Sonntag, 10. Oktober 2021

Nachtgedanken - "Nach einer Dante-Lektüre"




 
"Aus schwarzgewordnem Bronze-Gruftendeckel 
Sind die berühmten schweren alten Verse, 
Kalt anzufühlen, unzerstörbar, tragend 
Den Toten-Prunk, schwarzgrüne Wappenschilde 
Und eine Inschrift, ehern auf dem Erz, 
Die denken macht, doch keinen Schauer gibt. 
Du liest und endlich kommst du an ein Wort, 
Das ist, wie deine Seele oft geahnt 
Und nie gewußt zu nennen, was sie meinte. 
Von da hebt Zauber an. An jedem Sarg 
Schlägt da von innen mit lebendgen Knöcheln 
Das Leben, Schultern stemmen sich von unten, 
Der Deckel dröhnt, wo zwischen Erz und Erz 
 Die schmalste Spalte, schieben Menschenfinger 
Sich durch und aus den Spalten strömt ein Licht, 
Ein Licht, ein wundervolles warmes Licht, 
Das lang geruht im kühlen dunklen Grund 
Und Schweigen in sich sog und tiefen Duft 
Von nächtigen Früchten – dieses Licht strömt auf, 
Und auf die Deckel ihrer Grüfte steigen, 
Den nackten Fuß in goldenen Sandalen, 
Die tausende Lebendigen und schauen 
Auf dich und auf das Spiel gespenstiger Reihen 
Und reden mehr als du begreifen kannst."


Hugo von Hofmannsthal