Samstag, 6. Januar 2018

"Brahms – Der konservative Revolutionär I"


Johannes Brahms war ein Genie. Ihm gelang die musikalische Quadratur des Kreises: Er hat den überbordenden Erfindungsgeist der Romantik mit der Formstrenge der Wiener Klassik versöhnt und zu einer Vollendung gebracht. Für viele stellt diese Leistung den letzten Gipfelpunkt einer ästhetisch-historischen Entwicklung dar, den Brahms mit seinem Schaffen verkörpert. Dennoch wirkte Brahms' Werk auch auf nachfolgende Generationen inspirierend, da dessen Mikrostruktur Sprengstoff enthält, auf den sich spätere Meister beriefen und als Bindeglied zwischen Wiener Klassik und Moderne erachteten. Brahms galt damit für die einen als Bewahrer und Vollender, für die anderen hingegen als Neuerer und Wegbereiter. Und vielleicht liegt gerade in dieser Bandbreite an möglichen Betrachtungsweisen, die dieses unerschöpfliche Werk bietet, die ungebrochene Faszination von Johannes Brahms, dem konservativen Revolutionär.


Als Johannes Brahms (1833-1897) sich in den 1860er Jahren als selbstständiger Komponist langsam einen Namen machte und eifrig an Werken arbeitete, die den klassischen Formen der Wiener Klassik zur Zeit eines Ludwig van Beethovens (1770-1827) entsprachen, stand er in krassem Gegensatz zu den damals führenden zeitgenössischen Komponisten. Diese waren vor allem Franz Liszt (1811-1886) und Richard Wagner (1813-1883), welche sich zwar auch auf Beethoven beriefen, Formen wie jene der klassischen Symphonie oder des Streichquartettes jedoch als vollkommen überholt erachteten. Liszt und Wagner betrachteten die Musik als kontinuierlichen Prozess, als eine stete Weiterentwicklung. Klassische Formen wären von Beethoven bereits vollendet und gleichzeitig auch überwunden worden. Die Zukunft der Musik fand ihrer Meinung nach ausschließlich in Form einer Synthese mit Dichtung statt. Musik könne nur noch bestehen, wenn sie vom Geiste der Dichtung durchdrungen war und im Rahmen eines vorgegebenen Kontextes charakteristisch wirke. Schönheit der Musik um ihrer selbst willen sei rückwärtsgewandt und nicht zielführend im Sinne des Fortschrittes. Wagner suchte diese progressive Einstellung in den gigantischen Dramenwelt seiner Opern zu verwirklichen, Liszt in seinen bahnbrechenden symphonischen Dichtungen. Dabei griffen beide intensiv auf die Verwendung von Leitmotiven zurück, die den spezifischen Charakter einer Person, eines Gefühls oder eines Symbols aus einer literarischen Vorlage thematisch-musikalisch darstellten und in variierter Form immer wiederkehrten, um so die Komposition weiterzuführen. Auf diese Weise wurde das gesamte Werk vom Geiste dieser Leitmotive durchdrungen, sodass aus dem vorhandenen thematischen Material durch stete Metamorphose ständig etwas Neues entstand, etwas Vertrautes einem steten Wandel unterworfen war. 

Johannes Brahms stand dieser Vorgehensweise äußerst skeptisch gegenüber und lehnte diese für sein eigenes Werk ab. Seiner Meinung nach solle Musik für sich selbst stehen können und nicht nur dem Fortschrittsdenken sowie der Dichtung verschrieben sein. Brahms strebte eine „dauerhafte Musik“ an, die aufgrund ihrer reinen Qualität dem historischen Wandel entzogen sei und so die Zeiten zu überdauern vermag, ohne an Gültigkeit zu verlieren. Brahms erachtete zur Verwirklichung seines ästhetischen Zieles die Formen alter Meister sehr wohl noch als geeignet und war bestrebt, seine Ideen von absoluter Musik eben in diese Formen zu gießen, um so die Tradition nicht nur weiter, sondern gar zu einer neuen Blüte zu führen. Dass er mit diesem Vorhaben basierend auf den Gesetzen reiner Musik Geschichte geschrieben und sowohl dem Genre der Symphonie, des Konzertes oder auch der intimeren Kammermusik die schönsten und meisterhaftesten Perlen geschenkt hat, ist bekannt und bedarf keiner weiteren Ausführung. 

