Mittwoch, 12. April 2017

"Bachs Matthäus-Passion – Von Liebe und Leiden"



Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach (1685-1750) gehört zu den bedeutendsten Monumentalwerken des Barocks. Hier werden alle Register des musikalischen Ausdrucks gezogen, um den Leidensweg von Jesus Christus darzustellen, welchen das Bibelwort nach Matthäus verkündet. Dieses wird in Form von Rezitativen vorgetragen, welche an markanten Stellen von Arien sowie Chorälen unterbrochen werden, um die meditative Verinnerlichung des Geschehens zu ermöglichen. Doch gerade die Choräle, welche zu tiefreligiösen Sinnbildern des Martyriums wurden, sind teils gar keines geistlichen Ursprungs und wurden erst im Nachhinein auf die Leiden Christi bezogen.  


Die Choräle der ansonsten frei konzipierten Passion bilden wichtige Fundamente zur kirchlich-liturgischen Tradition und basieren auf bekannten protestantischen Kirchenliedern. Der wohl berühmteste Choral  besteht textlich aus dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“, einer Übersetzung des lateinischen "Salve caput cruentatum" durch den Barockdichter Paul Gerhardt (1607-1676). Die Melodie des Chorals fungiert als transzendentaler Leitfaden (um nicht zu sagen als „Leitmotiv“) durch die gesamten Passion, greift an verschiedenen Stellen diverse Strophen des Gedichtes auf und bildet die innere Geschlossenheit des Großwerks. Die Choralmelodie erscheint stets dann, wenn in der Leidensgeschichte bedeutende Umbrüche geschehen und zeugt dadurch von hohem Wiedererkennungswert, der zur Aufmerksamkeit gemahnt: Zum ersten Mal erklingt sie am Ende des letzten Abendmahls, kurz bevor Jesus mit seinen Jüngern nach Gethsemane am Fuße des Ölbergs aufbricht. Etwas später ertönt diese (wenn auch mit Worten aus einem anderen Gedichte Paul Gerhardts) nach der Gefangennahme Jesus beim Verhör vor Pontius Pilatus, wo Jesus bekanntlich die Aussage verweigert. 

Die Choralmelodie bildet schließlich auch den Beginn des Höhepunktes der Passion, der Kreuzigung, welche mit den ersten beiden Strophen des Gedichts „O Haupt voll Blut und Wunden“ eingeleitet wird und im kollektiven Gedächtnis der Glaubensgemeinschaft zum Sinnbild der Leiden Christi wurde:

O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

Du edles Angesichte,
davor sonst schrickt und scheut
das große Weltgewichte:
wie bist du so bespeit,
wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
dem sonst kein Licht nicht gleichet,
so schändlich zugericht’?






Ein weiteres, letztes Mal hebt die Choralmelodie beim Tode Jesus am Kreuze in Golgatha an, wodurch die Passion schmerzliche Einheit gewinnt und musikalisch abgerundet wird.

So ergreifend, erschütternd und gleichzeitig erhebend Bachs Verwendung des Chorals in seiner Matthäus-Passion auch ist, es handelt sich hierbei um keine eigentliche Schöpfung Bachs, sondern um ein altes Kirchenlied aus dem Jahre 1656, welches auf einen Zeitgenossen und Freund Paul Gerhardts namens Johann Crüger (1598-1662) zurückgeht. Bach nahm dieses effektvolle Kirchenlied in seine Passion auf, da es zur damaligen Zeit sehr bekannt und im protestantischen Raum weit verbreitet war. Somit konnte es der Kirchengemeinde als vertrauter roter Faden durch das umfangreiche Meisterwerk Bachs dienen. -

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein und womöglich war dies auch der Wissensstand von Johann Sebastian Bach bei Entstehung seiner Passion in den 1720er Jahren. Was dieser aber wohl nicht wusste, war, dass Johann Crüger sich ebenso wenig als Schöpfer der Choralmelodie bezeichnen konnte wie Bach selbst, da dieser die Melodie einem weltlichen Liebeslied aus der späten Renaissance entnommen hatte. Es handelt sich um das Liebeslied „Mein G’müt ist mir verwirret“ des Komponisten Hans Leo Haßler (1564-1612), welches im Jahre 1601 im „Lustgarten neuer deutscher Gesäng“ veröffentlicht worden ist. Wenn man nun dessen ersten beiden Strophen betrachtet und der wunderbaren Vertonung lauscht, so besticht doch die pikante Tatsache, dass aus diesem sinnlich-wehmütigen Lied (ab 0:08) zu späteren Zeiten der Inbegriff des Leidensweges und des Martyriums von Jesus Christus werden sollte: 

Mein G‘müt ist mir verwirret,
das macht ein Jungfrau zart,
bin ganz und gar verirret,
mein Herz das kränckt sich hart,
hab tag und nacht kein Ruh,
führ allzeit grosse klag,
thu stets seufftzen und weinen,
in trauren schier verzag.

Ach daß sie mich thet fragen,
was doch die uersach sei,
warum ich führ solch klagen,
ich wolt irs sagen frei,
daß sie allein die ist,
die mich so sehr verwundt,
köndt ich ir Hertz erweichen,
würd ich bald wider g’sund.






Gelitten hat der junge Sänger mit Sicherheit auch, allerdings aus ganz anderen … viel, viel weltlicheren Gründen …