Freitag, 13. Dezember 2013

„Der spanische Klang – Geschichte eines Missverständnisses“


Vor wenigen Wochen saß ich mit zwei Spaniern und einem kunstsinnigen Gitarristen bei einem Glas Rioja beisammen und sinnierte über die spanische Kunst. Nach einigen Gläsern Wein kamen wir auf die spanische Musik zu sprechen. Ich erkannte sehr schnell, dass ich herzlich wenig darüber wusste. Nicht so mein kunstsinniger Freund: Stolz stand er auf, nahm seine Gitarre in die Hand und sagte, dass er drei typisch spanische Melodien kenne und nun spielen möchte. Dies tat er dann auch voller Leidenschaft und summte laut mit.


Nachdem er endete und stürmischen Beifall erwartete, erhielt er von den Spaniern nur Spott und Hohn, und auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Der Grund hierfür war aber keinesfalls seine schwache Performance, nein, der Grund lag ganz wo anders. Nachdem der Freund auf die tiefe Gültigkeit dieser spanischen Melodien beharrte, begann ich zu verstehen, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handeln musste, dem ein Großteil der Welt unterliegt und für den wahren Spanier schmerzlich sein muss.

Die drei „spanischen“ Melodien stammen aus dem selben Werk: In diesem erklingt zu Beginn die Musik eines spanischen Volksfestes, später die Hymne eines Toreros (1:05) und ein andalusisch-maurisches Schicksalsmotiv (2:11)!




Man könnte in der Tat meinen, dass es sich hier um die reinste Form des spanischen Klangs handle.

Wer sich dieser Ansicht weiterhin hingeben möchte, dem sei sie unbenommen. Für alle anderen folgt nun eine Klarstellung.

Ja, die Mehrheit hätte man auf seiner Seite. Wenn man diese Hörprobe als spanische Musik ausgibt, so wird man beinahe auf der ganzen Welt Zustimmung finden. Es gibt lediglich zwei Ausnahmen, welche sehr irritiert und ablehnend auf diese Feststellung reagieren werden: Spanier und Musikkenner!

Warum lehnen ausgerechnet die Spanier spanische Musik ab?

Ganz einfach: Weil es sich bei der Hörprobe um die Ouvertüre einer der größten französischen Nationalopern namens „Carmen“ handelt, welche zufällig in Spanien (Sevilla/Andalusien) spielt. Die Musik ist daher eine typisch französische, die spanischen Klang zu imitieren versucht. Das gelang dem Komponisten Georges Bizet (1838-1875) auch sehr gut, weshalb die Oper (leider erst nach Bizets Tod) ein weltweiter Erfolg wurde und heute zu den am häufigsten aufgeführten Opern der Welt gehört. Da Bizet jedoch Spanien nie besucht hatte und diese Kultur nur sehr flüchtig kannte, gelang ihm zwar ein Opernmeisterwerk aber keine authentische spanische Musikstudie. Es wird fast keine spanische Folklore verwendet, sondern nur mit spanischen Wendungen gespielt. Selbst ein Angebot, dass Bizet nach Spanien zur musikalischen Recherche fahren solle, lehnte er entschieden mit den stolzen Worten ab: „Das würde meine Musik behindern!“

Da aber auch die Spanier ein Volk mit hohem Nationalbewusstsein sind, ist das wohl der Grund, warum viele die Bemühungen um den spanischen Klang von Bizets Oper eher belächeln als bewundern. Aber das soll uns nicht weiter belasten!

Sicher ist, die spanische Kultur und die spanische Folklore sind wunderschön und sehr viel älter als Bizets Bemühungen um den spanischen Klang. Speziell im 16. Jahrhundert als Spanien noch das Land der nie untergehenden Sonne unter der Herrschaft von Karl V. und dessen Sohn Phillip II. war, erlebte die spanische Musik eine Blühte, welche für die abendländische Kultur sehr prägend war. Besonders Werke für Laute und Vihuela (ein der Laute verwandtes Instrument) erfreuten sich am Hofe größter Beliebtheit.
 
