus, die auch für sein derzeitiges Leben bezeichnend sind. Dies ist Fritz durchaus bewusst und er fragt sich wohl selbst, ob das bereits alles gewesen sein soll. Ein schüchternes Träumen von einem tieferen und reicheren Dasein, die leise Ahnung von etwas Höherem kann Fritz nicht unterdrücken und so nimmt die Musik ab Minute 1:17 sehnsüchtig schwebenden Charakter an. Die oberflächliche Verspieltheit weicht plötzlich lang ausschwingenden Melodiebögen, welche der Sehnsucht, die manchmal in Fritz aufkommen mag, Ausdruck verleihen. Diese zarten Kantilenen, deren sich kaum ein sensibles Herz erwehren kann, sind es, welche italienische Oper so unverwechselbare Intensität schenken, und Mascagni weiß diese wunderbar effektvoll einzusetzen. Doch dieses ätherische, sehnsuchtsvolle Zwischenspiel bleibt nur ein Tagtraum, eine isolierte Episode, und ab Minute 3:12 fällt Fritz wieder in seine verspielte, gemütliche und etwas langweilig behäbige Ausgangslage zurück. Man merkt, mit welch liebevollem Einfühlungsvermögen Mascagni bei diesem subtilen musikalischen Portrait des Hauptcharakters vorgeht.






Bereits nach dieser kurzen instrumentalen Vorstellung wissen wir, dass es eines aufrüttelnden Ereignisses in Fritzens Leben bedarf, damit sein sehnsuchtsvoller Tagtraum Wirklichkeit werden und sein Leben Erfüllung finden kann. Dieses Ereignis soll bald in Form von Suzel kommen. Das ist der Stoff aus dem große italienische Oper gemacht ist und Mascagni entwickelt daraus im Folgenden ein wunderschönes Leitmotiv: Als zu Fritzs Geburtstag Suzel diesem voll Dankbarkeit für seine Hilfsbereitschaft gegenüber ihrer Familie einen Strauß Veilchen überreichen möchte, drückt sie diese in Form einer Arie aus. (In der italienischen Oper nichts Ungewöhnliches!) In ihren Worten des Dankes erklärt sie, dass die Blumen, könnten sie reden, sich glücklich schätzen würden, ihr kurzes Leben zu Ehren eines Mannes geendigt zu haben, der den Armen in ihrer größten Not hilft. Diese Arie („Son pochi fiori“) gehört zu den schönsten Vorstellungsarien, mit denen eine Hauptprotagonistin je in eine Oper eingeführt wurde. Wenn man bedenkt, dass Mascagni dies sieben Jahre vor Giacomo Puccinis (1858-1924) „La Bohème“ gelungen ist, wo Puccini seine Mimì mit ihrer Einstiegsarie „Sì, mi chiamano Mimì“ trotz Tuberkulose im Endstadium unsterblich gemacht hat, so kann man „L’amico Fritz“ durchaus als stilbildend bezeichnen. Das angedeutete Sehnen aus dem Vorspiel erhält plötzlich Substanz, eine Wesenheit von musikalischer Fülle und klanglichem Reichtum. Die Träumerei von Fritz findet seine weltliche Entsprechung aus Fleisch und Blut, eben Suzel, welche den Traum mit Leben füllt und das Leben selbst sich plötzlich ungemein reicher gestalten lassen würde. Und genau hier schwingt sich die italienische Oper zu unerreichten Höhen auf. Mascagni erweist sich hierbei als einer ihrer lyrischsten und würdigsten Vertreter und das Leitmotiv ab Minute 0:57, das in der Oper immer wiederkehrt, als eine seiner schönsten Eingebungen:





Was im weiteren Verlauf der Oper einen besonderen Reiz ausmacht, ist die Einbeziehung unterschiedlichster musikalischer Einflüsse und Stile. So erleben wir Suzel im zweiten Akt in der Morgendämmerung beim Kirschenpflücken am Feld. Sie singt ein Lied ("Bel cavaliere") vor sich hin, das einen traurigen Ritter zum Thema hat, dem von einem Mädchen Rosen für seine Braut angeboten werden. Der Ritter lehnt dankend aber tieftraurig ab, da er keine Braut besitzt. Wir wissen allein durch den Text des Liedes nicht wer dieser Ritter ist und wo sich diese Begebenheit zutrug. Mascagni gibt mit seiner Musik jedoch aufschlussreiche Hinweise: Er verleiht ihr exotische Noten, verziert mit orientalischen Arabesken. Entführt uns diese Musik gar ins ferne Andalusien, wo sich Morgen- und Abendland, Mauren- und Christentum zwar nicht immer friedlich die Hand reichten, das eine aber das andere maßgeblich beeinflusste? Wie sich Gegensätze zu einem neuen Ganzen vereinten? Es scheint so, anders wäre der orientalische Klang nicht zu erklären. Auch die wunderbaren Rosengärten des Generalife der Alhambra in Granada würden einen herrlichen szenischen Rahmen hierfür bieten. In jedem Fall geht die Musik Mascagnis weit über das Libretto hinaus und verleiht ihm durch die Verschmelzung von italienischer Arie mit orientalischen Klangornamenten zusätzlich Tiefe und übergeordnete Deutungsebenen. Diese musikalische Aufwertung des Textes kennen wir in noch viel konsequenterer und weitreichenderer Ausführung aus der Kunst Richard Wagners (1813-1883), auf dessen Methodik Mascagni nicht nur im Gebrauch vereinzelter Leitmotive zurückgreift.

