Montag, 25. November 2013

„Ligeti – Moderne mit Vergangenheit“


Dieser Artikel handelt von einem ungarischen Komponisten unserer zeitgenössischen Musik: György Ligeti (1923-2006). Viele werden nun erschrecken und befürchten, dass klassische Musik unserer Gegenwart unhörbar sei. Aber bevor nun alle zu einem anderen Artikel über Meister entfernterer Epochen klicken, sei zur Beruhigung erwähnt, dass sich Ligetis Musik durch ihre innere Spannung, ihre mystische Harmonik und Polyphonie im Filmgenre etabliert hat und bereits Teil unseres passiven Bewusstseins geworden ist.

Also nur Mut, man könnte positiv überrascht werden!

Der Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ des Regie-Großmeisters Stanley Kubrick (1929-1999) hat Ligetis Musik im Jahre 1968 salonfähig und ungemein populär gemacht. Kubrick wollte in weiteren Meisterwerken wie „The Shining“ oder „Eyes wide shut“ auf diese Musik gar nicht mehr verzichten und verwendete diese als integralen Bestandteil der Spannungsbögen. Auch jüngerer Regisseure wie Michael Mann (*1943) in dem Action-Klassiker „Heat“ oder Martin Scorsese (*1942) in dem Psychothriller „Shutter Island“ bedienten sich der einzigartigen Wirkung dieser Musik. Und so wurde Ligets Schaffen sukzessive Teil unserer Populärkultur.


 
a) „Atmosphères“

Beginnen möchte ich mit Ligets bekanntestem Werk: „Atmosphères“. Diese Orchesterstück erlangte große Popularität als Beginn von „2001 – Odyssee im Weltraum“. Noch bevor irgendein Bild erscheint, erklingt diese Musik im Dunkel der ewigen Nacht, vor Beginn des Seins. Doch wer könnte den Hintergrund dieses Werkes besser erklären als der Komponist selbst:

[Atmosphères], das ist eine Musik die den Eindruck erweckt, als ob sie kontinuierlich dahinströmen würde, als ob sie keinen Anfang hätte, auch kein Ende; was wir hören, ist eigentlich ein Ausschnitt von etwas, das schon immer angefangen hat und noch immer weiterklingen wird. Typisch für alle diese Stücke ist: Es gibt kaum Zäsuren, die Musik fließt also wirklich weiter. Das formale Charakteristikum dieser Musik ist die Statik. Die Musik scheint zu stehen, aber das ist nur ein Schein; innerhalb dieses Stehens, dieser Statik, gibt es allmähliche Veränderungen; ich würde hier an eine Wasseroberfläche denken, auf der ein Bild reflektiert wird; nun trübt sich allmählich diese Wasseroberfläche, und das Bild verschwindet, aber sehr, sehr allmählich. Dann glättet sich das Wasser wieder, und wir sehen ein anderes Bild. [...] Um auf Atmosphères, zurückzukommen: etwas Atmosphärisches, also Schwebendes, nicht Festgesetztes, fast Konturloses, ineinander Übergehenedes, anderseits etwas Atmosphärisches im übertragenen Sinn - ich möchte hoffen, oder glaube hoffen zu dürfen, dass das Stück, wenn es auch nicht direkt expressiv ist, so doch auch einen ganz bestimmten Gefühls-, also affektiven Anteil hat, und das ist eben das Atmosphärische oder Ambiancehafte. Ja, ich glaube, weiter kann man darüber nicht sprechen.“ - Ligeti, 1968




Es könnte sein, dass nun viele den Vorwurf hegen, dass sich diese Art von Musik nur durch die Dramaturgie eines bildgewaltigen Films erschließen lässt. Das hab ich mir früher auch immer gedacht, aber jetzt, wo ich zu später Stunde ganz allein in der dunklen Wohnung sitze, verfehlt diese Musik in keinster Weise ihre Wirkung …

schnell zum nächsten Werk


b) „Sonate für Violoncello solo“

Auch zeitgenössische Komponisten haben Gefühle und so kam es, dass der junge Student Ligeti eine ungarische Cellistin heimlich verehrte. Auch Ligeti war Ungar und sehr mit der traditionellen Musik seiner Heimat verbunden. Aus diesem Grund schrieb er ein Werk für Cello solo, das an ungarischer Folklore angelehnt ist und das er seiner angebeteten Cellistin stolz überreichte. Sie nahm es dankend an, spielte es aber nie. Pech für sie, Ligeti gab es etwas später einer anderen, viel berühmteren Cellistin, die es mit Freuden aufführte, berühmt machte und nun untrennbar mit der Aufführungsgeschichte dieses Werkes verbunden ist. (Was aus der anderen Cellistin wurde, ist nicht überliefert ...)

Wir hören nun den ersten Satz „Dialogo“ dieses Meisterwerkes, das die intensive Wechselwirkung zwischen Mann und Frau auf einem einzigen Streichinstrument darstellen soll.

Oder, um es mit Rilkes „Liebeslied“ zu sagen:

„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“




c) „Musica ricercata“

Diese Sammlung von Klavierstücken ist ein faszinierendes Beispiel von Ligetis minimalistischer Ökonomie und seinem Sinn für Spannungsbögen. In jedem einzelnen Werk dieser elf Stücke entspinnt sich eine Suche (ricercare ist italienisch für suchen) nach etwas, das möglicherweise nie gefunden wird. Aber vielleicht genau aus diesem Grunde entsteht eine Grundspannung, dass man bis zum Ende der Stücke eine Stecknadel fallen hören könnte.

Das bekannteste Stück dieser Sammlung ist die Nummer zwei. Es ist Teil des Soundtracks von „Eyes wide shut“:




In dieser Sammlung schrieb Ligeti aber auch Stücke, die sich explizit an eine ältere Form anlehnen. Hier ist beispielsweise für alle Tanzfreunde ein Walzer der etwas anderen Art, der unmöglich zu tanzen ist:




Oder für alle Barockfreunde eine Hommage an das barocke Ricercar, einem Vorläufer der Fuge:




d) Der Begriff der „Mikropolyphonie“

Nun, um den Begriff der „Mikropolyphonie“, welche Ligeti entscheidend im 20. Jahrhundert entwickelt hatte, zu erklären, möchte ich etwas grundsätzlicher bei den Ursprüngen anfangen. Wie so vieles in der klassischen Musik hat auch diese Kompositionsweise ihren Ausgang in der Renaissance, namentlich bei dem englischen Komponisten Thomas Tallis (1505-1585). Tallis komponierte ein herausragendes, monumentales Vokalwerk namens „Spem in alium” (“Hoffnung auf einen anderen”), das auf seine Weise revolutionär war. (Ich möchte mich an dieser Stelle bei der jungen Dame bedanken, die mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieses Werk im Rahmen des Erotik-Bestsellers “Shades of Grey" Verwendung fand ... ein Beispiel mehr, welch facettenreiche Anwendung Renaissance-Musik finden kann ...)

Wie auch immer, dieses Werk gilt als Höhepunkt der Polyphonie in der Renaissance. Hier verschmelzen acht Chöre mit je fünf verschiedenen Stimmlagen zu einem übergeordneten Ganzen. Das Stück beginnt mit einer einzelnen Stimme, der sich immer mehr anschließen und sich so zu einer Einheit verschmelzen, welche die Melodie durch die verschiedenen Chöre trägt. Diese Chöre kulminieren und führen zu einem Höhepunkt, bei dem alle 40 Stimmen gemeinsam erklingen. Nach diesem Klimax klingt die Intensität durch Verschwinden einzelner Stimmen wieder sanft ab, sodass ein neuer Höhepunkt in variierter Form sich formen kann. Dadurch enstehen immer neue Kontraste und Klangteppiche, die einem in ihren Bann ziehen und eine neue Welt offenbaren. Die räumliche Klangwirkung ist unübertroffen und gehört zu den spirituellen Meisterwerken der Renaissance-Musik:




Und wenn man genau hinhört, so tut man sich schwer, zu entscheiden, ob das Werk polyphon ist oder von einer übergeordneten Homophonie getragen wird. Und genau das war der Ausgangspunkt für Ligetis Mikropolyphonie in Werken wie dem bereits angeführten “Atmosphères” und auch dem folgenden “Lux aeterna”. Hier sind die komplexen Polyphonien einzelner Teile, welche ohne rasche Harmoniewechsel ineinander verschmelzen, in einem musikalischen Fluss eingebettet. Ligeti sprach von einer unscharfen Vernebelung, die sich zu einer neuen Form gestaltet.

Die mystische Entrücktheit von LigetisLux aeterna” scheint Raum und Zeit enthoben und wurde stilbildend für die zeitgenössische Musik und das Filmgenre (auch dieses Werk ist Bestandteil von Kubricks “2001 – Odysse im Weltraum”). Hier wird vorgeführt, was für essenzielle Gedanken der Renaissance uns heute in neuem Kleide erneut begegnen, erneut beschäftigen und erneut die Faszination offenbaren, die sie nie verloren haben:




Ligeti ist die zeitgenössische Antwort und die konsequente Weiterführung vergangener Epochen. Seine Wurzeln reichen weit zurück und seine Blüten erstrahlen heute in noch nie dagewesenem Licht. Das ist die Frucht, die uns Ligetis "Moderne mit Vergangenheit" zur Ernte bietet. 

Wer sie zu ernten wagt, wird reich beschenkt!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen