Dieser Artikel handelt von einem ungarischen Komponisten unserer
zeitgenössischen Musik: György Ligeti
(1923-2006). Viele werden nun erschrecken und befürchten, dass
klassische Musik unserer Gegenwart unhörbar sei.
Aber bevor nun alle zu einem anderen Artikel über Meister
entfernterer Epochen klicken, sei zur Beruhigung erwähnt, dass sich Ligetis
Musik durch
ihre innere Spannung, ihre mystische Harmonik und Polyphonie im Filmgenre etabliert
hat und bereits Teil unseres passiven Bewusstseins geworden ist.
Also nur Mut, man könnte
positiv überrascht werden!
Der
Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ des Regie-Großmeisters
Stanley Kubrick (1929-1999) hat Ligetis Musik im Jahre 1968
salonfähig und ungemein populär gemacht. Kubrick wollte in weiteren Meisterwerken wie „The Shining“ oder „Eyes wide shut“ auf diese Musik gar nicht mehr verzichten und verwendete diese
als integralen Bestandteil der Spannungsbögen. Auch jüngerer
Regisseure wie
Michael Mann (*1943) in dem Action-Klassiker „Heat“ oder Martin
Scorsese (*1942) in dem Psychothriller „Shutter Island“ bedienten
sich der einzigartigen Wirkung dieser
Musik. Und so wurde Ligets Schaffen sukzessive Teil unserer
Populärkultur.
a) „Atmosphères“
Beginnen
möchte ich mit Ligets bekanntestem Werk: „Atmosphères“.
Diese Orchesterstück erlangte große
Popularität als Beginn von „2001 – Odyssee im Weltraum“. Noch
bevor irgendein Bild erscheint, erklingt diese Musik im Dunkel der
ewigen Nacht, vor Beginn des Seins. Doch wer könnte den Hintergrund
dieses Werkes besser erklären als der Komponist selbst:
„[Atmosphères],
das ist eine Musik die den Eindruck erweckt, als ob sie
kontinuierlich dahinströmen würde, als ob sie keinen Anfang hätte,
auch kein Ende; was wir hören, ist eigentlich ein Ausschnitt von
etwas, das schon immer angefangen hat und noch immer weiterklingen
wird. Typisch für alle diese Stücke ist: Es gibt kaum Zäsuren, die
Musik fließt also wirklich weiter. Das formale Charakteristikum
dieser Musik ist die Statik. Die Musik scheint zu stehen, aber das
ist nur ein Schein; innerhalb dieses Stehens, dieser Statik, gibt es
allmähliche Veränderungen; ich würde hier an eine Wasseroberfläche
denken, auf der ein Bild reflektiert wird; nun trübt sich allmählich
diese Wasseroberfläche, und das Bild verschwindet, aber sehr, sehr
allmählich. Dann glättet sich das Wasser wieder, und wir sehen ein
anderes Bild. [...] Um auf Atmosphères, zurückzukommen: etwas
Atmosphärisches, also Schwebendes, nicht Festgesetztes, fast
Konturloses, ineinander Übergehenedes, anderseits etwas
Atmosphärisches im übertragenen Sinn - ich möchte hoffen, oder
glaube hoffen zu dürfen, dass das Stück, wenn es auch nicht direkt
expressiv ist, so doch auch einen ganz bestimmten Gefühls-, also
affektiven Anteil hat, und das ist eben das Atmosphärische oder
Ambiancehafte. Ja, ich glaube, weiter kann man darüber nicht
sprechen.“ - Ligeti, 1968
Es
könnte sein, dass nun viele den Vorwurf hegen, dass sich diese Art
von Musik nur durch
die Dramaturgie
eines bildgewaltigen Films
erschließen lässt. Das hab ich mir früher
auch immer gedacht, aber jetzt, wo ich zu später Stunde ganz
allein in der dunklen Wohnung sitze,
verfehlt diese
Musik in keinster Weise ihre Wirkung …
… schnell
zum nächsten Werk …
b)
„Sonate für Violoncello solo“
Auch
zeitgenössische Komponisten haben Gefühle und so kam es, dass der
junge Student Ligeti eine ungarische Cellistin heimlich verehrte.
Auch Ligeti war Ungar und sehr mit der traditionellen Musik seiner
Heimat verbunden. Aus diesem Grund schrieb er ein Werk für Cello
solo, das an ungarischer Folklore angelehnt ist und das er seiner
angebeteten Cellistin stolz überreichte. Sie nahm es dankend an,
spielte es aber nie. Pech für sie, Ligeti gab es etwas später einer
anderen, viel berühmteren Cellistin, die es mit Freuden aufführte,
berühmt machte und nun untrennbar mit der Aufführungsgeschichte dieses Werkes verbunden ist. (Was aus der anderen Cellistin wurde, ist nicht überliefert ...)
Wir
hören nun den ersten Satz „Dialogo“
dieses
Meisterwerkes, das die intensive Wechselwirkung zwischen Mann und
Frau auf einem einzigen Streichinstrument darstellen soll.
