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Montag, 13. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Wagner trifft Schopenhauer“

 

Richard Wagner (1813-1883) schuf mit „Tristan und Isolde“ eines der bedeutendsten Gesamtkunstwerke der Musikgeschichte. Anlass gaben nicht nur bekannte mittelalterliche und romantische Dichtungen, sondern auch die unglückliche Liebe zu Mathilde Wesendonck. Eine Quelle findet seltener Erwähnung, kann aber an Einfluss auf das Werk kaum überschätzt werden: Es ist die Philosophie Arthur Schopenhauers (1788-1860), mit der sich Wagner während der Entstehungszeit auseinanderzusetzen begann. 

 

 

 

Wagner las während der Konzeption von „Tristan und Isolde“ (1854) Schopenhauers 1819 veröffentlichtes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (WWV) zum ersten Mal. Diese intellektuelle Auseinandersetzung schlug sich nicht nur in Briefwechsel jener Zeit nieder, sondern auch in späteren Schriften, in denen Wagner seine eigene Musik in Worte zu fassen versuchte, um ein unvorbereitetes Publikum Gehalt und Intention seiner Musik zu vermitteln. So schrieb er als Programmbeilage der Uraufführung des Vorspieles zum ersten Akt folgende eindrucksvollen Worte: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

 

 

Inhaltlich schwingt hier sehr viel von Schopenhauers Philosophie mit: Sprach Wagner von Sehnsucht und Verlangen, die sich immer neu gebärden, so nahm Schopenhauer dies in seinem Hauptwerk sinngemäß rund 35 Jahre vorweg, als er schrieb: 

„Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens.“ (aus WWV, Buch 4 §56)  

An anderer Stelle heißt es

„Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Noth.“ (aus WWV, Buch 4 §57) 

Doch damit nicht genug: Wagner erkannte bereits zur Zeit der Konzeption von „Tristan und Isolde“ den Kern von Schopenhauers Philosophie. Dies belegt ein aufschlussreicher Brief an Franz Liszt (1811-1886) im Dezember 1854. In diesem Brief deutet Wagner nicht nur seine seelischen Qualen aufgrund der unerfüllten Liebe zu Mathilde Wesendonck an, sondern erwähnt namentlich auch sein philosophisches Erweckungserlebnis durch Schopenhauers Philosophie, die seinem Leben neue Impulse und Einsichten geschenkt habe. Wagner wies hierbei nachdrücklich auf die Verneinung des Willens zum Leben als philosophische Quintessenz hin, die ihm Trost spende, und erwähnte bei der Gelegenheit auch das im Entstehen begriffene und von Schopenhauers Gedankenwelt durchdrungene Werk „Tristan und Isolde“

»Neben dem – langsamen – Vorrücken meiner Musik habe ich mich jetzt ausschließlich mit einem Menschen beschäftigt, der mir, wenn auch nur literarisch, wie ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit gekommen ist. Es ist Arthur Schopenhauer, der größte Philosoph seit Kant, dessen Gedanken er, wie er sich ausdrückt, vollständig erst zu Ende gedacht hat. Die deutschen Professoren haben ihn – wohlweislich – 40 Jahre lang ignoriert: neulich wurde er, zur Schmach Deutschlands, von einem englischen Kritiker entdeckt. Was sind vor diesem alle Hegels etc. für Charlatans! Sein Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er natürlich nicht neu, und Niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat ihn mir erst dieser Philosoph. Wenn ich auch die Stürme meines Herzens, den furchtbaren Krampf, mit dem es sich – wider Willen – an die Lebenshoffnung anklammerte, zurückdenke, ja wenn sie noch jetzt oft zum Orkan anschwellen, – so habe ich dagegen doch nun ein Quietiv gefunden, das mir endlich in wachen Nächten einzig zu Schlaf verhilft; es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod: volle Bewusstlosigkeit, gänzliches Nichtsein, Verschwinden aller Träume – einzigste endliche Erlösung … Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll: ich habe im Kopfe einen „Tristan und Isolde“ entworfen, die einfachste, aber vollblütigste Konzeption; mit der schwarzen Flagge, die am Ende weht, will ich mich zudecken, um – zu sterben…«

Der Brief – wohl in einer emotionalen Ausnahmesituation geschrieben – fand in einer späteren (nach Abschluss der Oper verfassten) autobiographischen Schrift von 1864 seine Bestätigung, als Wagner rückblickend noch einmal den Zusammenhang zwischen der Entstehung von „Tristan und Isolde“ und der Entdeckung von Schopenhauers Philosophie betonte:

»Es war wohl zum Teil die ernste Stimmung, in welche mich Schopenhauer versetzt hatte und die nun nach einem ekstatischen Ausdrucke ihrer Grundzüge drängte, was mir die Konzeption eines „Tristan und Isolde“ eingab.« 

Wagner bringt also selbst sein Musikdrama „Tristan und Isolde“ eng mit der Philosophie Schopenhauers in Verbindung und führt dabei bedeutsame Schlagworte wie „Verneinung des Willens zum Leben“ und „Quietiv“ an, die unmittelbar der Lektüre entnommen waren. Hierfür muss man wissen, dass Schopenhauer unter dem „Willen“ eine uns allen eingeschriebene, allgegenwärtige Kraft in Form eines blinden Dranges verstand, dem wir – sowie unsere Vorstellungswelt – unterworfen sind und der wiederum Existenzgrund für alles Seiende ist. Auf die Möglichkeit sich dieses Willens zu entledigen, um sich letztendlich zu erlösen, zielt die Kernaussage von Schopenhauers Hauptwerk, wo die beiden von Wagner verwendeten Schlagworte ausgeführt werden. Entsprechend brächte ein „Quietiv alles und jedes Wollens“ folgendes Ergebnis:

„Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit … Vielleicht ist also hier zum ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgesprochen als Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens geworden … Allem Bisherigen zufolge geht die Verneinung des Willens zum Leben, welche Dasjenige ist, was man gänzliche Resignation oder Heiligkeit nennt, immer aus dem Quietiv des Willens hervor, welches die Erkenntniß seines innern Widerstreits und seiner wesentlichen Nichtigkeit ist, die sich im Leiden alles Lebenden aussprechen … Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken. Bis dahin ist Jeder nichts Anderes, als dieser Wille selbst, dessen Erscheinung eine hinschwindende Existenz, ein immer nichtiges, stets vereiteltes Streben und die dargestellte Welt voll Leiden ist, welcher Alle unwiderruflich auf gleiche Weise angehören.“ (aus WWV, Buch 4 §68)

An anderer Stelle bringt Schopenhauer die Verneinung des Willens in Verbindung mit der Überwindung des oben beschriebenen leidvollen Kreislaufes des vergeblichen Strebens nach Befriedigung der Wünsche:

„Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. – Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehn abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden.“ (aus WWV, Buch 4 §71)

Schopenhauers wortgewaltige Metaphern sind kraftvoll und anschaulich zugleich. Dass er hier das Bild von „Meeresstille“ bemüht, mag auch für den Entstehungsprozess von „Tristan und Isolde“ nicht ganz ohne Bedeutung sein, schließlich ist die Szenerie des gesamten Musikdramas das Meer (der erste Akt spielt sogar ausschließlich auf einem Schiff). Und während allen drei Akten gibt es wohl nichts, wonach sich Tristan und Isolde mehr sehnten als eine „gänzliche Meeresstille des Gemüths“, am besten in trauter Zweisamkeit. In diesem Zusammenhang ist es notwendig einen weiteren Begriff Schopenhauers anzuführen: „principium individuationis“. Dieser bezeichnet die von anderen getrennte Einzelexistenz, die auf dieser Welt jedem eingeschrieben ist. Demnach ist jedes konkret Seiende, was in raum-zeitlicher Form als Erscheinung existiert und leidet, nur die äußere Gebärdung des intrinsisch waltenden Willens, ein Effekt dieses „Individuationsprinzips“. Jedes Individuum ist davon betroffen. Und gerade Tristan und Isolde, die inniger als alle anderen nach höherer Vereinigung – jenseits des allgegenwärtigen Leids – streben, kämpfen offen gegen dieses Prinzip der Trennung an. Beider – Tristans und Isoldes – „Ich“ will sich schließlich mit dem „Du“ des jeweils anderen zu einem höheren „Wir“ jenseits von Raum und Zeit für immer vereinen, um ihre Individualität entgegen des Prinzips transzendental aufzulösen. In weiterer Folge ist es interessant, dass Schopenhauer zur Veranschaulichung des „principium individuationis“ erneut eine Meeres-Metapher bemüht, als würde er Wagners späteres Musikdrama nicht nur inhaltlich, sondern auch szenisch vorwegnehmen wollen:

„Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung. Die unbegränzte Welt, voll Leiden überall, in unendlicher Vergangenheit, in unendlicher Zukunft, ist ihm fremd, ja ist ihm ein Mährchen: seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn: und dies zu erhalten, thut er Alles, solange nicht eine bessere Erkenntniß ihm die Augen öffnet. Bis dahin lebt bloß in der Innersten Tiefe seines Bewußtseins die ganz dunkle Ahndung, daß ihm jenes Alles doch wohl eigentlich so fremd nicht ist, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat, vor welchem das principium individuationis ihn nicht schützen kann.“ (aus WWV, Buch 4 §63)