Allerdings ist die Autorenschaft mancher Werke bis heute meist umstritten und oft als „anonym“ angegeben. Doch die Musik ist erhalten und so besitzen wir heute noch unsterbliche Werke wie „Guardame las vacas“, das wohl eine der musikalisch wertvollsten Aufforderungen ist, auf die Kühe aufzupassen:




Doch auch Tänze waren am spanischen Hofe sehr beliebt wie die folgende „Pavanilla“. Treue Leser von Sölkners Klassik-Kunde werden hier Grundzüge einer „Folia“ wiedererkennen:




Aber mal ehrlich: Wenn wir an Spanien denken, verbinden wir damit meist eine feurig-laszive Schönheit (männlich oder weiblich), der Verführung mit Leichtigkeit ein leidenschaftliches Spiel ist.

Auch so etwas gab es in der Musik am Renaissance-Hofe Spaniens:




Und schon sind wir wieder bei der Oper „Carmen“, denn genau um eine solche Person dreht sich die Handlung. Wenn wir die Verführungsarie Carmens hören, in der ein anfangs pflichtgetreuer Wächter, der sie verhaften sollte, ihr willenlos verfällt, so können wir die tolle Arbeit Bizets bewundern. Es ist hierbei wirklich ein beeindruckendes, intensives Imitat des spanischen-andalusischen Klangs gelungen. Wir hören eine heißblütige Frau, die nicht mit ihren Reizen geizt und eine andalusische Melodie über laszive, stoßartige Rhythmik legt.



Und da soll noch einer sagen, Oper sei fad und angestaubt ... Um so prall gefüllte Dekolletés zu bewundern, muss man in die französische Oper gehen!

Diese Arie ist ein Meisterstück. Aber wohlgemerkt: Es handelt sich um die geistige Schöpfung eines feuchten Traumes Bizets, der auf keine spanische Folklore zurückgeführt werden kann. Dennoch sagen hier viele zu Recht: Wenn es schon keine spanische Musik ist, man könnte diese nicht besser erfinden …

Die bekannteste Arie aus der Oper, Carmens „Habanera“, ist ein leidenschaftliches, laszives Geständnis einer Frau, die sehr viel Liebe an sehr viele Männer zu vergeben hat und besitzt den gleichen Rhythmus wie ein Tango. Die Melodie lässt sich auf ein Musikstück von Sebastian de Iradier (1809-1865) zurückführen, der diesen Rhythmus auf Kuba kennengelernt hat. (Das Wort „Habanera“ leitet sich von der Hauptstadt Kubas, Havanna, ab!) Somit handelt es sich hier nicht einmal beim Original um ein echtes spanisches Stück, sondern kommt von Übersee.

Wie auch immer, es wurde von Bizet jedoch neu und originell orchestriert:




So ist das also … nicht alles, was spanisch klingt, ist auch aus Spanien!

So ist es auch mit dem wunderbaren Luigi Boccherini (1743-1805), seines Zeichens Italiener. Allerdings ließ er sich in Spanien nieder und studierte die spanische Tanzmusik. Heraus kam eines der exotischsten Kammermusikwerke: ein Quintett für Gitarre und Streicher. Dieses hat sich ganz dem spanischen Tanz „Fandango“ verschrieben:




Olé!!!!

Ich hoffe, ich bin jetzt nicht der einzige gewesen, der versucht hat, wie ein Torero im Zimmer herum zu springen.

Aber leider war Boccherini ein typischer Italiener klassischer Schule. Somit ist unsere Suche nach dem spanischen Klang noch nicht ganz beendet!

Und jeder, der jetzt aufspringt und laut schreit, dass der Bolero von Maurice Ravel (1875-1937) ein typisch spanisches Werk sei, der sei belehrt, dass auch Ravel eher Franzose war.

Man sieht, wie weit dieses Missverständnis des wahren spanischen Klangs verbreitet ist!

Da ich aber nicht möchte, dass meine begeisterten spanischen Leser zu kurz kommen, will ich mit echten spanischen Klängen des spanischen Komponisten Joaquín Rodrigo (1901-1999) schließen, dem im 20. Jahrhundert ein zeitloses Meisterwerk gelungen ist, das mit Fug und Recht als spanisches Original bezeichnet werden kann:




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