Doch Brahms Genialität ging weit tiefer als jene eines traditionsbewussten Epigonen. Die Formen mögen die alten sein, der Inhalt war bahnbrechend und neu. Und möglicherweise war Brahms der progressiven Leitmotivtechnik Liszts und Wagners nicht nur näher als so mancher meinen möchte, sondern gar an Radikalität und Kompromisslosigkeit einiges voraus. Brahms benutzte nämlich eine Methode, die später von dem großen Komponisten und Erfinder der Zwölftonmusik Arnold Schönberg (1874-1951) als „Entwickelte Variation“ bezeichnet wurde. Schönberg definierte diese als „Variation der charakteristischen Züge einer Grundeinheit“, welche „all die thematischen Gebilde“ erzeugt, „die für den Fluss, die Kontraste, die Vielfalt, die Logik und die Einheit einerseits und für den Charakter, die Stimmung, den Ausdruck und jegliche notwendige Differenzierung andererseits sorgen und so den Gedanken eines Stückes ausarbeiten“. Der Begriff „Entwickelte Variation“ steht also für ein Netz von Motivbeziehungen, die ein gesamtes Werk aus einem einzigen Gedanken, welcher einem permanenten, variativen Wandel in Form von Modulationen unterworfen war, entstehen lassen können. Schönberg verwendete diese Methode exzessiv und konsequent als führender Komponist der Moderne in seiner Zwölftonmusik. Er vermeint aber erste Tendenzen dafür bereits bei Brahms ausfindig machen zu können. Demnach entwickelte schon Brahms aus einer musikalischen Keimzelle, einem einzelnen Motiv, den Klangkosmos eines ganzen Werkes und beeinflusste dadurch mindestens genauso wie Liszt und Wagner die progressivsten Schulen der folgenden Generationen. So wurde Brahms nicht nur die Gallionsfigur der Konservativen, sondern auch zum Wegbereiter der modernsten Erneuerer und zum Bindeglied zwischen Wiener Klassik und Zweiter Wiener Schule rund um Schönberg. -

Dies gilt es nun freilich zu überprüfen, sodass im weiteren Verlauf dieser mehrteiligen Artikelreihe einige bahnbrechende Werke von Johannes Brahms vorgestellt werden sollen, in denen sich bereits erste Ansätze dieser fortschrittliche Methode anschaulich und genussvoll nachvollziehen lassen können. 


1. Das Klavierquintett in f-Moll op.34 

Das in den frühen 1860er Jahren entstandene Klavierquintett bildet nicht nur den Höhepunkt der ersten Schaffensphase von Johannes Brahms, sondern zählt zugleich zu den bedeutendsten Kammermusikwerken überhaupt. In den ersten vier Takten des Kopfsatzes (0:00-0:16) wird nicht nur das „Motto“ des Werkes vorgestellt, sondern gleichzeitig die motivische Keimzelle, aus der sich alle weiteren Themen des Werkes harmonisch und melodisch ableiten lassen. Es ist schlicht atemberaubend wie Brahms das ökonomisch-reduzierte Themenmaterial ständig variativen Verarbeitungen unterwirft, um daraus immer neue Ausdrucksformen zu gewinnen. Brahms lotet bei diesem Facettenreichtum trotz thematischer Limitierung nicht nur die Grenzen des musikalisch Möglichen aus, sondern dringt mit dieser logisch aus derselben Quelle hergeleiteten Themenvielfalt auch tief in die Gefühlswelt des Hörers ein. Mag das Themenmaterial klein sein, Brahms Erfindungsgabe und Inspiration sind unerschöpflich. 

