Montag, 9. Dezember 2013

2. "Die Oper und das Leitmotiv" - Verdis "La Traviata"


Im letzten Artikel wurde die Verwendung von Leitmotiven in Richard Wagners (1813-1883) Werk besprochen. Es wurde gezeigt, wie wenige Motive die gesamte Oper durchziehen können und Keimzelle des größeren Ganzen sind. Wagners Operntheorie war revolutionär und erschütterte die Entwicklung der Oper nachhaltig. Dennoch gab es parallel zu Wagner einen Komponisten, der auf seine Weise einen ganz eigenen Weg zur Oper gefunden hatte, der zwar weniger revolutionär und mehr auf Tradition aufbaute, aber nicht minder erfolgreich war. Es handelt sich um einen der wohl berühmtesten Opernkomponisten neben Wagner: Josef Grün (1813-1901).

Noch nie gehört?

Das liegt wohl daran, dass dieser Komponist Italiener war und hauptsächlich mit seinem italienischen Namen Berühmtheit erlangt hatte. Es handelt sich um keinen Geringeren als Giuseppe Verdi!

Verdi war in mehrfacher Hinsicht konträr zu Wagner. Zum einen lassen die meisten Opern Verdis noch einen nummernhaften Aufbau erkennen, wo die alte Struktur entsprechend Arie und handlungstragenden Rezitativen noch erahnt werden kann (bei Wagner vereint sich das zu einer Einheit in Form einer durchkomponierten Oper). Zum anderen sind die Gesangspartien bei Wagner ein integraler Bestandteil des Orchesterflusses, wogegen bei Verdi das Orchester eher zum Unterstreichen des Gesungenen verwendet wird. Das sind wesentliche Merkmale, welche in letzter Konsequenz in Wagners Opern den harmonischen Hauptgedanken vor die melodische Idee stellt.

Das klingt jetzt alles furchtbar theoretisch und ich entschuldige mich auch dafür. Lassen wir einfach die Hörbeispiele für sich sprechen.

Wolltest du uns nicht was über Leitmotive erzählen?

Ja, bei Verdi gibt es keine Leitmotive im Sinne Wagners, die aus einer strengen harmonischen Auffassung und einer durchkomponierten Einheit der Oper resultieren.

Verdi interessierte die strenge harmonische Konstruktion Wagners nicht wirklich. Das hinderte ihn aber nicht daran, einige „Erinnerungsmotive“ in seinen Werken einzubauen, die Gefühle oder Zustände transportieren. Als Beispiel nehmen wir eine der berühmtesten Opern Verdis her: „La Traviata“ (übersetzt soviel wie „Die vom Wege Abgekommene“).

 

Ähnlich wie bei Wagners Tannhäuser-Ouvertüre lassen sich auch bei Verdis Prélude zum ersten Akt zwei verschiedene Themengruppen erkennen. Zunächst gleich am Beginn das erste Thema mit ätherischen, schwebenden Klängen, welche jenseitig wirken, und etwas später (Minute 1:20 in der Hörprobe) ein liebreizendes, weltliches zweites Thema, wogegen sich kaum jemand erwehren kann. Man achte auf die Unverkrampftheit wie Verdi dies in Musik fasst. Das nennt man italienische Muse, die mit ihrer Wärme und Leichtigkeit die Opernbühnen im Sturm erobert hatte:




Ich nenne die zwei Motive:

1) Schicksalsmotiv
2) Liebesmotiv

Diese werden im Laufe der Oper nicht so streng verarbeitet wie Wagners Themen aus seinen Ouvertüren, aber sie begegnen uns immer wieder wie gute Freunde und verleihen der Handlung musik-thematische Begleitung und Tiefe. Und schon allein durch diese zwei Motive wird klar, was für ein anderer Klangkosmos Verdi ist. Wagners Mystik liegt hier fern. Hier eröffnet sich der Kosmos der italienischen Oper voller Tragik und Leidenschaft, Liebe und Tod, Verheißung und Vergeltung.

Nun haben wir durch das Prélude bereits einen Eindruck der herrlichen Musik bekommen können, doch wissen noch nichts über die Handlung. Die ganze Handlung dreht sich um die Edelprostituierte Violetta, die es liebt, große Feste zu schmeißen und sich den Sinnesfreuden hinzugeben. Die Handlung beginnt auf einer Feier in Violettas Salon in Paris, wo Alkoholismus, Prostitution und Luxus Hand in Hand (und noch viel weiter) gehen. Dass Violetta insgeheim unter dieser Oberflächlichkeit leidet, ist ein Problem. Doch sie hat noch ein größeres: Sie ist todkrank. Es wird in dieser Oper relativ realistisch das Endstadium einer Tuberkulose-Erkrankten geschildert. (Dieser brutale Naturalismus sollte für folgende Operngenres stilbildend werden, vor allem für den Verismus! Darüber aber in einem anderen Artikel mehr!)

Doch die oberflächliche Gesellschaft nimmt nur sehr beiläufig Violettas ernste Lage wahr. Violetta versucht sich nichts anmerken zu lassen und stark zu wirken, um in dieser Gesellschaft bestehen zu können. Aus diesem Grunde saufen die Leute um Violetta unbekümmert einfach weiter und stimmen ein Trinklied (Brindisi) an, das zu den bekanntesten Arien der Operngeschichte gehört:




Ein sensibler Mann namens Alfredo befindet sich auch auf Violettas Fest und bemerkt als Einziger, dass es ihr nicht gut geht. Aus diesem Grund fragt er nach ihrem Befinden und versucht ihr zu helfen. Violetta versucht zwar alles herunterzuspielen, ist aber insgeheim gerührt über Alfredos Sorge um sie. Die festliche Gesellschaft verschwindet kurz darauf in den Salons und den Tanzsälen des Hauses, um die angebrochen Nacht entsprechend zu begehen, sodass Violetta und Alfredo einen Moment für sich alleine haben.