Oder,
um es mit Rilkes „Liebeslied“ zu sagen:
„Doch
alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie
ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“
Diese
Sammlung von Klavierstücken ist ein faszinierendes Beispiel von
Ligetis minimalistischer
Ökonomie und seinem
Sinn
für Spannungsbögen. In jedem einzelnen Werk dieser elf Stücke
entspinnt sich eine Suche (ricercare
ist
italienisch für suchen)
nach etwas, das möglicherweise nie gefunden wird. Aber vielleicht
genau aus diesem Grunde entsteht eine Grundspannung, dass man bis
zum Ende der Stücke eine
Stecknadel fallen hören könnte.
Das
bekannteste Stück
dieser Sammlung
ist die Nummer zwei. Es ist Teil des Soundtracks von „Eyes wide shut“:
In
dieser Sammlung schrieb Ligeti aber auch Stücke, die sich explizit
an eine ältere Form anlehnen. Hier ist beispielsweise für alle
Tanzfreunde ein Walzer der etwas anderen Art, der unmöglich zu
tanzen ist:
Oder für alle
Barockfreunde eine Hommage an das barocke Ricercar, einem Vorläufer
der Fuge:
d)
Der Begriff der „Mikropolyphonie“
Nun, um den
Begriff der „Mikropolyphonie“, welche Ligeti entscheidend im 20.
Jahrhundert entwickelt hatte, zu erklären, möchte ich etwas
grundsätzlicher bei
den Ursprüngen anfangen.
Wie so vieles
in der klassischen
Musik hat auch diese Kompositionsweise ihren Ausgang in der
Renaissance, namentlich bei dem englischen Komponisten Thomas Tallis
(1505-1585). Tallis komponierte ein herausragendes, monumentales
Vokalwerk namens „Spem
in alium” (“Hoffnung auf einen anderen”), das
auf seine Weise revolutionär war.
(Ich möchte mich an dieser Stelle bei der jungen Dame bedanken, die
mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieses Werk im Rahmen des
Erotik-Bestsellers “Shades of Grey" Verwendung fand ... ein Beispiel mehr, welch facettenreiche Anwendung Renaissance-Musik finden kann ...)
Wie
auch immer, dieses Werk gilt als Höhepunkt der Polyphonie in der
Renaissance. Hier verschmelzen
acht Chöre mit je fünf verschiedenen Stimmlagen zu einem
übergeordneten Ganzen. Das
Stück beginnt mit einer einzelnen Stimme, der sich immer mehr
anschließen und sich so zu einer Einheit verschmelzen, welche die
Melodie durch die verschiedenen Chöre trägt. Diese Chöre kulminieren und führen zu
einem Höhepunkt, bei dem alle 40 Stimmen gemeinsam
erklingen.
Nach
diesem Klimax
klingt
die Intensität durch Verschwinden einzelner Stimmen wieder sanft ab, sodass
ein
neuer Höhepunkt in
variierter Form sich
formen
kann.
Dadurch
enstehen immer neue Kontraste
und Klangteppiche, die einem in ihren Bann ziehen und
eine neue Welt offenbaren.
Die räumliche Klangwirkung ist unübertroffen und gehört zu den
spirituellen Meisterwerken der Renaissance-Musik:
Und
wenn man genau hinhört, so
tut
man sich schwer, zu entscheiden, ob das Werk
polyphon
ist oder von einer übergeordneten Homophonie getragen wird. Und
genau das war der Ausgangspunkt für Ligetis Mikropolyphonie in
Werken wie dem
bereits angeführten
“Atmosphères” und
auch
dem
folgenden
“Lux
aeterna”.
Hier sind die komplexen Polyphonien einzelner
Teile, welche ohne
rasche Harmoniewechsel ineinander
verschmelzen,
in einem
musikalischen Fluss eingebettet.
Ligeti
sprach von einer unscharfen Vernebelung, die sich zu einer neuen Form
gestaltet.
Die
mystische
Entrücktheit von
Ligetis
“Lux
aeterna”
scheint
Raum und Zeit enthoben und wurde
stilbildend für die zeitgenössische Musik
und
das
Filmgenre
(auch dieses Werk ist Bestandteil von Kubricks “2001 – Odysse im
Weltraum”). Hier
wird vorgeführt,
was für essenzielle Gedanken der Renaissance uns
heute
in neuem Kleide erneut
begegnen, erneut
beschäftigen
und erneut
die
Faszination offenbaren,
die sie nie verloren haben:
Ligeti ist die zeitgenössische Antwort und die konsequente Weiterführung vergangener Epochen. Seine Wurzeln reichen weit zurück und seine Blüten erstrahlen heute in noch nie dagewesenem Licht. Das ist die Frucht, die uns Ligetis "Moderne mit Vergangenheit" zur Ernte bietet.
Wer sie zu ernten wagt, wird reich beschenkt!
Wer sie zu ernten wagt, wird reich beschenkt!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen