Donnerstag, 21. Dezember 2017

"Liszt in Rom - Weihnachtsoratorium"


Johann Sebastian Bach (1685-1750) komponierte in der Zeit des Barocks ein geniales Weihnachtsoratorium, das in aller Munde ist. Franz Liszt (1811-1886) komponierte in der Zeit der Spätromantik ebenfalls ein solches, welches jedoch nahezu in Vergessenheit geraten ist.  Diese Tatsache ist eigentlich unverständlich, wenn man bedenkt, dass Liszt hierbei nicht nur wunderbare Musik gelungen ist, sondern ein tiefes Selbstbekenntnis, das zur kompromisslosesten Schöpfung jener Epoche führte. Es handelt sich um ein einsames Meisterwerk, das den weiten Bogen von den lateinisch-romanischen Ursprüngen bis hin zur Klangwelt der Spätromantik spannt und zu Unrecht unbeachtet in der Musikgeschichte auf seine Wiederentdeckung harrt.



Im Leben Franz Liszts gab es um das Jahr 1861 einen Bruch: Er beendete seine Tätigkeit als Kapellmeister in Weimar und ließ sich in einem römischen Kloster nieder, empfing dort die niederen Weihen, wurde Kleriker und versuchte seinem "klösterlich-künstlerischen Ideal näher zu kommen". Diese Annäherung sollte mehr als fünf Jahre dauern. Für viele Biographen Franz Liszts werden seine Jahre in Rom als musikalisch wenig ertragreich und unbedeutend gewertet. Es war aber genau das Gegenteil der Fall: Liszts Suche nach seiner eigenen Spiritualität trug auch kompositorisch Früchte, die allerdings erst viele Jahre nach seiner Zeit in Rom ihre Uraufführung erlebten. Eine der wohl großartigsten Schöpfungen, welche in diesen Jahren entstand, war der erste Teil seines Monumentalwerkes "Christus", sein "Weihnachstsoratorium", das sich sowohl musikalisch als auch gattungsgeschichtlich in all seiner religiösen Offenbarung als einsamer Geniestreich entpuppen soll. 

Franz Liszt verarbeitet im Weihnachtsoratorium seine in Rom stattfindende intensive Auseinandersetzung mit Gregorianischen Chorälen, der frühen Vokalpolyphonie und den meisterhaften Messen eines Giovanni Pierluigi da Palestrinas (1525-1594). Das Resultat ist eine Synthese aus Tradition und Moderne, in denen der Klangkosmos eines Palestrinas ebenso Ausdruck findet wie Liszts eigene progressive Harmonik oder die "unendlichen Melodien" seines Schwiegersohnes Richard Wagner (1813-1883). Besonderes Kennzeichen dieses Oratoriums ist der breite Raum, den das Orchester einnimmt: Drei der fünf sehr umfangreichen Sätze sind gigantische symphonische Dichtungen, welche als Medium des Gebetes zur meditativen Verinnerlichung dienen sollen.

Bereits der erste Satz wird rein instrumental gestaltet und dient als intime Einführung in den sakralen Themenkreis des Weihnachtsoratoriums. Vorangestellt sind der Musik die prophezeienden Worte des Jesaja (Jesaja, 45:8)

Rorate caeli desuper,
et nubes pluant iustum: 
aperiatur terra, 
et germinet Salvatorem. 

Tauet Himmel, von oben,
ihr Wolken, regnet den Gerechten:
Es öffne sich die Erde
und sprosse den Heiland hervor.

Dieses Bibelzitat fand früh eine berühmte Gregorianische Verarbeitung, welche als Einzugsgesang zum vierten Adventsonntag in der katholischen Messliturgie dient. Liszt griff diesen Gesang auf und gestaltete den einleitenden Satz als freie, polyphone Fantasie und in sich gekehrte Meditation über das Thema, welches gleich zu Beginn in Erscheinung tritt. Darüber hinaus fungiert dieses als wichtiges Leitmotiv des Oratoriums, das an markanten Stellen in verwandelter Form immer wieder präsent ist. Der Satz befindet sich in der dorischen Kirchentonart und erweckt in seinen sanften, verinnerlichten Klängen eine pastorale Atmosphäre, die im spätromantischen Licht erstrahlt. 



Im zweiten Satz verkündet ein Engel in Form eines Sopran-Solos die Geburt des Heilands nach Worten des Lukas-Evangeliums (Lukas, 2:10-14). Diese frohe Kunde wird von einem Frauenchor durch sanfte "Halleluja"- und "Gloria in excelsis"-Ausrufe freudig empfangen. Dabei klingt auch das Gregoriansiche Leitmotiv etwas verschleiert durch. Nachdem der gesamte gemischte Chor sowie das Orchester einsetzt, wird auch das Leitmotiv zu einem immer markanteren Gestaltungselement. Den Höhepunkt des Satzes leitet das "Halleluja" des Chores (ab 5:40) ein und bildet (6:11-6:23) einen lichtdurchfluteten, erhabenen Moment, der sich dem Irdischen zu entheben scheint. Es folgt ein langsames Verklingen der Stimmen und ein Übergehen in ein ruhiges und inniges Pastoralspiel, das die Melodien der Engel und Hirten mit dem Themenmaterial des ersten Satzes auf zarteste, süßeste Weise zu vereinen sucht. 
  