Auch für die Furcht vor dem Tod, welche die beiden Liebenden ebenso wie das Individuationsprinzip überwinden, verwendet Schopenhauer an anderer Stelle ein illustrierendes Meeresgleichnis:

„Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. – Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.“ (aus WWV, Buch 4 §57)
 

Abschließend sei noch Schopenhauers Einfluss auf Wagners „Tristan und Isolde“ durch eine Analyse von Thomas Mann (1875-1955) beleuchtet. Dieser verehrte beide älteren Meister und verfasste umfangreiche Essays über diese. Eines aus dem Jahre 1933 trägt den Titel „Leiden und Größe Richard Wagners“ und beinhaltet einen geistreichen Gedanken, der Schopenhauers „Willen“ im Musikdrama plausibel und konkret zu verorten weiß: Thomas Mann erkennt diesen im unaufgelösten "Sehnsuchtsmotiv" (wovon der „Tristan-Akkord“ zu Beginn des Vorspiels ein Teil davon ist), das im gesamten Musikdrama unterschwellig – wie es auch der Wille in allem Seienden tut – als elementare Grundeinheit stets präsent und wirkmächtig waltet und so das Werk von Anfang bis Ende durchdringt (und erst ganz zum Schluss seine Auflösung – als Verneinung des Willens zum Leben? – erfährt): 

»Schopenhauers System ist eine Willensphilosophie von erotischem Grundcharakter, und ebensofern sie das ist, ist der Tristan erfüllt, durchtränkt von ihr … Wagner ist im Tristan nicht weniger Mythopoet als im Ring: auch in dem Liebesdrama handelt es sich um einen Weltentstehungsmythos. „Sehnsüchtig“, schrieb er 1860 aus Paris an Mathilde Wesendonck, „blicke ich oft nach dem Lande Nirwana. Doch Nirwana wird mir schnell wieder Tristan; sie kennen die buddhistische Weltentstehungstheorie. Ein Hauch trübt die Himmelsklarheit … [hier notierte Wagner die chromatisch, vom Tristan-Akkord ausgehende Melodielinie, die in ihrem aufsteigenden und unaufgelösten Charakter Klang gewordene Sehnsucht darstellt] … das schwillt an, verdichtet sich und in undurchdringlicher Massenhaftigkeit steht endlich die ganze Welt wieder vor mir.“ Es ist der symbolhafte Tongedanke, den man als „Sehnsuchtsmotiv“ zu bezeichnen pflegt, und der in der Kosmogonie des Tristan den Anfang aller Dinge bedeutet … Es [Das Sehnsuchtsmotiv] ist Schopenhauers „Wille“, repräsentiert durch das, was Schopenhauer den „Brennpunkt des Willens“ nannte, das Liebesverlangen. Und diese mythische Gleichsetzung des süßleidig-weltschöpferischen Prinzips, das zuerst die Himmelsklarheit des Nichts trübte, mit dem sexuellen Begehren ist dermaßen schopenhauerisch, dass die Ableugnung der Adepten zum wunderlichen Eigensinn wird. «

Ganz spannend ist auch Thomas Manns nüchterne, schonungslose und doch vollkommen zutreffende Erkenntnis, dass es sich bei „Tristan und Isolde“ – er bezeichnete es als „opus metaphysicum“ – um ein vollkommen areligiöses Werk handele: 

»Es ist übrigens von großem Interesse, wie in dem Drama der Liebesmythus geistig festgehalten wird und von jeder historisch-religiösen Trübung oder Störung bewahrt bleibt … Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, - niemand nennt ihn, ruft ihn an. Es gibt ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik, den kosmogonischen Mythos, in dem das Sehnsuchtsmotiv die Welt hervorruft. «

Diese atheistische Metaphysik wohnt auch Schopenhauers Philosophie inne, die keine Heilslehre, Jenseitsszenarien oder allmächtige Götter verspricht, sondern nur in der inneren Negation einen Weg sieht, um aus der Welt der Täuschung und Trennung, wo das „principium individuationis“ herrscht, herauszukommen, damit das Leid in Folge der wiederkehrenden Sehnsucht endlich ein Ende findet und so das letzte große Ziel erreicht werden könne, das „Nichts“. So beendet Schopenhauer sein Hauptwerk mit den schonungslosen Worten:

„Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“ (aus WWV, Buch 4 §71)

Wagner folgt zwar Schopenhauers Intention am Ende des Musikdramas, dass mit Verneinung des Willens zum Leben auch die Sehnsucht erlischt (wie in den letzten Takten anhand der sich auflösenden Dissonanzen des Sehnsuchtsmotives eindrucksvoll dargestellt), dennoch geht er über die Philosophie hinaus, da er das Unbeschreibliche – Schopenhauers „Nichts“ – zum positiv erlebbaren Ereignis werden lässt: Die Aufhebung der Einzelexistenz wird am Ende durch Isoldes sogenannte „Verklärung“ (der irreführende Begriff „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) auf betörende Weise Klang. Ob sie dabei eine „Verneinung des Willens zum Leben“ vollführt, dem tatsächlich Schopenhauers „Nichts“ folgt, kann nicht geklärt werden. Es wäre wohl der strahlendste und schönste Ausdruck, der je für das „Nichts“ musikalisch gefunden wurde. Die spannendere Frage ist, ob sich die „Verklärung“ überhaupt auf Isolde bezieht, oder ob diese – abseits des Bühnengeschehens – vielmehr in den Köpfen des Publikums geschieht: Vielleicht „verklärt“ sich Isolde nur dort – in unseren Köpfen – zu einem Symbol der transzendierten Liebe, dem wahren Ursprung ihrer Unsterblichkeit und einer Hoffnung, die nicht mehr durch Worte, nur noch durch Musik vermittelt werden kann.






Sonntag, 12. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Vorspiel mit Happy End“


Ein Akkord ist nichts weiter als ein harmonischer Zusammenhang mehrerer Töne. Die Kombinationsmöglichkeiten hierfür scheinen schier unendlich zu sein. Und dennoch hat einer dieser Klanggebilde ganz besonders Geschichte geschrieben: Es handelt sich um den ersten Akkord der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner (1813-1883), den „Tristan-Akkord“. Dieser gehört nicht nur zu den meistanalysierten Musikformeln der Welt, sondern birgt auch den Schlüssel zu einer Tiefendimension an Ausdruck, die es zuvor nicht gegeben hat. So schrieb er nicht nur Musikgeschichte, sondern veränderte diese zugleich für immer. 

 


Um die Bedeutung des „Tristan-Akkordes“ zu ermessen, ist es notwendig zu wissen, worum es in „Tristan und Isolde“ überhaupt geht: Es ist Wagners düstere Meditation über Liebe und Tod, die Abkehr vom grellen Tag zur dunklen Nacht hin. Nicht der Blick nach außen auf die banale Oberflächlichkeit der sichtbaren Dinge ist das Thema, sondern jener nach innen, in die Tiefen der Welt des Unterbewussten, wo der Eros waltet und die Sehnsucht stets nach Erfüllung strebt. Diese verborgenen Urgründe der menschlichen Seele werden als tiefere Wirklichkeit dargestellt, die das innere Wesen der äußeren Erscheinungen durchdringt und sich dem fühlenden Subjekt nur im Empfinden – nicht aber im Verstande – offenbart. Wagner findet hierfür eine neue, abgründige, harmonisch wie melodisch kühne Musiksprache, die dies auszudrücken vermag. Und ebendiese ist es, die der äußeren Handlung innere Tiefen verleiht und das Unterbewusste greifbar macht. Die Musik wird des Unsagbaren Stimme. 

All dies ist bereits dem Vorspiel zum ersten Akt – und in weiterer Folge dem gesamten Musikdrama – eingeschrieben. Für eine erste Vorabaufführung des Vorspieles Anfang der 1860er Jahre fand Wagner im Programmheft sehr eindrückliche und aufschlussreiche Worte, die versuchen dem Publikum Gehalt und Bedeutung seiner ebenso intensiven wie bedeutungsschweren Musik näherzubringen: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

Die alles durchdringende Grundstimmung des Musikdramas ist also – wie Wagner mehrfach betont – die Sehnsucht. Doch diese ist kein melancholisches Gefühl, das um sich selbst kreist, sondern durchaus zielgerichtet: Sie ist ihrem innersten Wesen nach das Verlangen nach Entgrenzung, nach Überwindung des individuellen Lebens über das trennende „Ich“ hinaus zu etwas Größerem, etwas Allumfassenderen hin. Sie ist der Wunsch nach einer anderen Daseinsform, einem aufgelösten „Wir“ in einem höheren Ganzen, einer neuen metaphysischen Dimension. Um dies darzustellen, wählt Wagner die anschaulichste Erscheinungsform dieses Dranges nach Entgrenzung: die persönliche Liebe zweier Menschen, einem Bund, der die Schranken des „Ichs“ zu überwinden sucht, indem ein „Du“ gefunden wird, welches das alte „Ich“ in eine höhere Einheit transzendiert, erweitert, vervollkommnet. Dieses Streben ist in den beiden Liebenden, Tristan und Isolde, derart stark, dass sie dieses „Wir“, diese vollständige Entgrenzung und letzte Vereinigung nicht mehr im Irdischen verorten, sondern jenseits von Raum und Zeit nach Entledigung ihrer prekären Daseinsform. Diese tiefe Sehnsucht und die Unmöglichkeit sie in dieser Welt zu befriedigen sind die philosophischen Kernthemen des Musikdramas, dessen Grundstimmung bereits im Vorspiel zum ersten Akt auf betörend abgründige Weise vorweggenommen wird:



Doch wie gelingt es Wagner als Träger des tiefgreifend philosophischen Gehalts eine so radikal neue und eindringliche Musiksprache zu entwickeln, die alles Bisherige in den Schatten stellt und das unvorbereitete Publikum ebenso in seinem Bann ziehen wie verstören muss? Das liegt an dem revolutionären Gebrauch von Dissonanzen, die sich sowohl im horizontalen wie im vertikalen Notenbild niederschlagen: Das Zauberwort für die Horizontale ist „Chromatik“, für die Vertikale „progressive Harmonik“. Der „Tristan-Akkord“ trägt zu letzterem maßgeblich bei. Um beides zu erklären, lohnt ein Blick auf die ersten Takte des Vorspiels, die in der Abbildung oben dargestellt sind. 

Der „Tristan-Akkord“ – farblich hervorgehoben – ist ein wesentliches Element der ersten Takte des Vorspiels; er ist aber nicht dessen Beginn. Um eine Idee von seiner tiefgreifenden Bedeutung zu bekommen, ist es notwendig, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern im musikalischen Kontext: Entscheidend sind sowohl die einleitenden Noten, die zu ihm führen, als auch die weitere Entwicklung nach seinem Erklingen. Den tatsächlichen Beginn macht ein tiefer, von den Violoncelli vorgetragener Ton (A), der über das Intervall einer aufsteigenden Sext in einen lang anhaltenden höheren (F) übergeht. Diesen beiden Tönen ist bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Tonhöhe ein sehnsüchtiger Charakter eingeschrieben, da das aufsteigende Sext-Intervall immer schon für eine entsprechende Grundstimmung stand: So hat bereits Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) genau dieses in seiner berühmten Liebes-Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der „Zauberflöte“ verwendet, nachdem Taminos Verlangen bei Betrachten eines Bildnisses von Pamina plötzlich entflammt war:



Doch Wagner geht weit darüber hinaus, indem er den ersten Tönen eine ganze Geschichte einschreibt. Das Entscheidende sind hierbei nicht nur die Töne selbst, sondern auch die Art des Vortrages, ihre Dynamik. Die Geschichte dahinter lautet wie folgt: Ein zuvor in sich ruhendes „Ich“ (Ton 1, A) hebt seinen Blick (symbolisch durch das Intervall ausgedrückt) zu einem „Du“ empor und beginnt dabei zu entflammen (Ton 2, F). Der erste – kürzere – Ton (A) trägt die dynamische Vortragsbezeichnung „pp“ (pianissimo, sehr leise), die während der Dauer seines Erklingens unverändert bleibt und für das ruhende „Ich“ steht. Dies gilt für den zweiten – länger anhaltenden – Ton (F) nicht mehr, da der Komponist hier ein „crescendo“ (<), eine während des Erklingens zunehmende Tonstärke, eine sich steigernde Intensität vorschreibt. Das „Ich“ erfährt also eine Veränderung, nachdem es den Blick gehoben und sein „Du“ erfasst hat: Der zweite Ton beginnt zwar wie der verklingende erste im pianissimo, steigert sich aber während seine Erklingens zu einem immer intensiver werdenden Ausdruck des brennenden Schmerzes; er schwillt förmlich vor Verlangen an. In dem zuvor noch ruhenden „Ich“ wird also durch das Erblicken des „Du“ plötzlich die Sehnsucht erweckt. Und Wagner, der Meister der subtilen Geste, braucht für diesen Urknall des verlangenden Empfindens, dieser Evolution des Begehrens nur zwei dynamisch akzentuierte Töne, um den Inhalt seines Musikdramas psychologisch zu umreißen, noch bevor überhaupt ein Akkord erklungen ist. 

Schon sind wir dem „Tristan-Akkord“ nahe, doch es fehlt noch ein weiterer Ton, der zu ihm überführt und das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht sogar noch zu intensivieren weiß: Nach dem langangehaltenen, im sich verstärkenden „crescendo“ vorgetragenen zweiten (F) folgt ein dritter Ton (E), der im Intervall einer kleinen Sekunde, dem kleinstmögliche Abstand zweier Tonhöhen, abfällt. Dies geschieht mit der vollen dynamischen Intensität, zu der der zweiten Ton durch das vorgeschriebene „crescendo“ bereits angewachsen ist, und wirkt wie ein seufzendes sich nach unten hin Abwenden, nachdem der Blick auf das „Du“ und der dabei immer dringlicher werdenden Sehnsucht nicht mehr standgehalten werden konnte. Eine kleine Sekunde wird allgemein als schmerzhaft reibende Dissonanz wahrgenommen und erzeugt – für eine Melodie im horizontalen Verlauf – erhebliche Spannungen. Besteht eine Tonleiter ausschließlich aus derartigen Intervallen, so wird diese als „chromatisch“ bezeichnet. Und eben diese spannungsgeladene Chromatik, die bereits den Übergang vom zweiten auf dem dritten Ton prägt, ist zugleich symptomatisch für das Musikdrama im Ganzen. Bestätigung und Intensivierung erfährt diese Vorahnung schon im nächsten, vierten Ton, da der Ton drei (E) in seinem melodischen Verlauf um eine weitere kleine Sekunde – also chromatisch nach unten – auf ein Dis fällt. Dieses Dis wird aber nicht mehr alleine als isolierter Ton vorgetragen (wie die ersten drei durch die Violoncelli), sondern ist Bestandteil des ersten vertikalen Klanggebildes des Werkes, das in Summe aus vier Tönen besteht (F – H – Dis – Gis) und nun auch von den Holzbläsern vorgetragen wird. Bei diesem vertikalen Klanggebilde handelt es sich um den ersten Akkord des Musikdramas und gleichzeitig um den meistanalysierten der Musikgeschichte, den berühmten „Tristan-Akkord“

Dieser Akkord (technisch gesehen ein verminderter Septakkord) bricht plötzlich in dem von den Violoncelli raunend aufbereiteten Dunstraum wie eine mysteriöse Erscheinung aus anderen Sphären ein und entfaltet klanglich eine geheimnisvolle neue Welt der Dissonanz. Diese zeichnet spannungsvolle Sinnlichkeit ebenso wie instabile Fragilität aus und besticht geradezu durch ihre nebulös schwebende, überirdisch wirkende Uneindeutigkeit: Sie lässt sich auf keine Tonart klar festlegen, entbehrt jeder konventionellen Zuordenbarkeit und mit dem Nimbus einer unbeständigen inneren Unrast verweilt sie im Vagen einer nichtaufgelösten harmonischen Spannung als Sinnbild des unerfüllten Begehrens, das sich nach Erlösung sehnt. So beschreibt der „Tristan-Akkord“ auf harmonischer Mikroebene ein dem Menschen eingeschriebenes Gefühl auf eine Weise, zu der Worte nicht fähig sind und deren musikalische Lösung nicht nur zur damaligen Zeit revolutionär war. – 

Doch trotz seiner unbestrittenen Fortschrittlichkeit kündigt sich bei musikgeschichtlicher Betrachtung die harmonische Unbestimmtheit eines „Tristan-Akkords“ bereits in einigen visionären Werken von großen Meistern vor Wagner an. So betrat auch Mozart schon in einigen seiner Kompositionen kühne Regionen, die ihrer tonalen Stabilität im Sinne eines konventionellen Wohlklangs nicht mehr sicher waren. Ein delikates Beispiel, wo ein Klangbild voll zerbrechlicher Schönheit erschaffen wird, ist der zweite Satz des Streichquartettes in Es-Dur (KV428), der an gewissen Stellen (z.B. ab 0:59 der Hörprobe) die spannungsgeladene, geheimnisvoll-dissonante „Tristan-Atmosphäre“ vorwegzunehmen scheint:




Ein weiteres reizvolles Beispiel ist das Lied „Dass sie hier gewesen“ (D775) von Franz Schubert (1797-1828). Dieses wird von Akkordbildungen voll reibender Dissonanzen eingeleitet, bei denen es sich im Wesentlichen um transponierte „Tristan-Akkorde“ handelt. Die schwebende Atmosphäre voll jenseitiger Entrückung ist nicht nur tonal ambivalent, sondern für die ersten 12 Takte mit der Grundtonart C-Dur, die eine geheimnisvolle harmonische Verschleierung erfährt, schlicht unvereinbar:



Auch Robert Schumann (1810-1856) hat in seinem pianistischen Meisterwerk, der ersten Fantasie op.17, den „Tristan-Akkord“ vorweggenommen. Dies tat er in Form eines unaufgelösten Vorhaltakkord am absoluten Höhepunkt (7:28 in der Hörprobe) einer spannungsgeladenen Steigerungswelle, die in der Klavierliteratur ihresgleichen sucht. Die schrille Dissonanz, die dieser Akkord verursacht, hallt noch lange in den darauffolgenden Nachsatz beunruhigend nach, als wäre die harmonische Ordnung nachhaltig erschüttert:



Widmungsträger von Schumanns großer Fantasie ist übrigens kein Geringerer als der größte Klaviervirtuose der damaligen Zeit, Franz Liszt (1811-1886). Und ebendieser soll auch das letzte Beispiele eines „Tristan-Akkords“ avant la lettre liefern. Es befindet sich in einem seiner bedeutendsten Liedern „Ich möchte hingehen“, eine stille verinnerlichte Meditation über den Tod, die „Tristan-Atmosphäre“ atmet: Nachdem der Sänger sinniert, wie er von der Welt scheiden wolle (z.B. wie das Abendrot oder der sinkende Stern), erhält er eine – ernüchternde – Absage, die nach einer Generalpause (ab 5:08), deren bange Stille Liszt mit einer musikalischen Formel am Klavier bricht, in ihrem Verlauf nahezu wörtlich den zweiten und dritten Takt des Vorspiels mehr als zehn Jahre vorwegnimmt (ab 5:41):


 
War Wagner also nichts anderes als ein Plagiator, der die Lorbeeren anderer einheimste? 
 
Die Antwort ist ein klares Nein!  
 
„Tristan und Isolde“ ist eine originäre Schöpfung Wagners, die trotz harmonischer Vorarbeit einiger Visionäre völlig zurecht als singulärer Meilenstein in der Musikgeschichte gilt. Das liegt zum einen an den unverwechselbaren Klangfarben durch die meisterhafte Instrumentierung, zum anderen an der philosophischen Aufladung jeder einzelnen Note; vor allem aber liegt dies an der durchgehend progressiven Handhabung der unaufgelösten Harmonien sowie der kompromisslos chromatischen Melodieführung. Denn im Vergleich zum Lied von Liszt – der übrigens von der engen Verwandtschaft seiner Harmonik mit jener Wagners wusste und später sogar (allerdings aus anderen Gründen) dessen Schwiegervater wurde – weist Wagners Akkord eine wesentliche – geniale – Veränderung auf: Liszts D wurde bei Wagner zum bereits erwähnten Dis. Diese vermeintlich kleine Abweichung ist aber essenziell für die ganze Phrase, da so die fallende Melodielinie von Ton 2 (F) und 3 (E) perfekt chromatisch zum Dis im „Tristan-Akkord“ führt, während zeitgleich mit dem Ende der einen chromatischen Linie, im selben Akkord einige Töne höher im Gis eine neue beginnt. Ein Sehnen wird quasi von einem anderen unmittelbar abgelöst: Die spannungsvolle Reibung in der horizontalen Melodieführung wird also nicht aufgehoben, sie wird – im Gegenteil – nahtlos fortgesetzt, was später als „Unendliche Melodie“ – ein unerlöst dissonantes musikalisches Fortstreben ohne scharfe Zäsuren oder konkretes Ziel – bezeichnet wird und mit klassischer Melodiebildung nicht mehr viel zu tun hat. Doch damit nicht genug: Die im „Tristan-Akkord“ am höchsten Ton neueinsetzende chromatische Melodie ist diesmal eine aufsteigende, welche vier Töne (Gis – A – Ais – H) umfasst, allerdings zu keiner Auflösung des „Tristan-Akkordes“ führt, sondern diesen vielmehr als Auftakt einer instabilen Harmoniesequenz nimmt, der am dritten Ton (Ais) ein weiterer unaufgelöster Akkord folgt, worauf am vierten Ton (H) der Melodielinie der Beginn des Vorspiels, dessen Dissonanzen weder horizontal noch vertikal befriedet werden, einfach im Nichts verklingt. Dieser Beginn, dessen Noten oben dargestellt ist, gilt als Sinnbild des vergeblichen Strebens nach Befriedigung und wird als „Sehnsuchtsmotiv“ in die Geschichte eingehen. 

Doch damit nicht genug: Wagner wiederholt – und spätestens hier geht er an Radikalität weit über Liszt hinaus – eben diese Phrase zwei weitere Male auf immer höheren Tonstufen, um die Vergeblichkeit des Versuches und die immer eindringlicher werdende Intensität des Verlangens deutlich zu machen. Zusätzlich sind diese wiederholten Phrasen auch abseits der Tonhöhe nicht ident, sondern unterscheiden sich geringfügig, sodass ihrer Unregelmäßigkeit ein sich ständig unterschwellig, unbewusst veränderndes Begehren innewohnt, das die Spannung ins fast Unerträgliche steigert, sodass man eine klärende Entladung herbeisehnt. Besonders deutlich wird dies in der Fortführung der zweiten Wiederholung der Phrase, die nach einigen fragmentarischen Melodiefetzen zu einer gewaltigen dissonanten Klangballung (ab 1:32 der Hörprobe des Vorspiels) führt, die aber nicht die erlösende Entladung der aufgestauten Spannung ist, sondern harmonisch – ebenso wie alle anderen Akkorde – völlig unaufgelöst bleibt und einfach einen neuen musikalischen Gedanken voller Dissonanzen – als Ausgangspunkt von neuem Verlangen – entstehen lässt. Die Klangballung wird oft als „Liebesentflammen“ bezeichnet, worauf sich das eigentliche „Liebesmotiv“ oder auch „Liebesblickmotiv“ entspinnt, das die Idee der ersten Töne des Vorspiels (wo ein „Ich“ ein „Du“ erblickt und das Sehnen beginnt) breiteren Raum zum Entfalten lässt (ab 1:42 der Hörprobe des Vorspiels). Umfasste das „crescendo“ der ersten Takte nur wenige Noten zum „Tristan-Akkord“ hin, so wird die Musik des restlichen Vorspiels die genannten Motive miteinander verweben und sich aufgrund der immer vehementer drängenden Leidenschaft zu immer wilderen, immer heftigeren Wogen – als erführe alles ein einziges universal anschwellendes „crescendo“ – aufschaukeln, was schließlich zu einem musikalischen Höhepunkt der sinnlichen Ekstase führt, wie es ihn zuvor in der Musikgeschichte noch nicht gegeben hat, und der letztendlich doch keine Befriedigung bringt und das Sehnen ungebrochen weitergehen muss, schließlich hat das Musikdrama ja gerade erst begonnen. 

Denn wohlgemerkt: Wie drängend und spannungsgeladen die Musik auch wird, die letzte endgültige Befriedigung bleibt ihr bis zum Schluss verwehrt. Die Chromatik und die unaufgelösten Harmonien sind nicht nur Teil eines originellen Vorspiels, sondern konstitutives Wesenselement des gesamten Musikdramas und unterschwellig – sobald es um die Seelenzustände der nach Vereinigung strebenden Liebenden geht – immer präsent. Wagners Revolution in den ersten Takten des Vorspiels dauert letztendlich das gesamte Werk lang – immerhin rund vier Stunden – an und etabliert eine neue Art von Musik, die das künftige Ausdrucksspektrum immens erweitern (und letztendlich auch zur endgültigen Überwindung der Tonalität im frühen 20. Jahrhundert führen) wird. Chromatik und unaufgelöste Harmonien durchdringen also die Partitur von „Tristan und Isolde“ von Anfang bis Ende. Erst ganz am Schluss des Werks, in den letzten Takten von Isoldes „Verklärung“ (die irreführende Bezeichnung „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) erklingt noch einmal abschließend der „Tristan-Akkord“ mit der von ihm ausgehenden chromatisch aufsteigenden Melodie (ab 6:41), bevor die dort zugrundeliegenden Dissonanzen endlich ihre langersehnte Auflösung – gemäß der klassischen Harmonielehre, der sich Wagner bis zu dieser Stelle hartnäckig widersetzt hat – in strahlendem H-Dur erfahren und mit ihnen auch die Sehnsucht erlischt, als wäre die Trennung von „Ich“ und „Du“ endlich überwunden und im ersehnten „Wir“ aufgegangen. 






Dienstag, 14. Juni 2022

"Arnold Schönberg - Die glückliche Hand"


Kurz vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete Arnold Schönberg (1874-1951) an seinem wohl persönlichsten, kompromisslosesten und rätselhaftesten Werk. Musikalisch längst in völliger Atonalität angelangt, wurde nun auch mit psychologischer Tiefenschärfe jede überlieferte Theatertradition gesprengt, indem er in seinem expressionistischen Meisterwerk „Die glückliche Hand“ das Unterbewusstsein einer Person beschreibt, die in zyklisch wiederkehrenden Traumsequenzen gefangen ist, wo Streben stets in Scheitern endet. 



Der biographische Hintergrund ist rasch erzählt: Schönbergs Frau hatte eine Affäre mit einem befreundeten Maler und wurde von ihrem Mann in flagranti erwischt. Die zwischenmenschliche Konsequenz dieses Ereignisses: Die Frau blieb bei Schönberg, der Maler beging Selbstmord. Die schöpferische – für uns wesentliche – Konsequenz: Es entstand ein zeitloses, vielschichtiges Meisterwerk, das die unergründlichen Tiefen der menschlichen Psyche auszuloten sucht und ausschließlich dem Unterbewusstsein Bühne bietet. Der Text (mit zahlreichen Regieanweisungen) stammt wie die Musik von Schönberg selbst und in gewisser Weise projiziert er sich in die Rolle des einzig solistisch agierenden Protagonisten, dessen Innenleben szenisch dargestellt wird. Diese Darstellung gelingt aber nicht nur durch dessen Gesang, sondern auch durch die Aufspaltung seines Unterbewusstseins in unterschiedliche Stimmen, welche – in Anlehnung an die kommentierende Rolle des Chors der antiken Tragödie – die Vernunft oder das Gewissen symbolisieren, und in diverse stumme Akteure, welche die durchlebten Traumfantasien in den versunkenen Gedankenwelten illustrieren. Auf diese Weise wird dem Betrachter ermöglicht, sich Schicht für Schicht in die Tiefen der Psyche des Protagonisten einzufühlen, die Ausweglosigkeit seiner Lage zu erfahren, um sich am Ende selbst darin zu erkennen. Denn unversehens wird das Individuum auf der Bühne zur Parabel des strebenden (und scheiternden) Subjekts an sich. 

Doch beginnen wir mit der Ausgangslage des Protagonisten gleich in der ersten Szene (ab 00:00): Dieser liegt auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Auf ihm befindet sich ein dunkles, vampirartiges Unwesen, das sich in dessen Nacken verbissen zu haben scheint. Im Hintergrund sieht man nur die Augen eines Chors, welcher aus sechs Frauen und sechs Männern besteht. Dieser wendet sich gleich zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann: 

„Still, o schweige; Ruheloser! - Du weißt es ja; du wußtest es ja; und trotzdem bist du blind? Kannst du nicht endlich Ruhe finden? So oft schon! Und immer wieder? Du weißt, es ist immer wieder das Gleiche. Immer wieder das gleiche Ende. Mußt du dich immer wieder hineinstürzen? Willst du nicht endlich glauben? Glaub der Wirklichkeit; sie ist so; so ist sie und nicht anders. Immer wieder glaubst du dem Traum; immer wieder hängst du deine Sehnsucht ans Unerfüllbare; ans Unerfüllbare; immer wieder überläßt du dich den Lockungen deiner Sinne; die das Weltall durchstreifen, die unirdisch sind, aber irdisches Glück ersehnen! Irdisches Glück! Du Armer! - Irdisches Glück! - Du, der das überirdische in dir hast, sehnst dich nach dem irdischen! Und kannst nicht bestehn! Du Armer!“ 

Dieser an den Protagonisten gerichtete Kommentar bezieht sich auf etwas, das bereits vor dem Bühnengeschehen passiert sein muss, wiederkehrenden Charakter besitzt und stets zur selben ausweglosen Situation, wie wir sie auf der Bühne vorfinden, führt. Wir bleiben aber unwissend, worum es sich dabei handelt. Es werden uns allein die Konsequenz vor Augen geführt. Auch die Rolle des Chors ist von großem Interesse: Betrachtet man ihn als eine von der Hauptfigur getrennten Einheit, so könnte man das Gesagte als von Mitleid getragenem Vorwurf einer höheren Instanz verstehen. Betrachtet man ihn aber als Teil der Hauptfigur, so wäre es ein von Reue getragener Prozess bitterer Selbstreflexion. 

Was auch immer die richtige Interpretation dieser rätselhaften ersten Szene ist, an deren Ende verschwinden gleichzeitig sowohl das am Nacken nagende Unwesen am Rücken des Protagonisten als auch der gespenstische Chor im Hintergrund, sodass sich diese beiden Erscheinungen als miteinander verknüpft offenbaren, als stünden sie als Einheit symbolhaft für „Gewissensbisse“. Wie auch immer diese abstrakt um sich kreisende, surreale Szene einzuordnen ist, die nächste wird für den außenstehenden Betrachter greifbarer, da sich nun eine Art Handlung zu entspinnen scheint: Im Übergang zur zweiten Szene (ab 02:53) springt der Mann – nun von der Last des Unwesens befreit – mit einem Ruck auf und bleibt mit gesenktem Kopf und tiefer Ergriffenheit stehen. Diese Bewegung wird von grellem, höhnischem Gelächter einer unsichtbaren Menschenmenge begleitet, worauf die Bühne plötzlich hell erleuchtet erscheint und so das Bild der zweiten Szene sowie das Aussehen des Mannes preisgegeben wird. Dieser wirkt verwahrlost, blutverschmiert und voll von alten Narben. Er beginnt die Szene mit den schwer deutbaren Worten: „Ja; o ja! Das Blühen: o Sehnsucht!“ Darauf betritt eine schöne, junge Frau die Bühne. Sie bleibt hinter dem Mann stehen und sieht diesen mit unsäglich mitleidsvollem Blick an. Der Mann erschauert, ohne sich nach ihr umgesehen zu haben, und entgegnet plötzlich: „O du! Du Gute! Wie schön du bist! Wie wohl es tut, dich zu sehen, mit dir zu sprechen, dir zuzuhören! Wie du lächelst! Wie deine Augen lachen! Deine schöne Seele!“ Dann hält sie einen Becher in ihrer rechten Hand und reicht diesen dem Mann. Plötzlich hält der Mann den Becher in seiner rechten Hand, ohne sich nach der Frau umgedreht zu haben oder dass einer von beiden sich vom Platz gerührt hätte. Er sieht den Becher mit Entzücken an und entschließt sich, daraus zu trinken. Während er dies tut, verliert die Frau das Interesse an dem Mann und geht gleichgültig, fast feindselig ans andere Ende der Bühne. Dieser sagt aber nach dem Genuss des Getränkes ergriffen: „Wie schön du bist! Ich bin so glücklich, weil du bei mir bist! Ich lebe wieder. O du Schöne!“ Die dissonante Herbheit der Musik konterkariert diese Worte aber auf unerbittliche Weise und spiegelt die ablehnende Reaktion der Frau wider. Diese hat sich nämlich längst von ihm abgewandt, eilt einem elegant gekleideten Herrn, der soeben die Bühne betreten hat, entgegen, und geht mit diesem ab, worauf der zurückgelassene Mann voll Verzweiflung zu stöhnen beginnt und in gebrochener Haltung verharrt. Doch die Frau kehrt zurück und lässt sich vor ihm auf die Knie fallen, als wolle sie um Verzeihung bitten. Das Gesicht des Mannes hellt sich vor Erleichterung auf, ohne zu ihr hinzusehen. Er lässt sich ebenso auf die Knie fallen und erwidert: „Du Süße, du Schöne!“ Er versucht sie zu berühren, es gelingt aber nicht. Sie war, während er niedergesunken war, wieder aufgestanden. Ihr Gesicht hat nun sarkastische Züge angenommen. Kurz darauf entschwindet sie erneut. Der Mann bemerkt dies nicht und singt voll Leidenschaft, während die Musik immer dissonanter und schriller wird: „Nun besitze ich dich für immer.“ Plötzlich wird es vollkommen finster. Das Ende der zweiten Szene ist abrupt erfolgt. 

Die dritte Szene (ab 08:27) spielt in einer wilden Felslandschaft, wo in einer Grotte Arbeiter eher umständlich Gold schmieden. Der Mann beobachtet die Tätigkeit eine Weile, sagt dann aber selbstbewusst: „Das kann man einfacher!“ Darauf nimmt er einen Hammer sowie ein unförmiges Stück Gold und legt es auf den Amboss. Die Arbeiter sehen ihn erbost an und drohen, sich auf ihn zu stürzen. Doch der Mann lässt sich dadurch nicht beirren und schlägt mit einem Schwung auf das Goldstück ein. Dabei spaltet er den Amboss durch die Mitte in zwei Teile, bückt sich nach dem bearbeiteten Goldstück und hebt ein mit Edelsteinen reich geschmücktes Diadem hoch. Dabei sagt er gelassen zu den Arbeitern: „So schafft man Schmuck!“ Er wirft den Verärgerten emotionslos das Geschmeide vor die Füße. Diese wollen sich nun nur umso entschlossener auf ihn stürzen, doch als sich der Mann umdreht, wird die Grotte hinter ihm plötzlich dunkel. Darauf erhebt sich ein unheimliches musikalisches Crescendo, das sich in Form eines Sturmes auf der Bühne äußert, der den Mann in Panik versetzt und seinen Kopf an den Rand des Platzens bringt. Sobald der Sturm abgeflaut ist, erscheint die Frau in der – mittlerweile ansonsten leeren – Grotte mit zerrissenem Kleid, sodass sie halbseitig entblößt ist. Auch der elegant gekleidete Herr erscheint, ihr mit dem fehlenden Stück des Kleides in der Hand zuwinkend. Der Hauptprotagonist bemerkt dies und singt verzweifelt: „Du – du! Du bist mein! Du warst mein! Sie war mein!“ Er verkrampft immer mehr in seiner Not und versucht vergebens in die Grotte zu den beiden anderen zu gelangen. Der elegant gekleidete Herr beobachtet die Anstrengungen des Mannes emotionslos und wirft ihn, bevor er gelassen von der Bühne abgeht, den Fetzen mit gleichgültiger Bewegung hin. Die Frau eilt zu dem Fetzen und legt ihn an, um ihre Blöße zu bedecken. Der Mann singt noch flehend: „Du Schöne – bleib bei mir!“ Doch die Frau eilt die Felsschlucht hinauf. Der Mann versucht ihr zu folgen, stürzt jedoch ab, worauf er unter dem höhnischen Gelächter der unsichtbaren Menschenmenge von einem Stein begraben wird. Es wird abrupt finster. 

Die folgende letzte Szene (ab 15:24) schließt den Kreis zur ersten: Der Mann liegt erneut auf der nahezu stockfinsteren Bühne mit dem Gesicht nach unten am Boden. Der Stein, der ihn in der letzten Szene begraben hat, entpuppt sich als das vampirartige Unwesen, das sich erneut seinem Nacken widmet. Im Hintergrund befindet sich der nur über die Augen sichtbare Chor aus sechs Frauen und sechs Männern. Dieser wendet sich wie zu Beginn mit rätselhaften, gespenstisch intonierten Worten an den am Boden liegenden Mann und vollendet so die zyklische Form, die den Mann unentrinnbar gefangen hält, bevor der Vorhang endgültig fällt und so das Publikum schließlich vom sich ständig wiederholenden, hermetischen Schicksal des Mannes zumindest physisch getrennt wird: 

„Mußtest du's wieder erleben, was du so oft erlebt? Mußtest du? Kannst du nicht verzichten? Nicht dich endlich bescheiden? Ist kein Friede in dir? Noch immer nicht! - - Suchst zu packen, was dir nur entschlüpfen kann, wenn du's hältst. Was aber in dir ist und um dich, wo du auch seist. Fühlst du dich nicht? Hörst du dich nicht? Fassest nur, was du greifst! Fühlst du nur, was du berührst, deine Wunden erst an deinem Fleisch, deine Schmerzen erst an deinem Körper? Und suchst dennoch! Und quälst dich! Und bist ruhelos! Du Armer!“ 

   
 
 
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Arnold Schönberg (1874-1951) gelingt in diesem musikalischen Drama – er verwendete den Begriff „Oper“ nicht – in den Jahren 1910-13 ein vielschichtiges und schwer zu entschlüsselndes Meisterwerk des Expressionismus. Er beschreibt eine kafkaeske Situation, noch bevor Franz Kafka (1883-1924) seine großen Werke zu Papier gebracht hat, in der das Irrationale und das Unentrinnbare in klaustrophobischer Bedrohlichkeit herrscht. Die dissonante Musik, die sich längst vom tonalen Korsett befreit hat, unterstreicht dies auf schonungslos eindringliche Weise und macht die Ausweglosigkeit der Situation unmittelbar erfahrbar. Doch nicht nur musikalisch wurden tradierte Konventionen überwunden, auch etablierte Symbole der deutschen Oper werden pervertiert oder ad absurdum geführt: Der Becher tut als Zaubertrank (wie bei Tristan und Isolde) seine Wirkung nicht mehr, mit der Schmiedekunst schafft der Held keine Waffe, die ihn (wie Siegfried mit Nothung) triumphale Heldentaten vollführen lässt, und auch auf einen rettenden Schwan (wie bei Lohengrin) wartet man vergebens; was verlässlich wiederkommt, ist lediglich eine blutsaugende Kreatur, die sich auf am Boden Liegende spezialisiert hat... 

Wenn man das alles bedenkt, muss man sich die Frage stellen, warum das Werk eigentlich „Die glückliche Hand“ heißt! Schönberg verarbeitet hier ohne Zweifel persönliche (womöglich traumatische) Erlebnisse, doch diese sind weder rein privater noch gänzlich negativer Natur. Denn einmal im ganzen Drama gelingt dem Hauptprotagonisten etwas, das man als Triumph sehen kann: Das Schmieden des Schmuckstückes, das er mühelos schafft und anschließend gelassen den ebenso verständnislosen wie wütenden Arbeitern vor die Füße wirft. Es handelt sich hierbei zwar um keine Waffe, die ihn unmittelbar retten könnte – sondern eher in zusätzliche Gefahr bringt –, aber er vollbringt etwas, das er besser kann als alle anderen. Diese Szene lässt sich auch auf Schönbergs Situation (in diesem Fall die berufliche) übertragen: Was er besser kann als alle anderen, ist das Komponieren. Die erzürnten, verständnislosen Arbeiter symbolisieren seine mittelmäßigen Berufskollegen, die noch der musikalischen Konvention verhaftet sind und dem Weg in die freie Atonalität nicht folgen können. Und das Schmuckstück? An diesem schmiedete Schönberg vor dem Ersten Weltkrieg selbst noch. Nach Verfassen des Werkes wird er für fast zehn Jahre in Klausur gehen, um an dem „mit Edelsteinen reich geschmückten Diadem“ zu arbeiten. Mit Erfolg: Dank dem Ergebnis dieses Schaffensprozesses wird er erneut – er war ja bereits einer der bedeutendsten spätromantischen Komponisten seiner Zeit, bevor er zum führenden Avantgardisten des Expressionismus avancierte – Musikgeschichte schreiben, nämlich als Schöpfer der Zwölftontechnik. Mit diesem Kompositionsverfahren wird sich tatsächlich sein glückliches Händchen erweisen und sein ohnehin schon bedeutungsschweres Lebenswerk noch einmal gekrönt werden. Das expressionistische Meisterwerk „Die glückliche Hand“ ist ein wichtiger Meilenstein auf den Weg dorthin, ein gewaltiges Dokument eines nach Ausdruck Suchenden. 

Abschließend sei noch auf die Handlung des Stückes verwiesen: Diese existiert nämlich nur bedingt. Alles, was sich auf der Bühne ereignet, ist das Produkt des Unbewussten eines einzigen Geistes. Das Szenenbild, die darin auftretenden Figuren, die Stimmen, die Lichteffekte und nicht zuletzt die eindringliche Musik sind imaginierter Ausdruck aus den Seelentiefen des Protagonisten, der schließlich auch sich selbst, sein Erscheinungsbild und seine Situation auf der Bühne imaginiert. All das wird von seinem Unterbewusstsein geformt. Realer Bestand ist am Geschehen selbst nicht auszumachen, es regiert das Irrationale, das Phantastische, das Absurde, das eben nicht kausal und schlüssig Erklärbare, das Traumgleiche. Das erkennt man schon an dem mysteriösen, vampirartigen Geschöpf, dem gespenstisch mahnenden Chor, der emotional nicht plausiblen Interaktion des Protagonisten mit Personen, die von ihm nie angesehen werden, die wunderliche Übergabe des Bechers oder wie aus einem unförmigen Goldstück plötzlich Edelsteine entstehen können. Das alles spielt für das Werk aber keine Rolle, bedarf zumindest keiner Erklärung, da das Unbewusste regiert, welches eine ferne Wirklichkeit verarbeitet und subjektiv projiziert. Und genau an diesem Punkt tritt Schönberg (bzw. der Protagonist) als schaffende Kraft des Geschehens in den Hintergrund zurück, da die Darstellung des Unbewussten für das Publikum selbst wiederum zur Projektionsfläche wird, mit der dieses resonieren kann, und so das Dargestellte eine höhere Wirklichkeit erfährt, die nicht mehr an einem Individuum allein festzumachen ist. Das strebende und scheiternde Subjekt in dem Werk wird zur Parabel, zur austauschbaren Identität, das in jedem Unterbewusstsein schlummert und als Projektionsfläche aktiviert werden kann. In diesem weiten, unbekannten Land gelten andere Regeln, genau wie in der Musik, welche hier den sicheren Boden des tonalen Systems endgültig verlassen hat. Insofern hat Schönberg in der Atonalität die kongeniale Ausdrucksform für das Unbewusste gefunden, die über ihn als Schöpfer hinaus direkt zum Empfänger zurückverweist und uns so zu Beteiligten macht. 

Die Rezeption von Seelentiefen einer Psyche in der Kunst, welche von Sigmund Freuds (1856-1939) Traumdeutung und Psychoanalyse maßgeblich beeinflusst wurde, war vor dem Ersten Weltkrieg noch recht jung und sollte erst gut zehn Jahre später in der geistigen Bewegung des „Surrealismus“ mit bedeutenden Vertretern wie dem genialen Filmemacher Luis Buñuel (1900-1983) oder dem ebenso großartigen Maler Salvador Dalí (1904-1989) kulminieren und den internationalen Siegeszug antreten. Schönberg war auch hier seiner Zeit voraus.






Montag, 5. August 2019

"Monteverdi - Orpheus' Walking Bass"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Besonders radikales Neuland betrat Monteverdi in der Gestaltung des Aufstieges von Orpheus und Eurydike aus der Unterwelt. (Dieser sollte bekanntlich unter der Bedingung durchgeführt werden, dass Orpheus sich während des Aufstieges nie nach seiner Geliebten, die ihm stumm folgt, umdrehen dürfe, da dies ansonsten den endgültigen Verlust Eurydikes zur Folge hätte.) Bei dieser Szene gelang Monteverdi ein musikdramatischer Geniestreich, den es zuvor noch nicht gegeben hatte: Es handelt sich um eine Bassbewegung, die beschreibt, was der Zuhörer mit seinem geistigen Auge sehen soll. Es soll der Gang aus der Unterwelt als Schreiten hörbar dargestellt werden. Die Musik wird also zum Handlungsträger und illustriert das auf der Bühne Geschehende. Das war ein revolutionäres, bislang einzigartiges Unterfangen in der Musikgeschichte: Musik, der Klang des Basses, wurde essenzieller Teil der Inszenierung. Diese fortschreitende Geste kann als „gehender Bass“ gedeutet werden, der von Minute 0:00 bis 1:19 der Hörprobe den gut gelaunten Orpheus auf seinem Weg aus der Unterwelt begleitet:



Doch erst im Jazz des 20. Jahrhunderts soll dieser Kunstgriff als „Walking Bass“ zum geflügelten Wort für eine rhythmisch gleichmäßige und trotzdem abwechslungsreiche Basslinie werden, welche den Beat wiedergibt und die Harmoniefolge verdeutlicht:




Doch auch in französische Chansons hielt dieser Bass Einzug, wie das nächste Hörbeispiel beweist, wo der gezähmte Schritt (bzw. Trab) eines Pferdes („Le cheval“) vom Bass wiedergegeben wird. (Das Pferd gilt in diesem Lied als Symbol für einen Mann, der in keiner so erfüllenden Beziehung wie Orpheus mit Eurydike lebt und eher unter einer weiblichen Dominanz leidet.)





Selbst in höchster Populärkultur fand der „Walking Bass“ Anwendung: 




Zurück zum antiken Vorbild unserer Oper: Leider soll Orpheus‘ „Walking Bass“ kein glückliches Ende haben. Ab Minute 1:19 der ersten Hörprobe wird Orpheus nervös und fragt sich, ob Eurydike sich denn tatsächlich hinter ihm befindet oder ob der Gott der Unterwelt nur ein böses Spiel mit ihm treibt. Als er schließlich ein Geräusch vernimmt, dreht er sich um und erblickt tatsächlich das Antlitz seiner Geliebten. Diese Begegnung wird von einer Orgel, Symbol des Todes und Jenseits, durch lang anhaltende Töne untermalt. Genau dieser Moment symbolisiert das Erkennen, dass Orpheus Eurydike endgültig verloren hat. Der Wechsel der musikalischen Besetzung verdeutlicht dies auf unüberbietbar theaterwirksame Weise. Die Orgel signalisiert: Eurydike ist längst wieder dem Totenreich anheimgefallen, diesmal für immer. Und entsprechend werden die letzten, mitleidvollen Worte der zuvor Stillen jenseitig begleitet:






So endet die Geschichte der zwei Liebenden, deren Schicksal uns durch Monteverdis Musikdrama auch heute noch tief bewegen kann und zeitlos scheint. Doch mag Orpheus seine Begleitung (Eurydike) auch verloren haben, eine andere Art von Begleitung („Walking Bass“) schreitet heute noch - Jahrhunderte später - durch die Musikgeschichte munter fort …









Freitag, 2. August 2019

"Monteverdi - Orpheus in der Unterwelt"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Gerade die dramatisch motivierte Instrumentation findet in „L’Orfeo“ besonders eindrucksvolle Umsetzung: So werden verschiedene Instrumente der Ober- wie der Unterwelt (also dem Leben wie dem Tode) zugeordnet. Während im Diesseits helle Klänge von Streicher, Blockflöten, Lauten und einem Cembalo dominieren, kommen im Jenseits tiefe, abgründige Instrumente wie Posaunen, Zinken oder sogar ein schnarrendes Regal (eine historische Kleinorgel mit Zungenpfeifen) zum Einsatz. Auch die Chöre sind unterschiedlich besetzt. Das Leben begleitet ein gemischter Chor, der Chor der Unterwelt besteht ausschließlich aus tiefen Männerstimmen. Der Handlungsverlauf wird also durch die unterschiedlichen Besetzungen mit ihren verschiedenen Klangcharakteren veranschaulicht und intensiviert.

Sinnbild des Lebens und der Oberwelt ist das einleitende „Ritornell“. Dieses beschreibt die irdische Sphäre, in welcher der Sänger Orpheus die Nymphe Eurydike für sich gewinnen konnte und damit sein Glück fand. Es ist in allen Akten, welche in der Oberwelt spielen, präsent und kann als „Leitmotiv“ verstanden werden.







Die Handlung selbst basiert auf dem berühmten antiken Mythos und gestaltet sich für die Oper auf folgende Weise: Anfangs besingt Orpheus in dieser dem Leben zugewandten Oberwelt sein Glück und erinnert sich an schmerzliche Tage der Vergangenheit, die durch die Liebe zu Eurydike überwunden wurden. Begleitet wird Orpheus‘ mitreißender Gesang, der eine der ersten Arien der Musikgeschichte darstellt, vom irdischen Instrumentarium, das bereits im einleitenden „Ritornell“ erklungen ist.







Doch sein Glück soll nicht von Dauer sein. Eine Botin eilt zu Orpheus und überbringt ihm die tragische Nachricht vom Tod Eurydikes, die in einer Blumenwiese von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Die Musik wandelt sich plötzlich, erhält eine dunkle Note und beginnt Trauer zu tragen. Eine Orgel, die den Tod und tiefes Leid symbolisiert, bricht in die helle Welt des Lebens ein und untermalt die Verkündigung des Unglücks. Die Szene, in der Orpheus die tragische Botschaft erhält, wird nicht als Arie gestaltet, sondern als tragendes Rezitativ, das die Worte gut vernehmbar für sich sprechen lässt und in der Reduktion der musikalischen Mittel, die Tragweite der Tragödie für das Publikum begreiflich macht. Nur die Orgel steuert der Welt des Lebens die Gewissheit bei, dass es so etwas wie Vergänglichkeit und ewigen Verlust gibt. Als raffiniertes Stilmittel lässt Monteverdi die Botin und Orpheus in unterschiedlichen Tonarten miteinander interagieren, was einen zusätzlichen dramaturgisch brisanten Effekt erzeugt. Der Mitteilung des Todes Eurydike (in Minute 0:50) folgt Orpheus Seufzer mit einer anschließenden Pause, welche das Verstummen des größten Sänger und somit seine tiefste Erschütterung stillen Ausdruck verleiht. Hier endet also die klangliche Dimension der Musik unter gleichzeitiger Maximierung der theatralischen Wirkung. Erst danach folgt der Bericht der Boten über den Hergang des Todes der Geliebten, der in der wörtlichen Wiedergabe die letzten Worte Eurydikes gipfelt und zugleich den höchsten Ton des erschütternden Berichtes bildet: „Orfeo, Orfeo!“ (in Minute 2:57).







Orpheus will sich mit diesem Verlust aber nicht abfinden und beschließt, in die Unterwelt hinabzusteigen, um Eurydike wieder zu sich ins Leben zurückzuholen. Bis zu den Pforten der Unterwelt wird Orpheus von der personifizierten Hoffnung ("La Speranza") begleitet, welche mit „La Musica“ aus dem Prolog der Oper ident ist. Allerdings verweigert sie, ab dieser Schwelle ihr Geleit und verlässt Orpheus.

Weshalb? 

Um diese Frage zu beantworten, muss man die hohe Weltliteratur befragen. Nach der „Commedia“ von Dante Alighieri (1265-1321) steht über dem Portal zum „Inferno“ geschrieben: 

 Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate.
Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.”

Somit kann die Figur der Hoffnung (it. speranza) als Ehrerbietung Dante und dessen Epos gegenüber verstanden werden. Dass Monteverdi die personifizierte Hoffnung mit der Musik in Verbindung bringt, könnte als Bestreben verstanden werden, mit seiner neuartigen Kunst auch einen Platz im Dichterolymp zu finden. Jedenfalls reichen sich hier zwei Meister, die eine Kunstepoche zu Ende geführt und eine neue begonnen haben, sich hier über Jahrhunderte hinweg die Hände.

Die Hoffnung wusste, wohl, weshalb sie nicht mit in die Unterwelt hinabsteigen wollte. Die Szenerie wird plötzlich eine völlig andere und mir ihr auch die Musik. Nicht mehr der helle Klang des „Ritornells“ der Oberwelt ist hier die prägende Kraft, sondern der dunkle Klang jenseitiger Posaunen. So gestaltet sich das „Leitmotiv der Unterwelt“ als starker Kontrast zum Klang des Lebens an der Erdoberfläche.







Und auch die Bewohner der Unterwelt klingen anders. So trifft Orpheus bei seinem Abstieg Charon, welcher als Fährmann die Verstorbenen in das Reich der Toten befördert und mit seiner tiefen Bassstimme nur von einem schnarrenden Regal begleitet wird, das reibungsvolle Dissonanzen von sich gibt. Charon erklärt Orpheus auf sehr eindringliche Art, dass Lebende keinen Zutritt in die Unterwelt haben, und will ihn abweisen. Dabei lotet er die tiefsten Gründe des musikalisch Machbaren aus:







Orpheus überwindet jedoch Charon durch einen Trick und gelangt in die Unterwelt, wo er den dort herrschenden Pluto durch Vermittlung von dessen Frau Persephone, welche zutiefst mit Orpheus und Eurydike mitleidet und von seinem Gesang ergriffen ist, überzeugt wird, dem liebenden Sänger die Chance zu geben, Eurydike aus der Unterwelt zu führen. Die einzige Bedingung Plutos ist: Orpheus darf sich während des Aufstieges aus der Unterwelt nie zu Eurydike, welche ihm still und leise folgen wird, umdrehen. Voll Glück nimmt Orpheus die Gelegenheit wahr und beginnt freudvoll seinen Gang ins Leben zurück.