Bereits die Klavierfiguration im ersten Satz, direkt an das „Motto“ anschließend (ab 0:17), ist eine Ableitung dessen. Das Hauptthema des Kopfsatzes (ab 0:31) ist das "Motto" selbst. Doch auch die musikalischen Gedanken der Seitenthemen (z.B. ab 0:56 und 1:23) haben ihren gemeinsamen Ursprung im „Motto“. In der Durchführung (ab 7:28) erfahren alle miteinander verwandten Themen aus der (einmal wiederholten) Exposition Verarbeitung und entwickeln sich zu einem gigantischen dynamischen Höhepunkte, der sich ab 8:53 zu entladen beginnt und in einer mächtigen Wiederkehr des Hauptthemas mündet, welches später ab 10:25 auch die Reprise einleitet. Im weiteren Verlauf ist das „Motto“ stets präsent und erfährt verschiedenste Verwandlungen. So auch zu Beginn der Coda ab 13:45, wo sich kurz darauf ein zart schwebendes, kontrapunktisches Geflecht der Streicher entspinnt, das bereits durch zyklisches Formdenken die Einleitung des Finales vorausnimmt und das „Motto“ in ätherische Sphären rückt, bis dieses schlagartig ab 15:15 noch einmal mit voller Kraft dynamisch zu erstarken beginnt, worauf es endgültig in finsterem Moll erstirbt. 

Der zweite Satz (16:02-25:03) ist ein lyrisch-kantables Intermezzo voller gedankenversunkener Poesie und weist gerade in seinem dynamischeren, emotional geladenen Mittelteil die Beziehungen zum Kopfsatz mit den entsprechenden thematischen Anklängen auf. 

Im dritten Satz, dem Scherzo, (25:03-32:50) tritt das „Motto“ des ersten Satzes wieder ungefiltert und dominant zu Tage und fungiert erneut als Keimzelle, aus dem sich alle weiteren Gedanken ableiten lassen. Es handelt sich um ein mächtiges, majestätisches Scherzo mit einem hymnisch-erhabenen Trio (ab 28:20), welches das Themenmaterial ebenso rhythmisch markant wie melodisch reich in ganz unterschiedliche, ungeahnte Regionen des Ausdrucks meisterhaft überführt. 

Das Finale (ab 32:50) beginnt mit einer grüblerischen, düster suchenden Einleitung, welche bereits in der Coda des ersten Satzes angedeutet wurde. Diese ist sehr expressiv, dissonant und chromatisch angelegt und scheint aus der Zeit zu fallen. Harmonisch weist sie weit in die Zukunft. Man fühlt sich eher an die resignierende Kammermusik von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) erinnert als an ein spätromantisches Werk. Der Hauptteil des Satzes beginnt ab 34:52, der thematisch seinen Ursprung wieder im ersten Takt des „Mottos“ des ersten Satzes hat. Daraus lässt sich auch die fortführende dramatische Steigerung des weiteren Verlaufs des Satzes ableiten. Nach einigen stürmischen Episoden der Dramatik dringen Fragmente des Hauptthemas des ersten Satzes (ab 40:42) auf gedämpfte, melancholische Weise durch den Schleier des dunkel gefärbten Klangkörpers und leitet den Satz in ein letztes entschlossenes Aufbäumen ganz im markanten, resoluten Gestus des Scherzos (ab 41:31) über.

Es ist der Beginn des kompromisslosen Endes einer in sich geschlossenen Schöpfung, die trotz des denkbar geringen Themenmaterials alle Register des Ausdrucks zieht und ein Meisterwerk entstehen lässt, dessen Ausmaß an kompositorischer Souveränität und methodischer Radikalität vielleicht erst von späteren Generationen vollends gewürdigt werden konnte. -