Freitag, 26. März 2021

"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken X"



„Mein Zweck machte es jedoch nöthig, und man wird es umso weniger mißbilligen, wenn man die selten genugsam erkannte Wichtigkeit und den hohen Werth der Kunst sich vergegenwärtigt, erwägend, daß wenn […] wir die Kunst als die höhere Steigerung, die vollkommenere Entwickelung von allen Diesem anzusehn haben, da sie wesentlich eben das Selbe, nur koncentrirter, vollendeter, mit Absicht und Besonnenheit leistet, was die sichtbare Welt selbst, und sie daher, im vollen Sinne des Wortes, die Blüthe des Lebens genannt werden mag. Ist die ganze Welt als Vorstellung nur die Sichtbarkeit des Willens, so ist die Kunst die Verdeutlichung dieser Sichtbarkeit, die Camera obscura, welche die Gegenstände reiner zeigt und besser übersehn und zusammenfassen läßt, das Schauspiel im Schauspiel, die Bühne auf der Bühne im »Hamlet«.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 3 §52






"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken IX"



„So finden wir, daß dennoch eine schöne Kunst von unserer Betrachtung ausgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte, da im systematischen Zusammenhang unserer Darstellung gar keine Stelle für sie passend war: es ist die Musik. Sie steht ganz abgesondert von allen andern. Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgendeiner Idee der Wesen in der Welt: dennoch ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft.“ 

„Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.“ 

„Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergiebt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Quaal.“ “


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 3 §52






"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken VII"



„Besonders aber war es für die genialen Maler Italiens, im 15. und 16. Jahrhundert, ein schlimmer Stern, daß sie in dem engen Kreise, an den sie für die Wahl der Vorwürfe willkürlich gewiesen waren, zu Miseren aller Art greifen mußten: denn das Neue Testament ist, seinem historischen Theile nach, für die Malerei fast noch ungünstiger als das Alte, und die darauf folgende Geschichte der Märtyrer und Kirchenlehrer gar ein unglücklicher Gegenstand. Jedoch hat man von den Bildern, deren Gegenstand das Geschichtliche, oder Mythologische des Judenthums und Christenthums ist, gar sehr diejenigen zu unterscheiden, in welchen der eigentliche, d.h. der ethische Geist des Christenthums für die Anschauung offenbart wird, durch Darstellung von Menschen, welche dieses Geistes voll sind. Diese Darstellungen sind in der That die höchsten und bewunderungswürdigsten Leistungen der Malerkunst: auch sind sie nur den größten Meistern dieser Kunst, besonders dem Raphael und dem Correggio, diesem zumal in seinen früheren Bildern, gelungen. Gemälde dieser Art sind eigentlich gar nicht den historischen beizuzählen: denn sie stellen meistens keine Begebenheit, keine Handlung dar; sondern sind bloße Zusammenstellungen von Heiligen, dem Erlöser selbst, oft noch als Kind, mit seiner Mutter, Engeln u.s.w. In ihren Mienen, besonders den Augen, sehn wir den Ausdruck, den Wiederschein, der vollkommensten Erkenntniß, derjenigen nämlich, welche nicht auf einzelne Dinge gerichtet ist, sondern die Ideen, also das ganze Wesen der Welt und des Lebens, vollkommen aufgefaßt hat, welche Erkenntniß in ihnen auf den Willen zurückwirkend, nicht, wie jene andere, Motive für denselben liefert, sondern im Gegentheil ein Quietiv alles Wollens geworden ist, aus welchem die vollkommene Resignation, die der Innerste Geist des Christenthums wie der Indischen Weisheit ist, das Aufgeben alles Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung des Willens und mit ihm des ganzen Wesens dieser Welt, also die Erlösung, hervorgegangen ist. So sprachen jene ewig preiswürdigen Meister der Kunst durch ihre Werke die höchste Weisheit anschaulich aus. Und hier ist der Gipfel aller Kunst, welche, nachdem sie den Willen, in seiner adäquaten Objektität, den Ideen, durch alle Stufen verfolgt hat, von den niedrigsten, wo ihn Ursachen, dann wo ihn Reize und endlich wo ihn Motive so mannigfach bewegen und sein Wesen entfalten, nunmehr endigt mit der Darstellung seiner freien Selbstaufhebung durch das eine große Quietiv, welches ihm aufgeht aus der vollkommensten Erkenntniß seines eigenen Wesens.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 3 §48






