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Mittwoch, 13. September 2023

„Franz Liszt – Der verkannte Visionär II“

 

Es gibt kaum einen Komponisten, dem größeres Unrecht widerfahren ist, als Franz Liszt (1811-1886): Meist auf seine frühe Laufbahn als Klaviervirtuose reduziert, haftet seinem Werk bis heute das Signum der Minderwertigkeit an. Dabei war Liszt nicht nur bedeutender Vertreter der Musik der Romantik, sondern zugleich deren erster Überwinder. Seine in sich gekehrte, einsame Suche nach neuen Ausdrucksformen führte zum stillen, nachhaltigen Bruch mit der Musiksprache seiner Zeit, lange bevor spätere Generationen die Revolution der Moderne lautstark einläuteten. Liszt, der verkannte Visionär, legte dabei Regionen frei, die für alle anderen noch dunkel waren.

Die Rezeptionsgeschichte von Franz Liszts Werk war immer wieder von ungerechtfertigten Vorbehalten geprägt, die eine unvoreingenommene Beurteilung seines Schaffens bis heute erschweren: Zum einen scheint es Mode geworden zu sein, vermeintliche Schwächen in Liszts Orchesterwerken zu orten und gegen Werke anderer Komponisten auszuspielen, um seine Unterlegenheit zu postulieren. Zum anderen wurden seine Klavierkompositionen oft als auf den reinen Effekt bedachte Machwerke eines Virtuosen abqualifiziert, der in Ermangelung musikalischer Substanz mit oberflächlichem Brillieren nach außen zu dringen versuchte, um ein sensationslüsternes, aber unmusikalisches Publikum für sich zu gewinnen. Beide Etikettierungen zeugen von großen Missverständnissen, die, wenn nicht auf Böswilligkeit, so zumindest auf Unwissen beruhen. Denn Liszt war nicht nur Virtuose am Klavier, sondern in erster Linie Komponist für das Klavier. Es war sein Instrument der Entgrenzung, der Entfesselung, dem er seine poetischen Eingebungen anvertraute und diese in orchestrale Klangfarben von bislang unbekannten Dimensionen zu verwandeln wusste. Und gerade darin besteht seine eigentliche Errungenschaft: Die Idee, das Instrument als vielschichtiges Orchester nicht mehr dem reinen Schönklang unterzuordnen, sondern in den Dienst des kompromisslosen Ausdrucks innerster Empfindung zu stellen, wurde von Liszt im Alleingang perfektioniert. Dies führte zu einer nie dagewesenen Intensität an Ausdruck, deren Spektrum vom hellsten Licht bis hin zu tiefsten Schatten reicht und in Liszts Meisterwerken nie zum bloßen Vehikel des äußeren Effekts verkommt. Sie ist vielmehr die zugrundeliegende Ursache, die erst im Klang ihre Wirkung nach außen findet. Die oft gescholtene Virtuosität wird dann zum Medium der Vermittlung, zum Geburtshelfer eines inneren Prozesses, der nach außen getragen werden will und dem eine höhere Idee eingeschrieben ist. Doch diese ist kein Selbstzweck; sie ist der Versuch, dem Unbeschreiblichen habhaft zu werden und es in Musik zu transzendieren. Und genau darin liegt das Geheimnis begründet, das Liszts beste Kompositionen so kompromisslos, intensiv und originär macht: Ihre atemberaubende Expressivität, die in ihrer Unmittelbarkeit von klassischen Formen nicht gebändigt werden will, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr von unermüdlichem Gestaltungswillen und kühner Neugier, die sich weder Hörgewohnheiten noch überlieferten Traditionen unterordnen lässt und unerschrocken nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten strebt. Dass Liszt im Laufe seines Lebens dabei immer unkonventioneller, ja progressiver wurde und am Ende gar – in innerer Abgeschiedenheit – völliges Neuland entdeckte, das mit der Mode seiner Zeit endgültig brach, lässt sich in seinem ganzen Ausmaß womöglich erst heute überblicken: So verzichtete Liszt in seinem Spätwerk, das tatsächlich auch ein Alterswerk war, schließlich auf jegliche Form von Virtuosität und drang in karge Klangsphären vor, die in ihrem radikalen Ausdruck und ihrer kühnen Harmonik in Welten führten, die noch niemand zuvor je betreten hatte, doch bereits vollständig von künftigen Revolutionen zu berichten wussten, da sie diese längst in sich bargen.

Der folgende – vierteilige – Artikel hat sich zum Ziel gesetzt, den noch immer existierenden Vorbehalten gegenüber Liszts Werk entschieden entgegenzutreten, indem sein Schaffen von vier unterschiedlichen Blickwinkeln hinsichtlich seiner einzigartigen Modernität beleuchtet wird. Dabei sollen aber nicht nur Bedeutung und Wert einzelner Kompositionen vermittelt, sondern auch deren Einfluss auf spätere Generationen nachvollzogen werden. Liszts Vermächtnis strahlte nämlich weit ins 20. Jahrhundert aus und nahm etliche Revolutionen vorweg, die sich zu seiner Zeit noch nicht einmal ankündigt hatten. Dementsprechend möchte der Artikel Franz Liszt nicht nur als großen Komponisten und unvergleichlichen Klavierpoeten von unerschöpflicher imaginativer Kraft vorstellen, sondern auch als kühnen Vordenker, Neuerer und Visionär, der in der Musikgeschichte noch nicht den Platz gefunden hat, der ihm zusteht. Doch um diesen zu finden, hilft ein unvoreingenommener Blick auf sein Werk, das von der wahren Geschichte zu erzählen weiß.

Der Artikel gliedert in vier Betrachtungen: 

I. Ungarisches Temperament – Hör mal, wer da hämmert 

II. Fluide Impression – Wasserspiele und mehr 

III. Kathedrale des Klangs – Kling, Glocke, kling 

IV. Point of no Return – Der Weg ins Atonale

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II. Fluide Impression – Wasserspiele und mehr

 

Bei näherer Betrachtung von Franz Liszts Werk liegt diesem meist eine höhere poetische Idee zugrunde. Gerade die Natur dient hierbei oft als Projektionsfläche, indem sie – weit über jede realistische Darstellung hinaus – in einem übergeordneten metaphysischen Kontext eingebettet wird. Demnach zelebriert Liszts Musik nicht das sinnlich Fassbare, sondern die transzendentale Erfahrung, die im Klang überhaupt erst erfahrbar wird. Diese Transzendenz erschöpft sich aber nicht in der reinen Wiedergabe von äußeren Eindrücken, sie führt vielmehr nach innen, wo Liszt verborgene Regionen freizulegen sucht, indem er den Begriff Natur überwindet und zur Metapher tiefer Innerlichkeit – bis hin zur religiösen Versenkung – werden lässt. Das Element des Wassers spielt hierbei eine wichtige Rolle und findet in jeder Schaffensphase Liszts immer neue musikalische Ausgestaltungen mit unterschiedlichsten Deutungsebenen. 

Bereits in den 1830er Jahren gelangen Liszt im ersten Teil seines pianistischen Hauptwerkes, dem dreiteiligen Sammelband „Années de pèlerinage“ („Pilgerjahre“), zwei Charakterstücke, die den sanften Wellengang eines Sees ebenso zu evozieren vermochten wie das liebliche Sprudeln frischer Quellen. Ersterem – mit dem Titel „Au lac de Wallenstadt“ („Am Walensee“) – ist ein Motto von Lord Byron vorangestellt: „Thy contrasted lake / With the wild world I dwell in is a thing / Which warns me, with its stillness, to forsake / Earth's troubled waters for a purer spring.“ Liszt verweist mit Byrons Worten auf die innewohnende Ruhe des Sees im Gegensatz zu den wilden Gewässern einer ungestümen Außenwelt und gemahnt diesen zugunsten reineren Quellen zu entsagen. Mit diesem Subtext gesellt sich zum vermeintlich naturalistischen Landschaftsbild ein dem Menschen eingeschriebener Konflikt und hebt das Werk dadurch auf eine Metaebene, welche die religiöse Sphäre streift: Schließlich ist das intrinsische Element des Christentums (sowie jeder Religion) die unstillbare Sehnsucht nach Frieden und Reinheit im immateriell Absoluten. Das Element des Wassers spielt hierbei keine zu unterschätzende Rolle, fand es doch als Inbegriff der Reinigung (Purifikation) – sei es als Weihwasser bei der Taufe oder als zu Blut erklärtem Wein – Eingang in den christlichen Ritus. Erst mit diesem Wissen in Verbindung mit dem vorangestellten Motto kann die spirituelle Dimension, der sich Liszts Musik nähert, erahnt werden, ohne dem Werk, das im Dienste einer höheren Idee steht, Unrecht zu tun. – Betrachtet man die Musik selbst, so fällt es nicht schwer in den gleichmäßig rinnenden Figuren die sanften Wogen der Wellen auf der Oberfläche des Sees sowie das – durch bedächtiges Rudern – Gleiten auf ebendieser zu erkennen. Und doch bedarf es höchster Kunst, diese Natürlichkeit einzufangen und mit dem ihr eingeschriebenen Motto sowie dessen geistigem Überbau harmonisch zu versöhnen. Selten waren große Gedanken und Klangschönheit inniger vereint:



Auch dem zweiten Stück mit dem vielsagenden Titel „Au bord d’une source“ („Am Rand einer Quelle“) ist ein Motto – diesmal von Schiller – vorangestellt: „In säuselnder Kühle / beginnen die Spiele / Der jungen Natur.“ In dieser poetischen Miniatur voll frisch sprudelnder Vitalität scheint jeder herabrieselnden Wassertropfen des herausströmenden Quells einzeln greifbar zu sein und doch verweist das Motto nicht nur auf das Beobachtung eines natürlichen Wasserspiels, sondern auch auf eine zusätzlich abstrakt-menschliche Komponente, die der Begriff „junge Natur“ in sich birgt und das Leben an sich gleich mit einzuschließen vermag:



Doch Liszt nutzt die Eigentümlichkeit des Wassers nicht nur zur Illustration höherer Bedeutungsebenen, sondern erschließt in späteren Jahren mit den klanglichen Eigenheiten dieses Elements auch neue Dimensionen religiöser Versenkung. Das sanfte Wogen der Wellen wird dabei zu einer stillen, um sich selbst kreisenden Meditation transzendiert, die zum Dokument einer Suche nach Einkehr und spiritueller Erfahrung wird. Eine Suche, die von der Sehnsucht geleitet wird, den beengenden Erkenntnishorizont des eigenen Daseins durch eine höhere Erfahrung zu überwinden und als Individuum über sich selbst hinauszuwachsen. Es ist die Sehnsucht nach Entgrenzung, am Grenzenlosen teilzuhaben. Liszt wird im Versuch, all dies musikalisch zu vermitteln, zum Schöpfer einer neuen musikalischen Gattung, nämlich jener des religiös inspirierten Klavierstücks, welche pittoreske Darstellungen romantischer Miniaturen (wie in den beiden ersten Hörproben vorliegend) weit übersteigt. Die Meditation wird hierbei zum Motor und Taktgeber einer Suche. Nicht mehr das subjektiv gefärbte Abbild von einem Außen, sondern das innere Streben nach spiritueller Erfahrung rückt nun in den Vordergrund. Die dabei stattfindende religiöse Versenkung wird zum immanenten Teil der pianistischen Exploration, die sich im Klang nach außen manifestiert. 

Liszts Meisterwerk in diesem Zusammenhang ist „Bénédiction de Dieu dans la solitude“ („Gottes Segen in der Einsamkeit“) aus einer Sammlung von Klavierkompositionen mit dem programmatischen Titel „Harmonies poétiques et religieuses“, die in den späten 1840er Jahren entstanden ist. Die Musik wird hier zum Gebet. Die zelebrierte stille Einkehr benötigt keine äußere Metapher mehr, um Bestand zu finden. Es ist die vielschichtig abgestufte Intensität des Ausdrucks selbst – von ruhiger Kontemplation bis hin zu entfesselter Ekstase –, die der Komposition ihr Programm verleiht: So gesehen sind die sanft oszillierenden Klanggebilde, die sich wogend gestalten, verstärken und schließlich leidenschaftlich entladen, Wellen nicht von dieser Welt, sondern verinnerlichter Ausdruck einer sich mitteilenden Seelenlandschaft eines suchenden, finden-wollenden Subjekts. Ein Subjekt, das in tiefer Einsamkeit in Dialog mit sich selbst tritt und dabei einen Prozess vollführt. Das ungenannte Wasser wird hierbei zu wogenden Wellen eines mäandernden Bewusstseinsstroms, der von der Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung und (ver-)klärender Transzendenz geleitet wird:



Bei aufmerksamem Hören erkennt man in den sich leidenschaftlich gestaltenden Höhepunkten (ab Minute 4:09 sowie ab 12:00) eine musikalische Vorwegnahme (um rund zehn Jahre) von „Isoldes Verklärung“ (fälschlicher Weise auch als „Liebestod“ bezeichnet) am Ende von Richard Wagners (1813-1883) „Tristan und Isolde“. Auch in diesem Bühnenwerk ist es das Element Wasser, welches das Geschehen sowohl äußerlich (der Akt 1 spielt auf hoher See, Akt 2 und 3 an Küsten) als auch innerlich (in Form von wild aufbrausende Liebeswogen) bestimmt. Am Ende (nach Tristans Tod) verneint Isolde schließlich ihren Willen zum Leben, um das Irdische endgültig zu überwinden, sich als Subjekt in einer entgrenzten „Allumfasstheit“ aufzulösen und mit Tristan so indirekt wieder vereint zu sein. Für die Umsetzung benötigte Wagner Liszts Gottesbegriff nicht, sehr wohl aber dessen musikalischen Einfall, der nun Isoldes letztes sehnsüchtige Begehren sowie die erlösende Erfüllung in immer heftiger werdenden orgiastischen Liebeswogen als wilden metaphysischen Wellengang darzustellen weiß. – Nach der Uraufführung 1865 fertigte Liszt, der mittlerweile Wagners Schwiegervater war, vom Finale höchstpersönlich eine Transkription für Klavier an. Es wird ihm wohl nicht entgangen sein, dass er für dieses in der Musikgeschichte ebenso einzigartige wie bahnbrechende Werk einen bescheidenen (meist unerwähnten) Beitrag geleistet hat (ab 4:19):



Etwas weltlicher als „Bénédiction de Dieu dans la solitude“, dafür umso populärer ist der Liebestraum in As-Dur aus dem Jahre 1850, der die aufwallenden Liebeswogen eines möglichen Liebestodes ebenso vorwegzunehmen scheint. Die höhere poetische Idee dieses lyrischen Klavierwerkes ist eine verlockende Aufforderung, die dem Titel eines ursprünglich vertonten Gedichts zu entnehmen ist: „O lieb, solang du lieben kannst“.



Wieder ganz und gar geistlich motiviert wird es in der ca. 1860 entstandenen pianistischen Interpretation der Legende des heiligen Francesco di Paolo, wonach dieser die Meerenge von Messina zu Fuß überquert haben soll. Diese vereint physisch fassbaren Wellengang mit der mystisch-sakralen Aura der Überlieferung: Das markant schreitende Choralthema des Heiligen überlagert sich immer wieder mit Tremoli, Arpeggien, chromatischen wie diatonischen Skalenläufen des unter seinen Füßen aufbrausenden Meeres, das er aber – im Glauben gefestigt – unbeschadet zu überwinden vermag:



Die bedeutendste Schöpfung Liszts, die sich direkt dem Element des Wassers verschreibt, ist allerdings die späte Tondichtung „Les jeux d'eaux à la Villa d'Este“ („Die Wasserspiele der Villa d'Este“) aus dem Jahre 1877 sowie Teil des dritten Bandes von „Années de pèlerinage“ („Pilgerjahre“). Diese widmet sich dem Titel nach der Künstlichkeit einer durch Menschenhand gebändigten Natur in Form eines mit komplexen Brunnenanlagen versehenen Renaissancegartens der Villa d’Este in Tivoli nahe Rom, die zugleich Liszts Alterssitz war. Dem vom Wundergarten hochinspirierten Liszt gelang hier eine Komposition von besonderer Kunstfertigkeit, indem er all die unzähligen sprudelnden Quellen, übergehenden Beckenkaskaden, hochschießenden Fontänen sowie gewaltigen Wasserfälle zum Klingen bringt und in irisierend betörenden Klangfarben impressionistische Tonmalerei vorweg zu nehmen scheint. In diesem Meisterwerk verschränkt sich erneut bildhafte Evokation realer Gegebenheiten (in Form der Wasserspiele) mit der entrückt-verklärender Mystik einer sakralen Aura zu einer höheren Einheit. Denn für Liszt, der zu dieser Zeit bereits die niederen Weihen empfangen hatte und mit Erlaubnis eines befreundeten Kardinals – dem Besitzer der Villa – an diesem magischen Ort wohnen durfte, war das im Garten allgegenwärtig sprudelnde Wasser mehr als nur sommerliche Erfrischung oder sinnliche Zerstreuung: Es war für ihn die Präsenz des göttlichen Heilsgeschehens, da ein verschlossener Garten („Hortus conclusus“) mitsamt Brunnen bzw. Quellen („fons“) bereits im Hohelied Salomons des Alten Testaments Erwähnung findet und später zum Symbol der unversehrten Jungfräulichkeit Marias, der Mutter Jesu, wurde. Darüber hinaus versah Liszt eine besonders mystische Stelle in der Partitur mit einem Zitat aus dem Johannesevangelium, als Jesus am Brunnen Jakobs zu der Samariterin sprach: „…sed auqua quam ego dabo ei, fiet in eo fons aquae alientis in vitam aeternam.“ („…vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“) Wasser galt Liszt somit als Symbol des ewigen Lebens sowie des absolut Reinen, das in ständiger Bewegung Segen zu spenden vermag. Und er tat das Seine, diesem heiligen Medium durch ein weiteres heiliges Medium, der Musik, Transzendenz und Ewigkeit zu verleihen:



„Les jeux d’eau à la Villa D’Este“ gilt nicht nur als ein Höhepunkt in Liszts Spätwerk, sondern ist auch musikgeschichtlich von höchster Relevanz und Einfluss auf die nächste Generation Musikschaffender: Liszt nahm hier mit exotischen Klangfarben und virtuosen Skalenläufen bereits Anklänge einer damals noch nicht existenten Musikepoche vorweg, die als französischer Impressionismus erst ein Vierteljahrhundert später zur vollen Blüte kommen sollte. Liszts visionäres Meisterstück war den bedeutendsten Vertretern des Impressionismus, Maurice Ravel (1875-1937) und Claude Debussy (1862-1918), durchaus vertraut und wurde als wegweisende Pioniertat sehr geschätzt. So ist es kein Zufall, dass Ravel bereits im Titel seines ersten ganz dem impressionistischen Stil verschriebenen Klavierwerks aus dem Jahr 1901 dem verehrten Meister seine Reverenz erwies, indem er sich kompositorisch der Beschreibung bewegten Wassers widmete und sich auch noch für den Namen „Jeux d’eau“ („Wasserspiele“) entschied. Auf eine nähere geografische Bezeichnung verzichtete Ravel ebenso wie auf den christlichen Überbau, indem er sein Werk ebenso humorvoll wie (gemessen an Liszts Katholizismus) leicht blasphemisch mit „Dieu fluvial riant de l’eau qui chatouille“ („Flussgott, über das Wasser lachend, das ihn kitzelt“) überschrieb. Musikalisch führte Ravel aber Liszts anspruchsvolle transzendentale Virtuosität konsequent fort, erweiterte dabei das Klangspektrum noch mehr und fand so zu seinem ureigenen, unverwechselbar eleganten Stil:



„Jeux d’eau“ sollte in Ravels Schaffen aber nur den Urknall impressionistischer Klavierwerke darstellen, die sich dem Element Wasser verschreiben. So befindet sich bereits im Klavierzyklus „Miroirs“ („Spiegelbilder“) von 1905 ein Stück von betörender Schönheit mit dem programmatischen Titel „Une barque sur l’océan“ („Eine Barke auf dem Ozean“):



Und auch in seinem Meisterwerk, dem Klavierzyklus „Gaspard de la nuit“ („Schatzmeister der Nacht“) aus dem Jahr 1908, widmete Ravel sich in traumhafter Szenerie dem Element Wasser über „Ondine“, einer Wassernixe, und schuf damit eines der bezauberndsten und gleichzeitig anspruchsvollsten Klavierstücke der Musikgeschichte:



Doch auch bei Claude Debussy – der erst nach Ravel am Klavier seinen unverwechselbaren impressionistischen Stil fand – hinterließ das Element Wasser Spuren, schließlich durfte er als junger Komponist noch persönlich die Bekanntschaft mit Franz Liszt machen, der ihm bei der Gelegenheit womöglich persönlich seine „Wasserspiele“ vortragen konnte. Besonders eindrucksvoll gelang dies Debussy in seinem 1904 entstandenem Werk „Reflets dans l’eau“ aus dem Zyklus „Images“, in welchem er Lichtreflexe auf einer bewegten Wasseroberfläche mit hochpoetischem Gespür für ausdrucksvollste Tonmalerei beschreibt:



Eine späte Referenz an die fluiden Impressionen Liszts, Ravels und Debussys erwies György Ligeti (1923-2006) in seinem 1976 entstandenen Werk mit dem bezeichnenden Titel "In zart fließender Bewegung", wo der Klangraum zweier Klaviere in alle Richtungen zu zerfließen scheint:



War Liszts klangpoetische Auseinandersetzung mit dem Element Wasser (wie seine Musik generell) christlich geprägt, so lösten sich bereits die Impressionisten völlig davon und ergingen sich ganz im Spiel um des Spiels willen, schufen Kunst, die sich selbst genügt, ohne einem höheren Zweck zu dienen. Und doch öffnete Liszts metaphysische Suche – unabhängig von ihrer Motivation – folgenreich eine Tür, die sich als Eingang zu einer Schatzkammer erweisen sollte, welche die Musikgeschichte unendlich reicher macht. 
 
 
 

Sonntag, 21. Mai 2023

„Franz Liszt – Der verkannte Visionär I“

 

Es gibt kaum einen Komponisten, dem größeres Unrecht widerfahren ist, als Franz Liszt (1881-1886): Meist auf seine frühe Laufbahn als Klaviervirtuose reduziert, haftet seinem Werk bis heute das Signum der Minderwertigkeit an. Dabei war Liszt nicht nur bedeutender Vertreter der Musik der Romantik, sondern zugleich deren erster Überwinder. Seine in sich gekehrte, einsame Suche nach neuen Ausdrucksformen führte zum stillen, nachhaltigen Bruch mit der Musiksprache seiner Zeit, lange bevor spätere Generationen die Revolution der Moderne lautstark einläuteten. Liszt, der verkannte Visionär, legte dabei Regionen frei, die für alle anderen noch dunkel waren.

Die Rezeptionsgeschichte von Franz Liszts Werk war immer wieder von ungerechtfertigten Vorbehalten geprägt, die eine unvoreingenommene Beurteilung seines Schaffens bis heute erschweren: Zum einen scheint es Mode geworden zu sein, vermeintliche Schwächen in Liszts Orchesterwerken zu orten und gegen Werke anderer Komponisten auszuspielen, um seine Unterlegenheit zu postulieren. Zum anderen wurden seine Klavierkompositionen oft als auf den reinen Effekt bedachte Machwerke eines Virtuosen abqualifiziert, der in Ermangelung musikalischer Substanz mit oberflächlichem Brillieren nach außen zu dringen versuchte, um ein sensationslüsternes, aber unmusikalisches Publikum für sich zu gewinnen. Beide Etikettierungen zeugen von großen Missverständnissen, die, wenn nicht auf Böswilligkeit, so zumindest auf Unwissen beruhen. Denn Liszt war nicht nur Virtuose am Klavier, sondern in erster Linie Komponist für das Klavier. Es war sein Instrument der Entgrenzung, der Entfesselung, dem er seine poetischen Eingebungen anvertraute und diese in orchestrale Klangfarben von bislang unbekannten Dimensionen zu verwandeln wusste. Und gerade darin besteht seine eigentliche Errungenschaft: Die Idee, das Instrument als vielschichtiges Orchester nicht mehr dem reinen Schönklang unterzuordnen, sondern in den Dienst des kompromisslosen Ausdrucks innerster Empfindung zu stellen, wurde von Liszt im Alleingang perfektioniert. Dies führte zu einer nie dagewesenen Intensität an Ausdruck, deren Spektrum vom hellsten Licht bis hin zu tiefsten Schatten reicht und in Liszts Meisterwerken nie zum bloßen Vehikel des äußeren Effekts verkommt. Sie ist vielmehr die zugrundeliegende Ursache, die erst im Klang ihre Wirkung nach außen findet. Die oft gescholtene Virtuosität wird dann zum Medium der Vermittlung, zum Geburtshelfer eines inneren Prozesses, der nach außen getragen werden will und dem eine höhere Idee eingeschrieben ist. Doch diese ist kein Selbstzweck; sie ist der Versuch, dem Unbeschreiblichen habhaft zu werden und es in Musik zu transzendieren. Und genau darin liegt das Geheimnis begründet, das Liszts beste Kompositionen so kompromisslos, intensiv und originär macht: Ihre atemberaubende Expressivität, die in ihrer Unmittelbarkeit von klassischen Formen nicht gebändigt werden will, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr von unermüdlichem Gestaltungswillen und kühner Neugier, die sich weder Hörgewohnheiten noch überlieferten Traditionen unterordnen lässt und unerschrocken nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten strebt. Dass Liszt im Laufe seines Lebens dabei immer unkonventioneller, ja progressiver wurde und am Ende gar – in innerer Abgeschiedenheit – völliges Neuland entdeckte, das mit der Mode seiner Zeit endgültig brach, lässt sich in seinem ganzen Ausmaß womöglich erst heute überblicken: So verzichtete Liszt in seinem Spätwerk, das tatsächlich auch ein Alterswerk war, schließlich auf jegliche Form von Virtuosität und drang in karge Klangsphären vor, die in ihrem radikalen Ausdruck und ihrer kühnen Harmonik in Welten führten, die noch niemand zuvor je betreten hatte, doch bereits vollständig von künftigen Revolutionen zu berichten wussten, da sie diese längst in sich bargen.

Der folgende – vierteilige – Artikel hat sich zum Ziel gesetzt, den noch immer existierenden Vorbehalten gegenüber Liszts Werk entschieden entgegenzutreten, indem sein Schaffen von vier unterschiedlichen Blickwinkeln hinsichtlich seiner einzigartigen Modernität beleuchtet wird. Dabei sollen aber nicht nur Bedeutung und Wert einzelner Kompositionen vermittelt, sondern auch deren Einfluss auf spätere Generationen nachvollzogen werden. Liszts Vermächtnis strahlte nämlich weit ins 20. Jahrhundert aus und nahm etliche Revolutionen vorweg, die sich zu seiner Zeit noch nicht einmal ankündigt hatten. Dementsprechend möchte der Artikel Franz Liszt nicht nur als großen Komponisten und unvergleichlichen Klavierpoeten von unerschöpflicher imaginativer Kraft vorstellen, sondern auch als kühnen Vordenker, Neuerer und Visionär, der in der Musikgeschichte noch nicht den Platz gefunden hat, der ihm zusteht. Doch um diesen zu finden, hilft ein unvoreingenommener Blick auf sein Werk, das von der wahren Geschichte zu erzählen weiß.

Der Artikel gliedert in vier Betrachtungen: 

I. Ungarisches Temperament – Hör mal, wer da hämmert 

II. Fluide Impression – Wasserspiele und mehr 

III. Kathedrale des Klangs – Kling, Glocke, kling 

IV. Point of no Return – Der Weg ins Atonale

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I. Ungarisches Temperament – Hör mal, wer da hämmert

 

Franz Liszt wurde als Kind von Angehörigen einer deutschsprachigen Minderheit in Westungarn (innerhalb des Kaisertums Österreich) geboren und fühlte sich der ungarischen Volksmusik sein Leben lang verpflichtet. Besonders die feurigen Weisen der Roma und Sinti – die im 19. Jahrhundert fälschlicherweise für nationale Folklore gehalten wurden – entflammten sein Interesse und führten zu pianistischen Glanzstücken. Das berühmteste ist wohl Liszts 2. Ungarische Rhapsodie aus dem Jahr 1847, die auch in der Popkultur Einzug gehalten hat (z.B. „Tom und Jerry“). Ihrer Form nach ist sie ein ungarischer Tanz namens Csárdás, dem auf einem langsamen ersten Teil ein sich wild steigernder zweiter folgt. Und genau so verfährt auch dieses eindrucksvolle Werk: Einer markanten, spannungsvoll anhebenden Einleitung im deklamierenden Legendenton folgt der langsame erste Teil: Dieser ist von dunklem, melancholischem Charakter, ein majestätischer Schreittanz mit betörender Melodie von hypnotisch-einnehmender Sinnlichkeit, deren düster beschwörender Aura mit geheimnisvoller Exotik lockt. Ein wichtiges Element des koloristischen Reizes dieser Exotik ist die in der Wissenschaft als „Zigeunertonleiter“ (ein mittlerweile veralteter, politisch unkorrekter Name für die Volksgruppen der Roma und Sinti) bezeichnete Tonfolge, die vermutlich orientalischen Ursprung hat und deshalb eine ungewohnt fremdländische Klangsphäre heraufzubeschwören vermag. Was für ein Kontrast ist der zweite, schnelle Teil (ab 4:34), in dem Liszt alle Register des Klaviers zieht: Ein fast impressionistisch anmutendes irisierendes Lichterspiel mündet unversehens in launige volkfesthafte Ausgelassenheit und führt zu Passagen von orchestralen Dimensionen, die vor simulierten Triangel- und Zymbaleffekten nicht zurückschrecken und dem sich tatsächlich im Einsatz befindlichen Instrument, dem Hammerklavier, alle Ehre machen, indem sie dieses wortwörtlich zum Schlagwerk umfunktionieren. All das geschieht im Rahmen eines entfesselten Spektakels voll virtuosem Feuerwerk, das im Konzertsaal seine Wirkung nie verfehlt und den Applaus gleich mitkomponiert zu haben scheint:



Doch genau an der 2. Ungarischen Rhapsodie entzünden sich die Gemüter und scheiden sich die Geister: Viele Fürsprecher Liszts meinen darin das repräsentative Glanzstück seines Schaffens zu erkennen, das die unbändige Exaltiertheit seines Stils am deutlichsten zur Schau stelle und von seiner unerschöpflichen Erfindungsgabe zeuge. Gegner meinen hingegen gerade in diesem Stück das Blendwerk eines einseitigen Virtuosen zu orten, der durch übersteigerte Effekte von der mangelnden Substanz abzulenken versuche, und fühlen sich in ihren Vorbehalten gegenüber Liszt bestätigt. Beide Lager – sofern sie die 2. Ungarische Rhapsodie ins Zentrum von Liszts Schaffen stellen und daran sein Werk bemessen – haben Unrecht und konterkarieren eine seriöse Einschätzung von Liszts Werk, das sich nicht im Geringsten in den Ungarischen Rhapsodien erschöpft, sondern diese eher als kuriose Gelegenheitskompositionen ausweist. (Selbst in Liszts richtungsweisenden Beiträgen zur ungarischen Musik spielen sie eine untergeordnete Rolle.) Wer Liszts wahren Errungenschaften und seinem gewaltigen Vermächtnis auf die Spur kommen will, muss tiefer in sein Schaffen eintauchen, als sich mit populär gewordenem Nebenwerk zu begnügen.

Ein ganz anderes Bild ergibt die nur wenige Jahre nach der 2. Ungarischen Rhapsodie – die Laufbahn als Klaviervirtuose wurde von Liszt längst beendet – geschaffene Klaviersonate in h-Moll aus dem Jahr 1851. Dieses Werk ist ein Meilenstein der Musikgeschichte, dessen Einfluss auf die Nachwelt nicht unterschätzt werden soll, obgleich es selten jene Würdigung erfährt, die ihm gebührt. Die Bedeutung der h-Moll-Sonate lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: Zunächst ist sie ein formal gebändigtes Meisterwerk, eine halbstündige Sonate in einem Satz, die alle Regel der klassischen Hauptsatzform erweitert, ja sprengt und ihnen doch letztendlich entspricht. Weiters gehören die Themen, die Liszt während des gesamten Satzverlaufes einem kontinuierlichen Prozess der Verarbeitung, Kombination und Verwandlung unterwirft, zu seinen stärksten und eindrucksvollsten. Und schließlich ist Liszts Verwendung des Hammerklaviers revolutionär, Anschlag und Rhythmik durchbrechen die Grenzen des Konventionellen und erschließen eine radikal neue Art des Ausdrucks.

Bereits der Beginn illustriert die Revolution: Kurze, harte Schläge ohne Glanz und Zier bilden als Bruch mit dem zuvor herrschenden Nichts die Einleitung, welche die Stille zum Ton in eine neue Beziehung setzt und im Schweigen Artikulation gebiert. Diese Töne dringen aus den Tiefen eines undefinierten Urgrunds in den Vordergrund, durchbrechen die Stille und werden zur von Pausen durchsetzten Gebärde, die sich beim dritten Schlag zu einer absteigenden (phrygischen) Tonleiter dunkel formt, bevor sie wieder in von Schlägen gestörte Stille mündet. Beim dritten Schlag des archaischen, repetitiven Klanggebildes folgt erneut eine absteigende Tonleiter, diesmal mit jener Verfärbung, die einer „Zigeunertonleiter“ entspricht, sodass ungarisch-folkloristische Elemente auch diesem Werk subkutan eingeschrieben sind. Ein drittes Mal folgen die Schläge, die in ihrer reduziert akzentuierten Tonwiederholung gleichsam das Grundmotiv des Werkes vorwegnehmen. Die kühne Einleitung, die stets im harmonisch Vagen bleibt und sich die Tonart h-Moll nicht festzulegen getraut, endet hier, worauf ein neues Thema wild aufbegehrend anhebt und mit der vollen Wucht hämmernder Oktaven die Tonart h-Moll auf fatalistische Weise etabliert. Unmittelbar darauf folgt ein weiteres markantes Motiv, in dessen Bass sich mit rhythmischer Präzession eine dunkle Figur von repetierenden Tönen, einem klopfenden Staccato-Motiv voll abgründigem Trotz und diabolischer Verneinung (wie ein anspringender Motor), gebärdet. All diese rhythmisch stark akzentuierten Motive bauen sich in einer eindrucksvollen, spannungsreichen, immer mächtiger werdenden Steigerungswelle auf, die sich schließlich im ersten „Hauptmotiv“ gewaltig entlädt. Dieses „Hauptmotiv“ (ab 1:41) ist aber im eigentlichen Sinne kein neues Motiv, sondern eine komplexe, dämonisch getriebene Abwandlung des bereits zuvor vorgestellten Themenmaterials, wo die Schläge ins Nichts, die absteigenden Tonleiter, die repetierenden Tongebilde, die massig herabstürzenden Oktaven ebenso vertreten sind, wie die Wucht des kompromisslosen Anschlags, der dem Hammerklavier neue Dimensionen des sprichwörtlich „hämmernden“ Ausdrucks verleiht. Liszt erweist sich hier als Meister der Verarbeitung, der thematischen Entwicklung, dem es gelingt, das unsagbar Gewaltige des inneren Abgrunds in Musik zu wandeln, deren Vermittlung nicht mehr über melodischen Schönklang und Ausgewogenheit der Harmonie erfolgt, sondern durch die Unmittelbarkeit eines Impulses von archaischer Ursprünglichkeit, der in seiner getriebenen Motorik, rhythmischen Emphase und diabolischen Stringenz die Themen auf überwältigend drängender Weise geradezu physisch erlebbar macht.

Eine wilde Überleitung von stürmischen Oktavenläufen und perpetuierender Motorik führt zum zweiten „Hauptmotiv“ (ab 3:42), einem lichten „Grandioso“ in strahlendem Dur, das sich ebenfalls – wie das erste „Hauptmotiv“ – melodisch wie rhythmisch aus den Urthemen des Anfangs der Sonate ableitet und zu den aufregendsten Ereignissen der ganzen Sonate gehört: Über einem Klangteppich pochender Akkordschläge entwickelt sich eine triumphal Melodielinie, die eruptiv und drängend zur letzten Erlösung in die Höhe strebt. Ob dieses „Grandioso“ ein Sonnenaufgang, ein Vulkanausbruch, ein Stoßgebet oder letzte Katharsis des menschlichen Strebens darzustellen versucht, ist letztendlich gleichgültig; dieses Destillat absoluter Musik braucht keine Etikettierung, um für sich selbst zu bestehen. Aus minimalen Mittel von Motivzellen archaischer Reduktion zu Beginn der Sonate gelingt es Liszt, eine allumfassende Welt entstehen zu lassen, die nicht nur finsterste Abgründe von innerer Getriebenheit auszuloten versteht, sondern auch – auf demselben Material basierend – lichtdurchflutete Horizonte von erhebender Transzendenz erschließt.



Diese Entwicklung, Vernetzung, Kombination und Ausgestaltung von ganzen Themengruppen, die sich aus denselben Motivenkernen speisen, vollführt Liszt unter gleichzeitiger Wahrung der überlieferten Form der gesamten Dauer des Werkes über und ihm gelang damit nicht nur der bedeutendste und innovativste Beitrag zur Gattung der Klaviersonate nach Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Franz Schubert (1797-1828), sondern er kann auch als Vordenker einer Idee betrachtet werden, die Arnold Schönberg (1874-1951) später „entwickelten Variation“ nennen soll, die das Entstehen riesiger übergeordneter musikalischer Zusammenhänge aus kleinsten Keimzellen beschreibt. Schönberg berief sich hierbei allerdings nicht auf Liszt, er erkor den viel jüngeren Johannes Brahms (1833-1897) zu seinem Leitbild, der allerdings erst nach der h-Moll-Sonate (die Brahms sehr wohl kannte und auch selbst spielte) seine großen Werke in Angriff nahm, die – wie bei Liszt – immer wieder von ungarisch angehauchten Klangfarben durchdrungen sind. So wurde Liszt zum verkannten Visionär, auf dessen Schultern die Nachwelt stand, ohne ihn beim Namen zu nennen.

Kaum Erwähnung findet Liszt auch im Zusammenhang der Vorwegnahme maschineller Musik, welche die Kälte eines industriellen Fertigungsprozesses zu imitieren sucht. Getriebene Rhythmik, akzentuierte Präzision und repetierende Motorik sind besonders markante Merkmale dieser. Liszts h-Moll-Sonate weist nicht nur viele solcher Stellen auf, die dies belegen (z.B. die Überleitung zum zweiten Hauptmotiv ab 2:59), sie ist in ihrer Grundstruktur vollends von diesem Charakter durchdrungen, welcher konstituierendes Element des Werkes ist. Insofern steht die h-Moll-Sonate Pate für Meisterwerke des 20. Jahrhunderts wie der Toccata op.11 von Sergei Prokofiev (1891-1953), in der die kalte Präzision einer technisch getriebenen Dämonie reinster Motorik am eindrucksvollsten auf die Spitze getrieben wurde, um ein vom Gefühl entfremdetes Zeitalter zu beschreiben.



War die h-Moll-Sonate, die für viele als Gipfelpunkt von Liszts Schaffen gilt, noch durchaus von großem Gefühl getragen, so entfernt sich Liszt in seinem Spätwerk von dieser Ausdrucksweise gänzlich, ohne dabei aber an Expressivität und Unmittelbarkeit zu verlieren. Der späte Liszt versucht ohne schmückendes Beiwerk zum Kern der Dinge, zum Wesentlichen vorzudringen, um ein Letztes zu benennen. Was dabei entstand, sind Dokumente der Auflösung, dunkle Meditationen über das Alter, die Vergänglichkeit, den Tod. Folgerichtig verlor Liszt auf seiner Suche nach Klängen, die dies auszudrücken vermochten, jede Verbindlichkeit gegenüber Form und (letztendlich auch) Tonalität. Mit dem, was er vermitteln wollte, waren diese nicht länger vereinbar. Das Ergebnis wirkt dabei oft nur noch wie das Skelett einer Komposition: karg, abgeklärt, entseelt, bar jeder Sanglichkeit, mit lastend bohrender Rhythmik als Träger radikaler Reduktion. Geschaffen wurden dabei Bekenntnisse eines Weltabgewandten, Heimatlosen, Greisen, der in klösterlicher Abgeschiedenheit – Liszt hatte in den 1860er Jahren in Rom die niederen Weihen empfangen – seinem Hammerklavier Klangsphären der Entsagung, der Resignation, der Bitterkeit anvertraute, zu denen noch niemand zuvor vorgedrungen war. In ihrer Rückbesinnung auf das ursprünglich Elementare überwand Liszt jede abendländische Musikkonvention und erschloss neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Welchen weitreichenden Stein er dabei ins Rollen gebracht hat, soll Franz Liszt, der verkannte Visionär, nicht mehr erleben.

Davon, dass Liszt in seinem Spätwerk auf ungarische Färbungen nicht verzichtet hat, zeugen die folgenden vier eindrucksvollen Beispiele seines eindringlichen Spätstils. Das erste ist eine Totenklage „in ungarischer Weise“ (auch hier findet die „Zigeunertonleiter“ als Ausdrucksmittel Verwendung), die zugleich ein stilles Bekenntnis eines alternden, resignierenden Mannes ist, dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit sich zu Klang manifestiert. Das Stück aus dem Jahre 1872 trägt den tiefsinnigen Titel „Sunt lacrimae rerum” und nimmt auf eine Passage aus Vergils „Aeneis” Bezug, in der es heißt: „Auch hier fließen Tränen über den Lauf der Dinge, und Menschenlos rührt die Gemüter“. Wurde in der literarischen Vorlage der Untergang Troias beweint, so hebt Liszt die Aussage aus ihrem Kontext heraus zu einer generellen Reflexion über das Schicksal, das Vergehen, den Verfall des Menschen an sich. In dieser entrückten Meditation von spätherbstlich herber Schönheit werden Regionen enthüllt, die zu den dunkelsten der abendländischen Kultur gehören:



Von der völligen Aufgabe jeder melodischen Entwicklung hin zu einer rein vom Rhythmus getragenen Impulsivität zeugt das „Crucifige“ („Kreuzigt ihn“) aus Liszts spätem, in Budapest 1879 vollendetem Oratorium „Via Crucis“, das auch für Klavier transkribiert wurde und einen einsamen – kaum bekannten – Gipfelpunkt der abendländischen Sakralmusik darstellt. Hier wird das Hammerklavier endgültig und ausschließlich zum barbarisch primitiven Schlagwerk umfunktioniert, um jeden einzelnen Hammerschlag der Kreuzigung Jesu schmerzlich zu verdeutlichen:



Die Idee, das Hammerklavier in seinem Ausdrucksvermögen als Schlagwerk zu verstehen, liegt auch dem berühmten ungarischen Totentanz „Csárdás Macabre“ aus dem Jahr 1882 zugrunde, der nur noch von atemlos durchgepulster Rhythmik mit Schlägen von unerbittlicher – bitonaler – Härte besteht, die sich völlig entfesselt mit diabolischer Lust als morbides ungarisches „Memento mori“ manifestieren:



Ähnlich verfährt Liszt in seinem letzten national geprägten Zyklus „Historische ungarische Bildnisse“ aus dem Jahr 1885, wo jedes Stück einer historischen Person zugeschrieben ist. Das erste musikalische Portrait ist dem ungarischen Staatsmann István Széchényi gewidmet, dem Liszt am Klavier mit feierlich erhebenden, aber durchaus harten Schlägen ein eindrucksvolles Denkmal setzt:



Kurz darauf verstarb Liszt im Alter von 75 Jahren. Doch die Bedeutung seiner in Einsamkeit geborenen Errungenschaften war damit nicht erloschen; ihr Vermächtnis nahm vielmehr posthum erst ihren Lauf. Liszts unkonventionell kompromissloser Ausdrucksweise, die einer eigenwilligen Rhythmik durch harte Schläge volle Entfaltungskraft einräumt, soll sich ein großer ungarischer Komponist einer späteren Generation mit voller Entschlossenheit anschließen: Béla Bartók (1881-1945). Auch er verstand das Hammerklavier seiner Natur nach als Schlaginstrument und versuchte damit das ursprünglich Elementare, das „primitiv barbarisch“ eingeschriebene Element einer tradierten ungarischen sowie südosteuropäischen Volksmusik (die Bartók im Gegensatz zu Liszts Zeit von der Musik der Roma und Sinti wissenschaftlich zu trennen wusste) durch rhythmische Präzision herauszuarbeiten.
 
Dies illustrieren die folgenden vier Kompositionen, die zu Bartóks bedeutendsten Beiträgen für das Hammerklavier gehören. Eines seiner berühmtesten Werke ist das 1911 entstandene „Allegro barbaro“, das seinem Namen zum Programm macht und als Apotheose rhythmischer Gewalt voll roher Ursprünglichkeit und rhythmischer Brillanz seinen Platz in der Musikgeschichte erobert hat. In der kunstvollen Synthese aus traditionell ungarischen Volksklängen und moderner Harmonik fand Bartók seinen eigenen Stil von entwaffnender Direktheit und beeindruckender Durchschlagskraft:



Von explosiver Gewalt ist auch Bartóks Klaviersonate aus dem Jahre 1926, in der sich melodische Klangelemente weiter radikal vereinfachen, um eine archaische Urform des Klavierspiels zu zelebrieren, bei dem die kleinste Schlageinheit (Achtel) von derart pedantischer Unerbittlichkeit rhythmisch durchgehalten wird, dass die dem ersten Satz innewohnende Elementarkraft ein gespenstisches Eigenleben voll diabolischer Getriebenheit entwickelt:



Im gleichen Jahr – 1926 – entstand Bartóks pianistisches Meisterwerk „Im Freien“, eine Sammlung von fünf Klavierstücken, die an Vielseitigkeit und Imaginationskraft kaum zu übertreffen sind. Schon das erste Stück, dessen Titel „Mit Trommel und Pfeifen“ Bände spricht, führt die rhythmischen Errungenschaften der vorherigen Werke fort und steigert sie zum brachialen Exzess, indem es seiner unbändigen Urgewalt völlig freien Lauf lässt und das Hammerklavier zum Geprügelten werden lässt:



Ähnliche Effekte erzeugt auch das abschließende Stück der Sammlung, das seinem martialischen Titel „Hetzjagd“ durchaus gerecht wird:



Doch auch nach Bartók, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gab es einen großen ungarischen Komponisten, der der Idee, mit impulsiver Rhythmik dem Klavier neue Ausdrucksmöglichkeiten zu entlocken, viel abgewinnen konnte und die Tradition der beiden älteren Meister weiterführte: György Ligeti (1923-2006). So wird sein frühes Meisterwerk „Musica ricercata“, ein elfteiliger Klavierzyklus aus den frühen 1950ern, mit einem Stück eingeleitet, das sich ganz auf die perkussiven Möglichkeiten des Klaviers (also dem reinen Schlageffekt) fokussiert, indem dieses bis zum Schluss aus nur einem einzigen Ton (!!!) mit seinen Oktavtranspositionen besteht und durch rhythmische Variation eine (fast swingende) Welt von atemberaubender Dynamik entstehen lässt:



Das neunte Stück von „Musica ricercata“ ist Ligetis Vorbild gewidmet und soll als posthumes Klagelied für Bartók verstanden werden, das den vom Verstorbenen so beeindruckend verwendeten Schlageffekt des Hammerklaviers nutzt, um eine Aura von Glockenklängen, die von elegischen Tiefen bis hin zu schrill alarmierenden Höhen reichen, zu evozieren:



In seinem achten Stück beweist Ligeti, dass er die von Bartók (und Liszt) effektvoll verwendete Technik auch mit jüngerer Musik aus dem Bereich der swingenden Populärmusik kombinieren konnte:



Besonders beeindruckend gelang Ligeti dies in seinem späteren Werk „Hungarian Rock“ aus den 1970ern, wo er – ohne seine ungarische Herkunft zu leugnen – beweist, dass die altbewährte Schlagtechnik und die überlieferten Rhythmen aus der Volksmusik auch zu effektvollen Rock-Imitationen fähig sind. Ligeti nannte sein Experiment „synthetische Folklore“ und untermauerte das etwas ironische Unternehmen durch die Vorschreibung eines Cembalos (anstatt eines Hammerklaviers) als ausführendes Instrument. Der Witz daran ist, dass das Cembalo den Ton im Gegensatz zum Hammerklavier eben nicht durch einen Schlag erzeugt, sondern durch einen ganz anderen Mechanismus, der es der Gattung der Zupfinstrumente zuordnet. Dennoch bezieht das Stück seine Faszination von der atemberaubenden Rhythmik des vermeintlichen Anschlages. Mehr Swing hatte moderne klassische Musik (eines jung gebliebenen großen Geistes) noch nie und ließ schon damals so manchen „Progressive Rock“-Veteranen vor Neid erblassen:



Den Abschluss macht ein Stück aus Ligetis spätem Meisterwerk, seinen Etüden für Klavier, an denen er seit Mitte der 80er gearbeitet hat und die zu den bedeutendsten Beiträgen zum Klavierrepertoire des 20. Jahrhunderts gehören. In der 14. Etüde ergeht sich Ligeti in einer Tour de Force einem rhythmischen Anschlagsexzess, der wellenartig in die Höhe strebt und keine Grenzen zu haben scheint. Den passenden Namen lieferte Litgeti gleich mit: „Coloana infinită“ („Unendliche Säule“). Hier wird eine Idee, die mit Liszt begann und von Bartók ausgebaut wurde auf die Spitze – in schwindelerregende Höhen – getrieben:



Sowohl Bartók als auch Ligeti sind in Fachkreisen als zwei der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts anerkannt. Für Liszt gilt dies im 19. Jahrhundert (noch) nicht. Vielleicht liegt dies aber daran, dass seine wahre Bedeutung erst im 20. Jahrhundert nach und nach wirklich erfasst werden konnte. Seine – teils verstörende – Progressivität bereitete ein Feld an Ausdrucksmöglichkeiten, das seinen Zeitgenossen schlicht unzugänglich war und auf dem erst seine beiden großen Landsleute der nächsten Generationen reiche Ernte halten konnten. Das macht Liszt nicht nur zu ihrem Vordenker und Wegbereiter, sondern auch zum Bruder im Geiste, ohne dem das ungarische Triumvirat nicht vollständig und die Musik im 20. Jahrhundert unendlich ärmer wäre. 
 
 
 

Sonntag, 12. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Vorspiel mit Happy End“


Ein Akkord ist nichts weiter als ein harmonischer Zusammenhang mehrerer Töne. Die Kombinationsmöglichkeiten hierfür scheinen schier unendlich zu sein. Und dennoch hat einer dieser Klanggebilde ganz besonders Geschichte geschrieben: Es handelt sich um den ersten Akkord der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner (1813-1883), den „Tristan-Akkord“. Dieser gehört nicht nur zu den meistanalysierten Musikformeln der Welt, sondern birgt auch den Schlüssel zu einer Tiefendimension an Ausdruck, die es zuvor nicht gegeben hat. So schrieb er nicht nur Musikgeschichte, sondern veränderte diese zugleich für immer. 

 


Um die Bedeutung des „Tristan-Akkordes“ zu ermessen, ist es notwendig zu wissen, worum es in „Tristan und Isolde“ überhaupt geht: Es ist Wagners düstere Meditation über Liebe und Tod, die Abkehr vom grellen Tag zur dunklen Nacht hin. Nicht der Blick nach außen auf die banale Oberflächlichkeit der sichtbaren Dinge ist das Thema, sondern jener nach innen, in die Tiefen der Welt des Unterbewussten, wo der Eros waltet und die Sehnsucht stets nach Erfüllung strebt. Diese verborgenen Urgründe der menschlichen Seele werden als tiefere Wirklichkeit dargestellt, die das innere Wesen der äußeren Erscheinungen durchdringt und sich dem fühlenden Subjekt nur im Empfinden – nicht aber im Verstande – offenbart. Wagner findet hierfür eine neue, abgründige, harmonisch wie melodisch kühne Musiksprache, die dies auszudrücken vermag. Und ebendiese ist es, die der äußeren Handlung innere Tiefen verleiht und das Unterbewusste greifbar macht. Die Musik wird des Unsagbaren Stimme. 

All dies ist bereits dem Vorspiel zum ersten Akt – und in weiterer Folge dem gesamten Musikdrama – eingeschrieben. Für eine erste Vorabaufführung des Vorspieles Anfang der 1860er Jahre fand Wagner im Programmheft sehr eindrückliche und aufschlussreiche Worte, die versuchen dem Publikum Gehalt und Bedeutung seiner ebenso intensiven wie bedeutungsschweren Musik näherzubringen: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

Die alles durchdringende Grundstimmung des Musikdramas ist also – wie Wagner mehrfach betont – die Sehnsucht. Doch diese ist kein melancholisches Gefühl, das um sich selbst kreist, sondern durchaus zielgerichtet: Sie ist ihrem innersten Wesen nach das Verlangen nach Entgrenzung, nach Überwindung des individuellen Lebens über das trennende „Ich“ hinaus zu etwas Größerem, etwas Allumfassenderen hin. Sie ist der Wunsch nach einer anderen Daseinsform, einem aufgelösten „Wir“ in einem höheren Ganzen, einer neuen metaphysischen Dimension. Um dies darzustellen, wählt Wagner die anschaulichste Erscheinungsform dieses Dranges nach Entgrenzung: die persönliche Liebe zweier Menschen, einem Bund, der die Schranken des „Ichs“ zu überwinden sucht, indem ein „Du“ gefunden wird, welches das alte „Ich“ in eine höhere Einheit transzendiert, erweitert, vervollkommnet. Dieses Streben ist in den beiden Liebenden, Tristan und Isolde, derart stark, dass sie dieses „Wir“, diese vollständige Entgrenzung und letzte Vereinigung nicht mehr im Irdischen verorten, sondern jenseits von Raum und Zeit nach Entledigung ihrer prekären Daseinsform. Diese tiefe Sehnsucht und die Unmöglichkeit sie in dieser Welt zu befriedigen sind die philosophischen Kernthemen des Musikdramas, dessen Grundstimmung bereits im Vorspiel zum ersten Akt auf betörend abgründige Weise vorweggenommen wird:



Doch wie gelingt es Wagner als Träger des tiefgreifend philosophischen Gehalts eine so radikal neue und eindringliche Musiksprache zu entwickeln, die alles Bisherige in den Schatten stellt und das unvorbereitete Publikum ebenso in seinem Bann ziehen wie verstören muss? Das liegt an dem revolutionären Gebrauch von Dissonanzen, die sich sowohl im horizontalen wie im vertikalen Notenbild niederschlagen: Das Zauberwort für die Horizontale ist „Chromatik“, für die Vertikale „progressive Harmonik“. Der „Tristan-Akkord“ trägt zu letzterem maßgeblich bei. Um beides zu erklären, lohnt ein Blick auf die ersten Takte des Vorspiels, die in der Abbildung oben dargestellt sind. 

Der „Tristan-Akkord“ – farblich hervorgehoben – ist ein wesentliches Element der ersten Takte des Vorspiels; er ist aber nicht dessen Beginn. Um eine Idee von seiner tiefgreifenden Bedeutung zu bekommen, ist es notwendig, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern im musikalischen Kontext: Entscheidend sind sowohl die einleitenden Noten, die zu ihm führen, als auch die weitere Entwicklung nach seinem Erklingen. Den tatsächlichen Beginn macht ein tiefer, von den Violoncelli vorgetragener Ton (A), der über das Intervall einer aufsteigenden Sext in einen lang anhaltenden höheren (F) übergeht. Diesen beiden Tönen ist bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Tonhöhe ein sehnsüchtiger Charakter eingeschrieben, da das aufsteigende Sext-Intervall immer schon für eine entsprechende Grundstimmung stand: So hat bereits Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) genau dieses in seiner berühmten Liebes-Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der „Zauberflöte“ verwendet, nachdem Taminos Verlangen bei Betrachten eines Bildnisses von Pamina plötzlich entflammt war:



Doch Wagner geht weit darüber hinaus, indem er den ersten Tönen eine ganze Geschichte einschreibt. Das Entscheidende sind hierbei nicht nur die Töne selbst, sondern auch die Art des Vortrages, ihre Dynamik. Die Geschichte dahinter lautet wie folgt: Ein zuvor in sich ruhendes „Ich“ (Ton 1, A) hebt seinen Blick (symbolisch durch das Intervall ausgedrückt) zu einem „Du“ empor und beginnt dabei zu entflammen (Ton 2, F). Der erste – kürzere – Ton (A) trägt die dynamische Vortragsbezeichnung „pp“ (pianissimo, sehr leise), die während der Dauer seines Erklingens unverändert bleibt und für das ruhende „Ich“ steht. Dies gilt für den zweiten – länger anhaltenden – Ton (F) nicht mehr, da der Komponist hier ein „crescendo“ (<), eine während des Erklingens zunehmende Tonstärke, eine sich steigernde Intensität vorschreibt. Das „Ich“ erfährt also eine Veränderung, nachdem es den Blick gehoben und sein „Du“ erfasst hat: Der zweite Ton beginnt zwar wie der verklingende erste im pianissimo, steigert sich aber während seine Erklingens zu einem immer intensiver werdenden Ausdruck des brennenden Schmerzes; er schwillt förmlich vor Verlangen an. In dem zuvor noch ruhenden „Ich“ wird also durch das Erblicken des „Du“ plötzlich die Sehnsucht erweckt. Und Wagner, der Meister der subtilen Geste, braucht für diesen Urknall des verlangenden Empfindens, dieser Evolution des Begehrens nur zwei dynamisch akzentuierte Töne, um den Inhalt seines Musikdramas psychologisch zu umreißen, noch bevor überhaupt ein Akkord erklungen ist. 

Schon sind wir dem „Tristan-Akkord“ nahe, doch es fehlt noch ein weiterer Ton, der zu ihm überführt und das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht sogar noch zu intensivieren weiß: Nach dem langangehaltenen, im sich verstärkenden „crescendo“ vorgetragenen zweiten (F) folgt ein dritter Ton (E), der im Intervall einer kleinen Sekunde, dem kleinstmögliche Abstand zweier Tonhöhen, abfällt. Dies geschieht mit der vollen dynamischen Intensität, zu der der zweiten Ton durch das vorgeschriebene „crescendo“ bereits angewachsen ist, und wirkt wie ein seufzendes sich nach unten hin Abwenden, nachdem der Blick auf das „Du“ und der dabei immer dringlicher werdenden Sehnsucht nicht mehr standgehalten werden konnte. Eine kleine Sekunde wird allgemein als schmerzhaft reibende Dissonanz wahrgenommen und erzeugt – für eine Melodie im horizontalen Verlauf – erhebliche Spannungen. Besteht eine Tonleiter ausschließlich aus derartigen Intervallen, so wird diese als „chromatisch“ bezeichnet. Und eben diese spannungsgeladene Chromatik, die bereits den Übergang vom zweiten auf dem dritten Ton prägt, ist zugleich symptomatisch für das Musikdrama im Ganzen. Bestätigung und Intensivierung erfährt diese Vorahnung schon im nächsten, vierten Ton, da der Ton drei (E) in seinem melodischen Verlauf um eine weitere kleine Sekunde – also chromatisch nach unten – auf ein Dis fällt. Dieses Dis wird aber nicht mehr alleine als isolierter Ton vorgetragen (wie die ersten drei durch die Violoncelli), sondern ist Bestandteil des ersten vertikalen Klanggebildes des Werkes, das in Summe aus vier Tönen besteht (F – H – Dis – Gis) und nun auch von den Holzbläsern vorgetragen wird. Bei diesem vertikalen Klanggebilde handelt es sich um den ersten Akkord des Musikdramas und gleichzeitig um den meistanalysierten der Musikgeschichte, den berühmten „Tristan-Akkord“

Dieser Akkord (technisch gesehen ein verminderter Septakkord) bricht plötzlich in dem von den Violoncelli raunend aufbereiteten Dunstraum wie eine mysteriöse Erscheinung aus anderen Sphären ein und entfaltet klanglich eine geheimnisvolle neue Welt der Dissonanz. Diese zeichnet spannungsvolle Sinnlichkeit ebenso wie instabile Fragilität aus und besticht geradezu durch ihre nebulös schwebende, überirdisch wirkende Uneindeutigkeit: Sie lässt sich auf keine Tonart klar festlegen, entbehrt jeder konventionellen Zuordenbarkeit und mit dem Nimbus einer unbeständigen inneren Unrast verweilt sie im Vagen einer nichtaufgelösten harmonischen Spannung als Sinnbild des unerfüllten Begehrens, das sich nach Erlösung sehnt. So beschreibt der „Tristan-Akkord“ auf harmonischer Mikroebene ein dem Menschen eingeschriebenes Gefühl auf eine Weise, zu der Worte nicht fähig sind und deren musikalische Lösung nicht nur zur damaligen Zeit revolutionär war. – 

Doch trotz seiner unbestrittenen Fortschrittlichkeit kündigt sich bei musikgeschichtlicher Betrachtung die harmonische Unbestimmtheit eines „Tristan-Akkords“ bereits in einigen visionären Werken von großen Meistern vor Wagner an. So betrat auch Mozart schon in einigen seiner Kompositionen kühne Regionen, die ihrer tonalen Stabilität im Sinne eines konventionellen Wohlklangs nicht mehr sicher waren. Ein delikates Beispiel, wo ein Klangbild voll zerbrechlicher Schönheit erschaffen wird, ist der zweite Satz des Streichquartettes in Es-Dur (KV428), der an gewissen Stellen (z.B. ab 0:59 der Hörprobe) die spannungsgeladene, geheimnisvoll-dissonante „Tristan-Atmosphäre“ vorwegzunehmen scheint:




Ein weiteres reizvolles Beispiel ist das Lied „Dass sie hier gewesen“ (D775) von Franz Schubert (1797-1828). Dieses wird von Akkordbildungen voll reibender Dissonanzen eingeleitet, bei denen es sich im Wesentlichen um transponierte „Tristan-Akkorde“ handelt. Die schwebende Atmosphäre voll jenseitiger Entrückung ist nicht nur tonal ambivalent, sondern für die ersten 12 Takte mit der Grundtonart C-Dur, die eine geheimnisvolle harmonische Verschleierung erfährt, schlicht unvereinbar:



Auch Robert Schumann (1810-1856) hat in seinem pianistischen Meisterwerk, der ersten Fantasie op.17, den „Tristan-Akkord“ vorweggenommen. Dies tat er in Form eines unaufgelösten Vorhaltakkord am absoluten Höhepunkt (7:28 in der Hörprobe) einer spannungsgeladenen Steigerungswelle, die in der Klavierliteratur ihresgleichen sucht. Die schrille Dissonanz, die dieser Akkord verursacht, hallt noch lange in den darauffolgenden Nachsatz beunruhigend nach, als wäre die harmonische Ordnung nachhaltig erschüttert:



Widmungsträger von Schumanns großer Fantasie ist übrigens kein Geringerer als der größte Klaviervirtuose der damaligen Zeit, Franz Liszt (1811-1886). Und ebendieser soll auch das letzte Beispiele eines „Tristan-Akkords“ avant la lettre liefern. Es befindet sich in einem seiner bedeutendsten Liedern „Ich möchte hingehen“, eine stille verinnerlichte Meditation über den Tod, die „Tristan-Atmosphäre“ atmet: Nachdem der Sänger sinniert, wie er von der Welt scheiden wolle (z.B. wie das Abendrot oder der sinkende Stern), erhält er eine – ernüchternde – Absage, die nach einer Generalpause (ab 5:08), deren bange Stille Liszt mit einer musikalischen Formel am Klavier bricht, in ihrem Verlauf nahezu wörtlich den zweiten und dritten Takt des Vorspiels mehr als zehn Jahre vorwegnimmt (ab 5:41):


 
War Wagner also nichts anderes als ein Plagiator, der die Lorbeeren anderer einheimste? 
 
Die Antwort ist ein klares Nein!  
 
„Tristan und Isolde“ ist eine originäre Schöpfung Wagners, die trotz harmonischer Vorarbeit einiger Visionäre völlig zurecht als singulärer Meilenstein in der Musikgeschichte gilt. Das liegt zum einen an den unverwechselbaren Klangfarben durch die meisterhafte Instrumentierung, zum anderen an der philosophischen Aufladung jeder einzelnen Note; vor allem aber liegt dies an der durchgehend progressiven Handhabung der unaufgelösten Harmonien sowie der kompromisslos chromatischen Melodieführung. Denn im Vergleich zum Lied von Liszt – der übrigens von der engen Verwandtschaft seiner Harmonik mit jener Wagners wusste und später sogar (allerdings aus anderen Gründen) dessen Schwiegervater wurde – weist Wagners Akkord eine wesentliche – geniale – Veränderung auf: Liszts D wurde bei Wagner zum bereits erwähnten Dis. Diese vermeintlich kleine Abweichung ist aber essenziell für die ganze Phrase, da so die fallende Melodielinie von Ton 2 (F) und 3 (E) perfekt chromatisch zum Dis im „Tristan-Akkord“ führt, während zeitgleich mit dem Ende der einen chromatischen Linie, im selben Akkord einige Töne höher im Gis eine neue beginnt. Ein Sehnen wird quasi von einem anderen unmittelbar abgelöst: Die spannungsvolle Reibung in der horizontalen Melodieführung wird also nicht aufgehoben, sie wird – im Gegenteil – nahtlos fortgesetzt, was später als „Unendliche Melodie“ – ein unerlöst dissonantes musikalisches Fortstreben ohne scharfe Zäsuren oder konkretes Ziel – bezeichnet wird und mit klassischer Melodiebildung nicht mehr viel zu tun hat. Doch damit nicht genug: Die im „Tristan-Akkord“ am höchsten Ton neueinsetzende chromatische Melodie ist diesmal eine aufsteigende, welche vier Töne (Gis – A – Ais – H) umfasst, allerdings zu keiner Auflösung des „Tristan-Akkordes“ führt, sondern diesen vielmehr als Auftakt einer instabilen Harmoniesequenz nimmt, der am dritten Ton (Ais) ein weiterer unaufgelöster Akkord folgt, worauf am vierten Ton (H) der Melodielinie der Beginn des Vorspiels, dessen Dissonanzen weder horizontal noch vertikal befriedet werden, einfach im Nichts verklingt. Dieser Beginn, dessen Noten oben dargestellt ist, gilt als Sinnbild des vergeblichen Strebens nach Befriedigung und wird als „Sehnsuchtsmotiv“ in die Geschichte eingehen. 

Doch damit nicht genug: Wagner wiederholt – und spätestens hier geht er an Radikalität weit über Liszt hinaus – eben diese Phrase zwei weitere Male auf immer höheren Tonstufen, um die Vergeblichkeit des Versuches und die immer eindringlicher werdende Intensität des Verlangens deutlich zu machen. Zusätzlich sind diese wiederholten Phrasen auch abseits der Tonhöhe nicht ident, sondern unterscheiden sich geringfügig, sodass ihrer Unregelmäßigkeit ein sich ständig unterschwellig, unbewusst veränderndes Begehren innewohnt, das die Spannung ins fast Unerträgliche steigert, sodass man eine klärende Entladung herbeisehnt. Besonders deutlich wird dies in der Fortführung der zweiten Wiederholung der Phrase, die nach einigen fragmentarischen Melodiefetzen zu einer gewaltigen dissonanten Klangballung (ab 1:32 der Hörprobe des Vorspiels) führt, die aber nicht die erlösende Entladung der aufgestauten Spannung ist, sondern harmonisch – ebenso wie alle anderen Akkorde – völlig unaufgelöst bleibt und einfach einen neuen musikalischen Gedanken voller Dissonanzen – als Ausgangspunkt von neuem Verlangen – entstehen lässt. Die Klangballung wird oft als „Liebesentflammen“ bezeichnet, worauf sich das eigentliche „Liebesmotiv“ oder auch „Liebesblickmotiv“ entspinnt, das die Idee der ersten Töne des Vorspiels (wo ein „Ich“ ein „Du“ erblickt und das Sehnen beginnt) breiteren Raum zum Entfalten lässt (ab 1:42 der Hörprobe des Vorspiels). Umfasste das „crescendo“ der ersten Takte nur wenige Noten zum „Tristan-Akkord“ hin, so wird die Musik des restlichen Vorspiels die genannten Motive miteinander verweben und sich aufgrund der immer vehementer drängenden Leidenschaft zu immer wilderen, immer heftigeren Wogen – als erführe alles ein einziges universal anschwellendes „crescendo“ – aufschaukeln, was schließlich zu einem musikalischen Höhepunkt der sinnlichen Ekstase führt, wie es ihn zuvor in der Musikgeschichte noch nicht gegeben hat, und der letztendlich doch keine Befriedigung bringt und das Sehnen ungebrochen weitergehen muss, schließlich hat das Musikdrama ja gerade erst begonnen. 

Denn wohlgemerkt: Wie drängend und spannungsgeladen die Musik auch wird, die letzte endgültige Befriedigung bleibt ihr bis zum Schluss verwehrt. Die Chromatik und die unaufgelösten Harmonien sind nicht nur Teil eines originellen Vorspiels, sondern konstitutives Wesenselement des gesamten Musikdramas und unterschwellig – sobald es um die Seelenzustände der nach Vereinigung strebenden Liebenden geht – immer präsent. Wagners Revolution in den ersten Takten des Vorspiels dauert letztendlich das gesamte Werk lang – immerhin rund vier Stunden – an und etabliert eine neue Art von Musik, die das künftige Ausdrucksspektrum immens erweitern (und letztendlich auch zur endgültigen Überwindung der Tonalität im frühen 20. Jahrhundert führen) wird. Chromatik und unaufgelöste Harmonien durchdringen also die Partitur von „Tristan und Isolde“ von Anfang bis Ende. Erst ganz am Schluss des Werks, in den letzten Takten von Isoldes „Verklärung“ (die irreführende Bezeichnung „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) erklingt noch einmal abschließend der „Tristan-Akkord“ mit der von ihm ausgehenden chromatisch aufsteigenden Melodie (ab 6:41), bevor die dort zugrundeliegenden Dissonanzen endlich ihre langersehnte Auflösung – gemäß der klassischen Harmonielehre, der sich Wagner bis zu dieser Stelle hartnäckig widersetzt hat – in strahlendem H-Dur erfahren und mit ihnen auch die Sehnsucht erlischt, als wäre die Trennung von „Ich“ und „Du“ endlich überwunden und im ersehnten „Wir“ aufgegangen. 






Mittwoch, 5. August 2020

"Hamlet – Sein oder Nichtsein"


"Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage …"

So beginnt der wohl berühmteste Monolog der Weltliteratur von William Shakespeare. Es handelt sich um eine Frage von existenzieller Bedeutung und jene Person, welcher diese in den Mund gelegt wird, hat auch allen Grund dazu: Schließlich musste Prinz Hamlet von Dänemark vom Geist seines Vaters, des verstorbenen Königs, erfahren, dass dieser hinterlistig von seinem eigenen Bruder ermordet wurde. Der Mörder - Hamlets Onkel - heiratete kurz darauf die Mutter des Prinzen und reihte sich so in der Thronfolge unrechtmäßig vor Hamlet ein. Dessen Ansinnen ist fortan Rache. Doch dafür braucht es nicht nur ein Motiv, sondern auch den letzten Entschluss zur Tat zur rechten Zeit. Ein Dilemma, das Hamlet von innen nach außen trägt und zur ersten modernen Figur des Welttheaters macht.



Hamlet ist nicht nur ein grüblerischer Prinz, sondern auch ein perfekter Schauspieler, der sein wahres Ich bis hin zur Selbstaufgabe hinter Masken zu verbergen versteht. Er spielt ständig Theater und passt dabei seine Rolle der jeweiligen Situation, in der er sich befindet, an, um seine Ziele - ohne sich selbst preiszugeben - ungehindert verfolgen zu können. Entsprechend dynamisch gestaltet sich auch sein Sprachbild, das ständiger Wandlung unterworfen ist, sodass selbst der aufmerksamste Leser kaum hinter die Fassade des Protagonisten zu blicken vermag. Lediglich die Monologe sind es, die möglicherweise einen Schlüssel zu seinem wahren Empfinden bieten könnten (wobei auch hier fraglich bleibt, inwieweit sich Hamlet während dieser tatsächlich unbeobachtet fühlt und zu welchem Grad auch diese Selbstinszenierung sind…). Jedenfalls wird die höfische Außenwelt durch die Monologe, Hamlets Innenwelt, kontrastiert. Das innere Geschehen - bestehend aus schonungslosen Reflexionen voller Abgründe - wird so der äußeren Handlung zur Seite gestellt, ja wird selbst zum eigentlichen Drama. Wir erleben auf der Bühne das Gedankenringen eines Werdenden, der im Spielen seiner Rollen sich selbst abhanden zu kommen droht und im Inneren seines uferlos gewordenen Geistes Halt sucht. Den Prozess, den Hamlet durchmacht, könnte man als Geburt des Individuums, des mündig werdenden Ichs, das aus einem domestizierten Kollektiv auszubrechen begehrt, bezeichnen. Doch um dies zu erreichen, bedarf es nicht nur Gedanken und Reflexionen, sondern auch des Tätigwerdens, das dem Werdenden schließlich zum Seienden formt. Dass genau dieser Punkt Hamlet beschäftigt - und ihm letztlich auch zum Verhängnis wird -, macht das Stück nicht nur zu einem Drama über einen Prinzen aus einer vergangenen Epoche, sondern zur Tragödie des modernen Intellektuellen an sich. Die Fragen, die von Hamlet aufgeworfen werden, sind auch heute noch von zeitloser Brisanz und verlangen von jedem strebenden Menschen, sich ihnen im Laufe seines Lebens zu stellen. Hamlet tat dies in seinem berühmtesten Monolog, welcher die einleitende Frage nach Sein oder Nichtsein enigmatisch weiterführt und unzählige Interpretationsmöglichkeiten anbietet, auf beklemmend schonungslose Weise:

"Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben– schlafen–

Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben– schlafen–
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegt‘s:"

Hamlet sinniert hier nicht - wie oft behauptet - über den Selbstmord, sondern ob es „edler“ sei, das Leben zu ertragen oder es zu gestalten. Sollen die Widrigkeiten des Lebens stillschweigend erduldet oder soll gegen diese angekämpft werden? Das „Sein“ wird hier gleichgesetzt mit dem passiven Erdulden, dem Akzeptieren der Widrigkeiten, dem weiteren Fristen des Daseins unter den waltenden Umständen. Dem „Nichtsein“ kommt hier die heroische Geste des Aufbäumens zu, des Widerstandes gegen die herrschende Übermacht der Dinge, des Trotzens der gegebenen Bedingungen. Diesen Kampf könnte man mit dem Verlust des Lebens, der Nichtexistenz bezahlen. Das Nichtsein wäre damit dem Tod gleichgestellt. Natürlich würden die Plagen des Lebens dann enden, da sie für einen Toten ohne jede Bedeutung wären. Doch ist damit gesagt, dass das nicht Erdulden automatisch den Tod zur Folge hat? Oder ist es möglicherweise so zu verstehen, dass durch Widerstand die Chance besteht, seinem bisherigen Sein zu entsteigen und das „Nichtsein“ so vielmehr zu einem „Nicht-mehr-wie-vorher-sein“ würde, da man das einstige Dasein entgegen der waltenden Umstände überwunden und die alte Existenz abgestreift hätte? Auch dann verlören die Widrigkeiten ihre ursprüngliche Bedeutung für jenen der unter ihnen gelitten hat. Überwindet nicht auch ein Mensch im Zuge seines Heranreifens regelmäßig, ja sogar notwendigerweise seine unwissenden, hilfloseren früheren Existenzen? Ist ein potentes Heute nicht der Tod eines ohnmächtigen Gestern? Die einstigen Widrigkeiten könnten einem dann nichts mehr anhaben. Ruhe wäre die Folge. Und die sinnlichste wie ausdrucksstärkste Allegorie für Ruhe – wie auch für den Tod – ist der Schlaf. Und genau dieses Sinnbild gebraucht Hamlet in Verbindung mit Träumen und fährt weiter fort:

"Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir die irdische Verstrickung lösten,
Das zwingt uns stillzustehn. Das ist die Rücksicht,
Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,

Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte

Mit einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten
Und stöhnt’ und schwitzte unter Lebensmüh?
Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod,
Das unentdeckte Land, von des Bezirk
Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt,

Daß wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen als zu unbekannten fliehn."

Hamlet wird hier sehr bildlich und skizziert den Grund, weshalb so viele in den gegebenen Umständen zu verharren bevorzugen: Es ist die Angst vor dem Danach, vor den daraus resultierenden Konsequenzen. Das Ungewisse, was Menschen nach dem Widerstand erwartet, lässt sie vor diesem zurückschrecken. Wenn dem Sterben der Schlaf, mit dem auch die Träume einhergehen, folgt, spielt es nicht auch eine Rolle, welcher Art diese Träume sind? Hamlet wird an dieser Stelle sogar mit aller poetischer Kraft polemisch und stellt die Frage wer denn all das ertrüge, wenn man doch mit einer bloßen Nadel sogleich Schluss machen könne. Er spielt hier natürlich mit der Metapher des bequemen Entfliehens, des einfachen Selbstmordes, der allerdings aufgrund der Furcht vor dem ungewissen Jenseits vereitelt würde. Man sollte dies aber nicht zu wörtlich nehmen und die Ausführungen schlicht darauf reduzieren. Das, womit Hamlet ringt, sind nicht der Selbstmord, die Nadel und das unentdeckte Land, sondern die Symbole wofür diese stehen. Letzteres ist nicht nur eine Ungewissheit nach dem Tod, sondern auch ein Zustand im Leben, der sich nach einer Tat einstellen könnte. Ein Mensch betritt in seinem Werden stets Neuland, sei es auch nur im Fassen eines neuen Gedankens, und betritt Bezirke, in denen er zuvor noch nie gewesen. Auch in Hamlet formte sich sich ein Gedanke, auf den der Monolog abzielte und am Ende klar und unmissverständlich ausgedrückt wird:

"So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;

Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen."

Übersetzung: August Wilhelm Schlegel

Das Bewusstsein vom Unbewussten halte uns also von der Tat, dem Widerstand gegen unzumutbare Umstände, ab und zwinge uns zum Erdulden des Daseins im Jetzt. Schließlich seien es die Gedanken selbst, die einem Entschluss zum Handeln im Wege stehen. Die Nadel symbolisierte also den Entschluss, der Selbstmord die Tat, das unentdeckte Land ein Danach mit allen seinen Konsequenzen (und nicht notwendigerweise erst nach dem Tod). Die eigentliche Frage Hamlets war zu keinem Zeitpunkt „Selbstmord oder kein Selbstmord“, sondern viel grundsätzlicher und tiefgreifender „Handeln oder Nicht-Handeln“. Sein Wunsch war schließlich nie aus dem Leben zu scheiden, sondern seinen Vater zu rächen und den Thron rechtmäßig zu besteigen. Selbstmord wäre seinen Zielen stets diametral entgegengesetzt gewesen. Seine Gedanken sind daher keine pathologische Bestandsaufnahme eines suizidalen Gemüts, sondern besitzen ungeahnte psychologische, soziologische sowie politische Dimensionen von zeitloser Aktualität. Und dass es gerade die Gedanken seien, welche die Entschlusskraft hemmen und den Handlungen den Namen nehmen, trifft tief ins Mark des intellektuellen Wesens und benennt selbst-analytisch schonungslos Hamlets Dilemma: Die Angst vor dem Handeln, dem aktiven Gestalten, der Verantwortung für die Konsequenzen und damit einhergehend der Ungewissheit, den rechten Zeitpunkt zum Tätigwerden zu erkennen. Ein schier unbewältigbarer Konflikt entspinnt sich im Inneren Hamlets auf offener Bühne. Das beständige Warten auf den rechten Moment und die Unfähigkeit Selbstreflexion in Aktion münden zu lassen ist die große Tragödie, die uns durch Hamlet vor Augen geführt wird. Hamlet bietet sich zwar einmal die ideale Gelegenheit zur Tat, doch von Gedanken gehemmt ließ er diese verstreichen, um auf eine noch günstigere zu warten, die aber nie kam. Versäumnis heißt sein Schicksal. Als er schließlich zu handeln begann, war es bereits zu spät. Hamlet scheitert und lässt das Publikum mit den aufgeworfenen Fragen und inneren Konflikten allein zurück. In dem Moment, in dem wir verstehen, dass Hamlets Dilemma auch immanenter Teil unseres eigenen Lebens ist, werden wir von Betrachtenden zu Involvierten, denen das beklemmende Bewusstsein der Ungewissheit des Handelns zur rechten Zeit als Mahnung – ohne jede Lösung - mit auf den Weg gegeben wird. Einmal verinnerlicht lässt uns diese Problematik nicht mehr los und wir erkennen, dass Hamlet ein Abbild unserer selbst in einem Werk ist, dessen Schatten von beklemmender Beständigkeit auch in unsere Zeit ragt.

Hamlets letzte Worte waren: „Der Rest ist Schweigen.“ - Doch genau so soll dieser Artikel nicht enden. Das Harren auf den rechten Moment des gedankenverlorenen, im Handeln gehemmten Hamlet beschäftigte auch große Komponisten und inspirierte sie zu gewaltigen Tondichtungen. Drei Meister – Berlioz, Liszt und Tchaikovsky - seien hier repräsentativ hervorgehoben, die sich dem Thema auf ihre Weise gewidmet und musikalischen Ausdruck gegeben haben. Die verrinnende Zeit, das nagende Warten, die Unfähigkeit sich zur Tat zu entschließen und die damit einhergehende Tragik sind die durchdringenden Elemente der Werke, welche den soeben beschriebenen Konflikt auf musikalischer Ebene weiterführen:  




 




 




Montag, 29. Oktober 2018

"Granada - Der Klang Andalusiens"


Nur wenige Städte stellen ihre facettenreiche, wechselvolle Geschichte so offen und erhaben zur Schau wie Granada. Die Altstadt zeugt vom Niederschlag verschiedenster Kulturen und Religionen abseits aller konfessionellen Scheuklappen und erstrahlt gerade durch dieses Wechselspiel. So entstanden über die Jahrhunderte hinweg nicht nur koexistierende Kunstepochen arabischer und christlicher Prägung sondern im viel weitgreifenderen Sinne eine Verschmelzung dieser zu einem synkretischen Meisterwerk, das Gegensätze zu einem übergeordneten Ganzen zu versöhnen wusste und aus Vielfalt Harmonie gewann. 

Diese einzigartige Verbindung von Okzident und Orient veranlasste so manchen großen Komponisten zur tönenden Würdigung Granadas. Und gerade diese Musikwerke iberischer Meister sind es, welche der Stadt bei all ihrem Reichtum eine weitere Dimension an Tiefe bis zu dem heutigen Tage hin verleihen, einen Klang. 




Granada war in seiner weitreichenden Geschichte der Herrschaft der Phönizier, Römer, Vandalen sowie Westgoten ausgesetzt, bis die Mauren 711 Granada eroberten und so eine fast achthundertjährige islamisch-arabische Regentschaft einleiteten. Erst im Jahre 1492 wurde Granada von den Reyes Católicos, den katholischen Königen, Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón im Zuge der Reconquista zurückerobert, wodurch die maurische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel endgültig beendet wurde. Diese zwei Haupteinflusssphären in der Geschichte Granadas, das arabische Mittelalter und die katholische Renaissance, wirkten stilbildend auf die Stadt und prägen ihre Atmosphäre bis heute nachhaltig.

Dies schlug sich freilich auch in der spanischen Musik nieder, welche ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Granada als epochenübergreifendes Faszinosum erkannte und sich von dieser gedeihlichen Kulturvielfalt inspirieren ließ. Entsprechend verband der iberische Komponist und Gitarrist Francisco Tárrega (1852-1906), wenn er an Andalusien dachte, die Klänge seiner spanischen Gitarre mit einer unverwechselbaren arabischen Färbung. So wird durch seine Musik auf eindringliche Weise der vielseitige Geist der Geschichte Andalusiens heraufbeschworen, der gerade auch für Granada Gültigkeit besitzt. Mit besonders starker Intesität gelang dies Tárrega in seinem „Capricho árabe“, das ganze Jahrhunderte in wenige Minuten Musik zu gießen vermag:




Ähnlich intensiv, mit tiefromantischem Bekenntnis gelang dem spanischen Komponisten und Pianisten Isaac Albéniz (1860-1909), der für kurze Zeit auch Schüler von Franz Liszt (1811-1886) war, eine Würdigung Granadas in seiner berühmten "Suite española" aus dem Jahre 1886. Es ist eine schwärmerische Fantasie für Klavier, eine stille Liebeserklärung an Granada in Form einer zarten Serenade, vor deren Zauber sich kaum jemand erwehren kann:




Markanter und rhythmisch exotischer gelang Albéniz eine Komposition, die er dem wohl berühmtesten Bauwerk in Granada widmete, der Alhambra. Es handelt sich hierbei um eine Palastanlage vorwiegend maurischen Ursprungs aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die nach der christlichen Rückeroberung im Auftrag des Enkels von Isabella I. und Ferdinand II., dem berühmten Kaiser Karl V., um eindrucksvolle Renaissanceelemente erweitert wurde. Der prachtvollen Erscheinung dieser Palastanlage, die auch als Titelbild diesen Artikel ziert, verleitete Albéniz zu seiner ebenso prächtigen Komposition „En la Alhambra“:




Doch nicht nur Albéniz wurde von der Alhambra inspiriert. Sein Komponistenkollege Tomás Bretón (1850-1923) ließ sich 1888 sogar zu einer ganzen symphonischen Dichtung für volles Orchester hinreißen, die ebenso den arabischen Hintergrund des Bauwerks mit spätromantischer Ausdruckskraft heraufzubeschwören sucht, um an dessen Ursprünge zu gedenken:




Doch nicht nur die Alhambra inspirierte zu symphonischen Dichtungen. Auch der benachbarte Sommerpalast des Kalifen Generalife (auf der linken Seite im Titelbild zu sehen) mitsamt seinen wunderschönen Gartenanlagen verlieh Komponisten die Kraft zu musikalischen Höhenflügen. So widmete der andalusische Tonkünstler Manuel de Falla (1876-1946) den ersten Satz seines Meisterwerkes "Noches en los jardines de España" ("Nächte in spanischen Gärten") aus den Jahren 1909-1916 ganz und gar jenen von Generalife. Falla gestaltet hier eine nuancenreiche Nocturne für Klavier und Orchester, welche volkstümliche andalusische Melodien mit impressionistischer Strahlkraft miteinander verwebt. Es entspinnt sich ein Klangzauber, welcher die maurischen Gärten vor geistigem Auge im Mondesglanz auferstehen lässt:




Die vielleicht bedeutendste Hommage an Granada befindet sich wohl in Isaac Albénizs spätem Meisterwerk aus den Jahren 1905-09, dem Klavierzyklus „Iberia“, in welchem für vorwiegend andalusische Gegenden Tongemälde entworfen wurden, wo die Sprache der Spätromantik, des Impressionismus und der Folklore mitsamt ihren arabischen Anklängen zu einer ausdrucksstarken Einheit verschmolzen sind. Dieser Zyklus gehört nicht nur zu Albénizs schöpferischem Zenit, sondern gar zu der bedeutendsten Klavierliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts allgemein. Hier reichen sich Tradition und zukunftsweisende Moderne die Hand und führen musikalisch aus, was in Andalusien über Jahrhunderte hinweg gelebt wurde. Das auf Granada gemünzte Werk trägt den Titel „El Albaicín“. Dabei handelt es sich um das älteste Stadtviertel Granadas, welches sich auf dem Hügel nördlich der Alhambra erstreckt. Dieser Teil der Stadt, in welchem sich das maurische Wohngebiet befand, ist bis heute stark von Architektur aus der arabisch-islamischen Zeit mitsamt pittoresk-verschlungener Gassen geprägt. Albéniz verstand es meisterhaft die Exotik und orientalische Eigentümlichkeit musikalisch darzustellen und scheut auch vor großen, ausdruckstarken Gesten nicht zurück, welche wohl den erhabenen Ausblick von den höheren Regionen des Albaicín auf die mächtige Alhambra mit ihrem Generalife symbolisieren sollen (wie im Titelbild des Artikels zu bewundern ist):





Granada wird in diesem Artikel durch Tonmalerei auf neue Weise heraufbeschworen, welche abseits der Kraft der Bilder ein Monument der Stadt zu errichten strebt. Dieses Klang-Monument lebt in jenen, die dafür empfänglich sind, als tiefes Empfinden unabhängig der räumlichen Distanz zu Granada weiter. Und mit etwas Glück erlangt dieses Monument seinen steten Platz in uns als Lebensgefühl – vielleicht nicht unähnlich dem Hauptturme im Myrtenhof der Alhambra, welcher seinen festen Platz im Widerschein der Wasseroberfläche gefunden hat und dort auch weiterbestehen wird.