Spannend ist aber auch, wie Mascagni nahtlos zwischen Stilen wechseln kann. Als Fritz, der Suzel beim Kirschenpflücken beobachtet hat, zu ihr tritt und sich zwischen ihnen ab Minute 3:44 das „Kirschenduett“ entspinnt, tritt ein gänzlich anderer musikalischer Charakter in Erscheinung: War die Musik der Ritterlegende kühn und exotisch, so erscheint das darauffolgende Duett in leichter, lieblicher Manier ganz dem italienischen Zeitgeschmack entsprechend.





Doch damit nicht genug: Etwas später wird in diesem Akt auf eine weitere Legende angespielt: Diesmal ist es jene Bibelszene, in der Abraham aufruft, für seinen Sohn Isaac eine Frau zu suchen. (Das Junggesellendasein und das Brautwerben zieht sich also thematisch durch das Libretto wie ein Leitmotiv.) Mascagni nutzt auch für diese Passage originelle musikalische Umsetzung, indem er auf die alte christliche Form des Chorals zurückgreift. Wir erleben hier eine wunderbare Verschmelzung von einstimmiger Kirchenmusik mit dem Melos der italienischen Oper. Das Ergebnis ist eine Synthese voll Erhabenheit in einer Arie („Faceasi vecchio Abramo“), die an hehrem Ausdruck ihresgleichen sucht. - Allgemein betrachtet gelingt Mascagni in diesem Akt ein Meisterstück, was Menschen selten gelungen ist: Orientalische Exotik und tiefverwurzeltes Christentum versöhnt nebeneinander zu stellen, um sich zu einem übergeordneten, facettenreicheren Ganzen zu vereinen. Das scheinbar Unvereinbare wird durch die Essenz der italienischen Oper verbunden: Melodienreichtum und musikalische Schönheit.




Ein weiterer Höhepunkt der Oper ist das rein instrumentale Intermezzo, das Mascagni zwischen zweitem und drittem Akt platziert. Hier greift er melodisch auf ein Motiv zurück, das ein weitgereister, melancholischer Geigenspieler im ersten Akt anlässlich des Geburtstages von Fritz alleine intoniert. Im Intermezzo erstrahlt dieses Motiv im vollen Orchesterklang. Es ist eine sehnsuchtsvolle Melodie voll Schmerz und Wehmut. Man vermeint fasst Nachwehen vom Pathos der „Cavalleria rusticana“ zu vernehmen. Die Melodie will uns eine Geschichte erzählen. Es ist jene von Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Eine Geschichte die so alt ist wie die Menschheit selbst, aber die gerade in Italien so effektvoll und herzergreifend beschworen wird. Dieser deklamierende, legendenbildende Stil hat Musikgeschichte geschrieben und ungeheuren Einfluss auf die moderne Filmmusik ausgeübt. Man könnte beispielsweise fast meinen, als stünde Mascagnis Intermezzo Pate für den Film-Soundtrack des großartigen Mafia-Epos „The Godfather“ von Nino Rota (1911-1979). Der Gestus des markanten, lamentierenden Hauptthemas sowie die Intonierung durch ein Soloinstrument führen in direkter Linie zu Mascagnis Operneinfall zurück. Diese leidenschaftliche Vortragsweise voll Wehmut und Schmerz hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Popkultur eingeprägt und unzählige Hörer tief ergriffen, auch wenn nur wenige den Ursprung bei Mascagni orten können. (Aber unabhängig davon ist Mascagni auch über „Cavalleria rusticana“ mit „The Godfather“ verbunden, da der Showdown im dritten Teil der Reihe während einer Aufführung von ebendieser Oper stattfindet.) 

Doch nun geben wir uns ganz dem leidenschaftlichen, originalen Pathos von Mascagnis Intermezzos hin, der nach einer eindrucksvollen Einleitung ab Minute 1:27 zum hehren Gesang anhebt und die Geschichte des liebeskranken, veränderten Fritz zu erzählen beginnt, der sich nach Suzel verzehrt und seinem Leben eine tiefere Bedeutung mit ihr an seiner Seite beimessen möchte:





„L’amico Fritz“ ist Mascagnis lyrisches Meisterwerk, das einen Vergleich mit „Cavalleria rusticana“ nicht zu scheuen braucht. Begeistert bei der einen Oper der unverblümte leidenschaftliche Effekt, so ist es bei der anderen die feingliedrige Subtilität, die man wie Gustav Mahler durchaus auch als Weiterentwicklung der musikalischen Sprache betrachten kann. Leider entging der Nachwelt diese Subtilität und was für Schätze in diesem Meisterwerk zu bergen wären. Nur ein kleiner Kreis an Wissenden kennt heute diesen übersehenen Stern am Opernhimmel und räumt ihm den Stellenwert ein, den er verdienen würde: Als chronologischer Meilenstein der italienischen Oper zwischen Verdis Spätwerk und Puccinis großen Erfolgen erkannt zu werden. So handelt es sich bei „L’amico Fritz“ zwar um vergessene, nicht aber um verlorene Musik, da sie auch heute noch durch ihre Ausdruckskraft Liebhaber tief zu ergreifen vermag, welche sich demütig und dankbar vor ihr verneigen.

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Mittwoch, 22. Mai 2019

"Robert Musil - Nachtgedanken II"



"Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewußt hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.  

Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehn, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. [...] Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! [...] 

Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben."


aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" 
- Kapitel 11 "Der wichtigste Versuch"