"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken VIII"



„Dennoch bildet in der lyrischen Poesie echter Dichter sich das innere der ganzen Menschheit ab, und Alles, was Millionen gewesener, seiender, künftiger Menschen, in denselben, weil stets wiederkehrenden, Lagen, empfunden haben und empfinden werden, findet darin seinen entsprechenden Ausdruck. Weil jene Lagen, durch die beständige Wiederkehr, eben wie die Menschheit selbst, als bleibende dastehn und stets dieselben Empfindungen hervorrufen, bleiben die lyrischen Produkte echter Dichter Jahrtausende hindurch richtig, wirksam und frisch. Ist doch überhaupt der Dichter der allgemeine Mensch: Alles, was irgendeines Menschen Herz bewegt hat, und was die menschliche Natur, in irgendeiner Lage, aus sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet – ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur. Daher kann der Dichter so gut die Wollust, wie die Mystik besingen, Anakreon, oder Angelus Silesius seyn, Tragödien, oder Komödien schreiben, die erhabene, oder die gemeine Gesinnung darstellen, – nach Laune und Beruf. Demnach darf Niemand dem Dichter vorschreiben, daß er edel und erhaben, moralisch, fromm, christlich, oder Dies oder Das seyn soll, noch weniger ihm vorwerfen, daß er Dies und nicht jenes sei. Er ist der Spiegel der Menschheit, und bringt ihr was sie fühlt und treibt zum Bewußtseyn.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 3 §51






Montag, 22. März 2021

"Arthur Schopenhauer - Nachtgedanken VI"



„Rein a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist gar keine Erkenntniß des Schönen möglich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, a priori, wiewohl von ganz anderer Art, als die uns a priori bewußten Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Diese betreffen die allgemeine Form der Erscheinung als solcher, wie sie die Möglichkeit der Erkenntniß überhaupt begründet, das allgemeine, ausnahmslose Wie des Erscheinens, und aus dieser Erkenntniß geht Mathematik und reine Naturwissenschaft hervor: jene andere Erkenntnißart a priori hingegen, welche die Darstellung des Schönen möglich macht, betrifft, statt der Form, den Inhalt der Erscheinungen, statt des Wie, das Was des Erscheinens. Daß wir Alle die menschliche Schönheit erkennen, wenn wir sie sehn, im ächten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehn hat, und die Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen adäquate Objektivation, auf ihrer höchsten Stufe, hier beurtheilt und gefunden werden soll, ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der That eine Anticipation Dessen, was die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzustellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade der Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihr in tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Natur gegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: »Das war es, was du sagen wolltest!« und »Ja, Das war es!« hallt es aus dem Kenner wider. – Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Anticipation ist es uns Allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im Einzelnen wirklich gelungen ist, zu erkennen. Diese Anticipation ist das Ideal: es ist die Idee, sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird. Die Möglichkeit solcher Anticipation des Schönen a priori im Künstler, wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner, liegt darin, daß Künstler und Kenner das Ansich der Natur, der sich objektivirende Wille, selbst sind. Denn nur vom Gleichen, wie Empedokles sagte, wird das Gleiche erkannt: nur Natur kann sich selbst verstehn; nur Natur wird sich selbst ergründen; aber auch nur vom Geist wird der Geist vernommen.“


Arthur Schopenhauer - "Die Welt als Wille und Vorstellung" 
- aus Buch 3 §45