Der dritte Satz gehört zum Berührendsten, das Liszt je geschrieben hat. Es ist ein nahezu a cappella Chorsatz, der lediglich an einigen Passagen von der Orgel unterstützt wird. Es handelt sich um die Hymne "Stabat mater speciosa", welche als Gegenstück zur Passionssequenz "Stabat mater dolorosa" die Freuden der Mutter und der Menschheit im Allgemeinen beim Betrachten des Neugeborenen beschreibt. Dieser Satz spiegelt am deutlichsten Liszts intensive Beschäftigung mit der lateinisch-romanischen Musiktradition wider. Seine demütige, ehrfürchtige Haltung ihr gegenüber könnte keinen schöneren Ausdruck finden als in diesen Satz. Bereits in einem Brief aus Rom an seinen deutschen Kollegen Richard Pohl (1826-1896) aus dem Jahre 1861 artikulierte Liszt seine Bewunderung und Ehrfurcht für Gregorianische Choräle sowie die Messen Palestrinas:

"Es sind tönende Granit- und Porphyr-Säulen, von deren mächtiger Wirkung Sie sich in Deutschland kaum eine annähernde Vorstellung machen können, weil Sie sie nur außerhalb ihrer belebenden Glaubens und Ritus Mitte hören. Obschon in der hiesigen Ausführung eine strenge Critik manches nicht zu beloben fände, so bleibt nichts destoweniger der Gesamteindruck ein erhabener und tief ergreifender - den freilich nur diejenigen empfangen, welche die entsprechende Geistes- und Herzensbefähigung besitzen." 



Der vierte Satz mit dem Titel "Hirtengesang an der Krippe" ist erneut als rein instrumentale symphonische Dichtung angelegt. Hier tritt wie schon in Teilen des zweiten Satzes der pastorale Charakter der Musik vollends in Erscheinung, welcher auf volkstümlichen Schalmeiklängen beruht und so bildlich den Eindruck eines Hirtengesanges hervorruft. Das Themenmaterial geht erneut auf jenes der einleitenden Fantasie des ersten Satzes zurück. Darüber hinaus mischt sich ab 4:30 eine sehr freie Bearbeitung des aus dem 16. Jahrhundert stammenden kirchlichen Weihnachtsliedes "Es ist ein Ros entsprungen" bei. Der gesamte Satz ist geprägt von ruhig dahinfließenden Melodien und wird nicht müde, immer neue, farbenreiche Nuancen zu dem innigen Tongemälde beizutragen, um ein ländliches Idyll entstehen zu lassen.



Als Finale folgt eine Tondichtung mit dem Namen "Die Drei Könige", die sich ganz den heiligen drei Königen verschreibt, die nach dem Matthäus-Evangelium (Matthäus, 2:9,11) zu ihrem neugeborenen Heiland aufbrechen, von einem Stern geleitet werden und Gold, Weihrauch und Myrrhe überbringen. Liszt teilt den letzten Satz in drei Episoden, welche alle den selben musikalischen Keim besitzen, welcher wiederum aus dem ersten Satz abgeleitet ist: Zunächst wird der Aufbruch der drei Könige zu ihrem Heiland als gewichtiger, imposanter Marsch dargestellt. Ab Minute 4:29 wird musikalisch das Erscheinen des Sterns am Horizont beschrieben, der den Königen den rechten Weg zur Krippe weisen soll. Das Aufgehen und Aufleuchten des Sternes findet auf wunderbar erhebende Weise in Des-Dur statt. Der Klang wird zu einem hellen Strahlen, das die finsterste Nacht durchbricht und ebenso warm wie innig den Raum zu durchströmen beginnt. Selbst das Glitzern des Sterns wird durch zarte Harfenklänge angedeutet. Sobald die Könige bei ihrem Heiland angekommen sind, beginnt die Übergabe der Geschenke ab Minute 7:15. Dies geschieht auf  ernste, hymnisch-preisende Weise. Dannach finden alle drei Episoden noch eine durchführende Verarbeitung, welche das Weihnachtsoratorium ebenso prächtig wie hoffnungsvoll ausklingen lässt.




Sollte jemand meinen, Franz Liszt sei in erster Linie ein oberflächlicher (wenn auch virtuoser) Pianist gewesen, der wird mit diesem Oratorium eines Besseren belehrt. Er war ein großer Komponist und ein ewig Suchender, der auf der Suche nach seiner eigenen Spiritualität Antworten fand und ernten durfte. Viele von diesen Antworten sind in die Musik seines Weihnachtsoratotiums eingeflossen und haben diesem Tiefe verliehen. Und möglicherweise sind diese Antworten so stark, dass sie uns auch heute noch auf unserer eigenen Suche helfen können.






Sonntag, 10. Dezember 2017

"Purcell - Fantasie der Liebenden"


Wenn Inspiration die Fantasie beflügelt, ist der Drang zu schaffen groß. Dies findet oft Niederschlag in Werken, die wiederum andere inspirieren. Empfänglich sind hierbei vor allem Liebende, deren Sehnen ohnehin zu den höchsten Höhen strebt, indem es die Fantasie zu verwirklichen sucht. Ein Meister an Inspiration, der Liebe in allen ihren Facetten musikalisch auszudrücken wusste, war der englische Komponist Henry Purcell (1659-1695), der uns nicht zuletzt deshalb noch heute ungemindert tief zu berühren vermag.  


Eine solche Arie, die auch heute noch Fantasien zu beflügeln weiß, findet sich in Henry Purcells Semi-Oper "The Fairy-Queen" aus dem Jahre 1692. Bei dieser Opern-Gattung handelt es sich um eine spezielle Form der englischen Barockoper, in der gesprochene, gesungene, getanzte und instrumental gestaltete Szenen miteinander verknüpft sind. Purcell war ein Meister dieser Gattung und feierte überragende Erfolge auf diesem Gebiet. Die Handlung der Oper basiert lose auf der Komödie "A Midsummer Night's Dream" ("Ein Sommernachtstraum") von William Shakespeare (1564-1616), wurde allerdings von einem unbekannten Autoren operngerecht textlich neu gestaltet. Der Fokus der Oper wurde hierbei auf die Feenkönigin Titania und ihren Gemahl Oberon gelegt, da die Oper zu Ehren des 15. Hochzeitsjubiläums von Queen Mary II. (1662-1694) und William III. (1650-1702) uraufgeführt wurde.  

Bei jener Arie handelt es sich um "One charming night" aus dem zweiten Akt der Oper. Diese besitzt nicht nur einen vielvesprechenden Titel, sondern legt es auch textlich explizit darauf an, unsere Fantasie zu beflügeln und auf das Äußerste zu treiben, sodass wir uns in der süßen Lage wiederfinden, das Angedeutete auszumalen:

"One charming night gives more delight, 
than a hundred lucky days. 
Night and I improve the taste, 
make the pleasure longer last, 
a thousand, thousand several ways."

"Nur eine bezaubernde Nacht bringt größere Lust 
als hunderte glückliche Tage.
Die Nacht und ich verfeinern den Genuss,
lassen die Freude länger währen
auf abertausend verschiedene Weisen."

Henry Purcell tat das Seine und setzte diese delikaten Zeilen in ebenso sehnsuchtsvolle wie sinnliche Musik, ohne die Fantasie dabei einzuschränken:




Es ist nun mal eine Tatsache, dass Sinnlichkeit und sehnsuchtsvolle Fantasien nicht allein Thema des englischen Barocks waren. Und so kam es, dass diese Arie nicht nur Hörer, sondern auch Musiker jüngerer Zeiten inspirierte und zu neuen Interpretationen beflügelte. So erging es wohl dem Ensemble L'Arpeggiata unter der Leitung von Christina Pluhar (*1965), welches sich im Jahre 2014 an eine erfrischend unorthodoxe Einspielung heranwagte. Es handelt sich hierbei um eine Improvisation in Form einer musikalischen Fantasie, welche stilistisch wie harmonisch zwischen den Jahrhunderten wechselt und dabei die Aktualität von Purcells Musik unterstreicht, ohne sie zu verfälschen. Diese Interpretation zeigt, dass ein Meisterwerk, welches sich der Sinnlichkeit widmet, auch über Jahrhunderte hinweg nichts an seiner Strahlkraft und Intensität verliert: 




Da der Text der Arie von einem unbekannten Autor stammt und kein Originalzitat aus dem Sommernatstraum ist, wäre es abschließend aufschlussreich, zu erfahren, was Shakespeare selbst zum Thema "Fantasie" zu sagen hatte:

"And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poet’s pen
Turns them to shapes and gives to airy nothing
A local habitation and a name."

Shakespeare, "A Midsummer night's dream", Act V, Scene I

"Und wie die Fantasie Ideen ausgebiert
Von unbekannten Dingen, bannt der Stift
des Dichters sie in Formen ein und gibt
Luftigem Nichts in Worten ein Zuhause."

Übersetzung: Frank Günther


Was für den Poeten ein Gedicht, für den Komponisten ein Musikstück ist, das sind für den Liebenden die Gedanken, die sehnsuchtsvoll hinausdrängen, von Klang und Sprache getragen werden und vielleicht bei dem oder der Angebeteten Erfüllung und ein Zuhause finden.