Wie Monteverdi das Folgende musikalisch in Szene setzt, hat es zuvor nicht gegeben. Es gelingt ihm ein Kunstgriff, der für die künftige Musik stilbildend sein wird und selbst begleitende Figuren des Jazz Jahrhunderte vorwegnehmen soll. Doch unabhängig davon gelingt Monteverdi hier die Gestaltung einer der ergreifendsten Szenen, welche jemals für die Bühne geschaffen wurden …





Dienstag, 30. Juli 2019

"Monteverdi - Orpheus und das Leitmotiv"


Claudio Monteverdi (1567-1643) war nicht der Erfinder der Oper. Er war jedoch jener Komponist, welcher die damals noch junge Gattung mit „L’Orfeo“ zu ihrem ersten Höhepunkt führte. Doch mit dieser 1607 vollendeten Oper gelang ihm nicht nur ein Meilenstein des Genres, sondern ein Werk, das Teil einer der größten Revolutionen der Musikgeschichte wurde.


Bis ins späte 16. Jahrhundert war die Musikpraxis von einem mehrstimmigen, durchimitierenden kontrapunktischen Stil geprägt, welcher nach einer 200-jährigen Entwicklung mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) seine Vollendung fand. Derlei Kompositionen bestachen durch ausgeklügelte Relationen unterschiedlicher Stimmen zueinander, wodurch ein komplex verwobenes, polyphones Kunstwerk entstand. Doch die Vollendung dieser Kompositionsweise verpflichtete andere Künstler zur Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so folgte zur Jahrhundertwende in manchen Künstlerkreisen eine Abkehr von dieser Art Musik, da man unter Berufung auf das antike Drama die Deutlichkeit der Sprache neuen Raum beimessen wollte. Führend in dieser Entwicklung war eine Künstlervereinigung in Florenz, die „Camerata fiorentina“, welche die Zukunft der Musik im Einzelgesang (Monodie) sah, wo das Melos von der Sprachmelodie bestimmt wird und der begleitende Bass (Basso Continuo) dies zu unterstreichen hat. Zwei Komponisten dieses Kreises, Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1551-1618), schufen erste richtungsweisende Werke, welche als Ursprung der Gattung „Oper“ verstanden werden können. Als Sujet wählten beide die griechische Sage von Orpheus und Eurydike (Orfeo e Euridice). Wie könnte man schließlich das Thema eines gesungenen Dramas besser wählen, als es dem größten Sänger der Antike zu widmen?

Doch erst durch ein Genie wie Claudio Monteverdi (1567-1643), der in seinem „L’Orfeo“ auf eben diesen Sagenkreis zurückgriff, wurde das Spannungsfeld zwischen Musik und Sprache effektvoll aufeinander abgestimmt, Tiefe verliehen und zu einer nie zuvor dagewesenen Einheit verschmolzen. Das Drama wurde durch seine Musik von neuem Leben erfüllt und im Ausdruck intensiviert. Um die Handlung zu illustrieren und voranzutreiben griff Monteverdi auf innovative Stilmittel wie die Arie, das Rezitativ, die dramatisch motivierte Instrumentation sowie wiederkehrende Strukturelemente, die mehr als 250 Jahre später unter dem Begriff „Leitmotiv“ Bekanntheit erlangen sollten, zurück. (Demnach könnte Monteverdis „dramma per musica“ als ein früher Vorreiter der großen „Musikdramen“ der Romantik verstanden werden.)

Wenn man „Leitmotive“ sucht, so wird man bereits im Prolog von Monteverdis „L’Orfeo“ fündig. Eingeleitet wird die Oper durch eine wuchtige, von Trompeten niederschmetternd intonierte Toccata (von Minute 0:00-1:50). Bereits diese ist streng genommen ein „Leitmotiv“, allerdings keines das zu der Oper selbst gehört. Es ist ein werkübergreifendes Motiv, für dessen Verständnis geschichtliches Hintergrundwissen von Nutzen ist: „L’Orfeo“ wurde 1607 in Mantua unter der Schirmherrschaft der dortigen Herzogsfamilie der Gonzaga uraufgeführt und auch dem Herzogssohn Francesco (1586-1612) gewidmet. Nun hatten Adelsgeschlechter, die etwas auf sich hielten, zur damaligen Zeit nicht nur Familienwappen, sondern auch eine musikalische Signatur in Form einer Fanfare, einer Kennmelodie. Diese wurde in Monteverdis Toccata besonders eindrucksvoll zitiert und als Reminiszenz an seine Auftraggeber in Szene gesetzt. So erklärt es sich, weshalb die drei Jahre später ebenfalls in Mantua entstandene „Marienvesper“, Monteverdis sakrales Meisterwerk, mit derselben Toccata eingeleitet wird (auch wenn sie Papst Paul V. gewidmet war). Kurzum, die Toccata ist ein „Leitmotiv“, das auf die adeligen Mäzene Bezug nimmt, mit dem eigentlichen Werk allerdings nichts zu tun hat.

Mit dem „Ritornell“ (ab Minute 1:50), welches auf die Toccata folgt, verhält es sich jedoch anders. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein wunderbares Instrumentalstück, sondern um das wichtigste „Leitmotiv“ der Oper. Dieses frühbarocke, erhabene Ritornell symbolisiert das Leben und die pastorale Sphäre der Oberwelt. Es ist als klingendes Bühnenbild in den Akten, die nicht in der Unterwelt spielen, immer präsent und wird vom diesseitigen Instrumentarium des Lebens, welches hell und leicht aus Blockflöten, Lauten, Streichern und dem Cembalo besteht, intoniert.







Auch die Musik selbst („La Musica“) ist Attribut des Lebens und der Oberwelt. Und so können wir uns im folgenden Prolog bereits vom Einsatz der Leitmotivtechnik überzeugen, da hier die Musik als Person auftritt und sich mit ergreifenden Worten über mehrere Strophen hin direkt an das Publikum wendet. Nach jeder Strophe erscheint als Zwischenspiel das „Leitmotiv“ des Ritornells in Ausdruck und Orchestrierung verwandelt, um das Gesagte der letzten Strophe in seiner jeweiligen Stimmung zu untermalen und Nachdruck zu verleihen.







In der ersten Strophe wendet sich „La Musica“ direkt an die Herzogsfamilie und erweist ihr (nach der einleitenden Toccata) erneut die Ehre in Form einer Huldigung. Allerdings ist hier ein kleiner, ironischer Seitenhieb eingebaut, da die Lobpreisung derart übertrieben ausfällt, sodass sich der eine oder andere im Publikum gefragt haben muss, ob der Herzog denn tatsächlich diesen Lorbeeren gerecht wird oder ob gemessen an seinen Taten sich nicht eine bescheidenere Bilanz offenbaren mag. (Monteverdi hatte allen Grund für diese kleine Finte, da der Herzog von Mantua ihm des Öfteren das Gehalt schuldig geblieben war…) In der zweiten und dritten Strophe stellt sich „La Musica“ selbst vor und findet berührende Worte über die Kraft der Musik. In der vierten Strophe nimmt sie auf Orpheus selbst Bezug, worauf sie in der letzten Strophe vom Publikum offen und streng die gebührende Aufmerksamkeit während der gesamten Oper einfordert. Wir wollen dem nichts hinzufügen und überlassen „La Musica“ natürlich das letzte Wort, bevor wir uns im nächsten Artikel mit der eigentlichen Handlung der Oper beschäftigen und uns mutig der Unterwelt, welche nicht mehr zur Einflusssphäre der Musik und des Lebens gehört, zuwenden.

Nun lassen wir aber „La Musica“ sprechen, welche folgende Worte an uns richtet:

Dal mio Permesso amato à voi ne vegno,
Incliti Eroi, sangue gentil de’ Regi,
Di cui narra la Fama eccelsi pregi,
Nè giunge al ver, perch’è tropp’ alto il segno.

Io la Musica son, ch’a i dolci accenti,
Sò far tranquillo ogni turbato core,
Ed hor di nobil ira, ed hor d’amore
Posso infiammar le più gelate menti.

Io sù Cetera d’or cantando soglio 
Mortal orecchio lusingar talhora,
E in questa guisa a l’armonia sonora
De la lira del Ciel più l’alme invoglio. 


Quinci à dirvi d’ORFEO desio mi sprona, 
D’ORFEO che trasse al suo cantar le fere,
E servo fè l’Inferno a sue preghiere, 
Gloria immortal di Pindo e d’Elicona.


Hor mentre i canti alterno hor lieti, hor mesti,
Non si mova augellin fra queste piante,
Nè s’oda in queste rive onda sonante,
Ed ogni auretta in suo cammin s’arresti.

Von meinem geliebten Permessos komm ich zu euch,
ihr glorreichen Helden vom Blut der Könige.
Euer Ruhm zeugt von großen Taten,
doch wird er ihnen nicht gerecht, da es zu viele sind.

Ich bin die Musik, die mit süßen Tönen
jedes ruhelose Herz zu stillen vermag.
Bald mit edlem Zorn, bald mit Liebe
Auch die kühlsten Sinne zu entflammen weiß.

Singend zum Klang der goldenen Harfe
entzücke ich das Ohr des Sterblichen
und erwecke in der Seele Sehnsucht nach den
klangvollen Harmonien der Himmelsleier.

Nun will ich euch von Orpheus berichten,
der mit seinem Gesang die Tiere zähmte,
dessen Flehen selbst die Unterwelt erhörte,
Pindos und Helikon zum ewigen Ruhm.

Dieweil ich nun von Heiterem und Ernsterem singe,
soll sich kein Vogel in den Zweigen regen,
soll keine Welle an die Ufer schlagen
und jedes Lüftchen stehe still.