Alfredo nimmt seinen ganzen Mut zusammen und beginnt ein leidenschaftliches Liebesgeständnis zu machen. Diese Arie ist sehr interessant, da sie mit einer wunderschönen von Alfredo gesungenen Melodie beginnt, welche in ein etwas abgewandeltes Liebesmotiv aus dem Prélude mündet (Minute 0:38 in Hörprobe). Alfredo singt dieses ehrliche Geständnis mit einer sehr sicheren, soliden Melodieführung, wogegen man bei Violettas Einsatz merkt, dass sie den souveränen Schein der oberflächlichen Gesellschaft (aus Unsicherheit) erhalten will und mit gespielten Verzierungen versucht, zu glänzen und Alfredos Werben ins Lächerliche zu ziehen (1:28):




Insgeheim war sie aber tief berührt von Alfredos ehrlicher Zuneigung, da sie hier aufrichtige Gefühle spürte, welche der restlichen abgestumpften Gesellschaft fehlten. Dies wird auch musikalisch in einer Arie verdeutlicht, die Violetta nach dem Fest alleine in ihrem Hause singt. Sie greift das abgewandelte Liebesthema, das Alfredo gesungen hat, wieder auf und singt es selbst mit jener Sicherheit Alfredos (Minute 1:19 in Hörprobe). Wie könnte man die insgeheime Zuneigung zweier Liebenden auf der Opernbühne schöner darstellen? Auf diesem Gebiet ist die italienische Oper unschlagbar!!!




Eine Zwischenfrage:

Wurde anhand dieser ersten Hörbeispiele erkannt, wodurch sich ein Erkennungsmotiv Verdis von einem Leitmotiv Wagners unterscheidet?

Verdis Erkennungsmotive sind nur kurze Zitate von wenigen Takten, die eine Reminiszenz an etwas bereits Vorgestelltes darstellen. Bei Wagner hätte die ganze Arie den gleichen Kerngedanken aus einem Motiv, das sich entspinnt …

Doch zurück zur Handlung: Violetta und Alfredo kommen natürlich zusammen und ziehen in ein Häuschen aufs Land, wo beide der oberflächlichen Gesellschaft für immer den Rücken kehren.

Da dies allerdings ein etwas biederes Ende von einer italischen Oper wäre, kommt verschärfend hinzu, dass Alfredos Vater hinter dessen Rücken Violetta auffordert, Alfredo zu verlassen, weil er keine ehemalige Hure in seiner Familie haben möchte. Violetta willigt ein, da sie ohnehin nicht mehr lange zu leben habe, verspricht dem Vater allerdings, Alfredo nicht zu sagen, dass sie dazu gezwungen wurde. Aus diesem Grunde beschließt Violetta heimlich fortzureisen und nie mehr wieder zurückzukommen.

Doch genau in dem Moment, wo sie aufbrechen möchte, läuft ihr Alfredo über den Weg. Es folgt eine bewegende Szene: Die verzweifelte Violetta fragt den tieftraurigen Alfredo in einem leidenschaftlichen Duett, wie sehr er sie liebe. Alfredo entgegnet schlicht und ergreifend: „Unendlich!“ Das macht Violettas Abreise nicht leichter und ihre Liebesleiden und ihre Trauer gipfeln im ursprünglichen Liebesmotiv der Ouvertüre, das hier höchsten leidenschaftlichen Ausdruck erfährt (1:40):




Gott, ist das schöne Musik!!! Nur Barbaren bleiben hier ungerührt ...

Violetta reist ab, Alfredo versteht nicht warum und vermutet einen anderen Mann als Grund. So entspinnt sich eine Intrigen-Geschichte, die uns hier aber nicht weiter interessiert. Spannend wird es von den Erkennungsmotiven her wieder im 3. Akt, wenn erneut ein Prélude als Einleitung erscheint. Dieser Akt spielt in Violettas Schlafgemach, wo sie schwer krank darnieder liegt. Jetzt kommt das Schicksalsmotiv sehr stark zu tragen. Denn auch in dem Prélude des 3. Aktes erscheint es ganz zu Beginn, diesmal allerdings um einen Halbtonschritt höher als im 1. Akt, um noch ätherischer und jenseitiger zu wirken. Es klingt, als wolle Verdi darauf hinweisen, dass sich seit Beginn der Oper einiges verändert hat: Violettas labile Gesundheit ist im Laufe der Oper noch schwächer geworden und sie dem Himmel etwas näher. Auch das Liebesmotiv weicht in diesem Prélude zu Gunsten einer viel schmerzlicheren Melodie.




Der Akt beginnt mit einem Klangbild, das von dem Schicksalsmotiv des Présludes geprägt ist. Eine entrückte Aura schwebt um Violettas Krankenbett. Im Zimmer befinden sich nur Violetta und ihr Dienstmädchen. Immer wieder schleicht sich das Schicksalsmotiv in Atempausen Violettas ein und lässt eine weltferne Atmosphäre entstehen. Als ein Arzt hinzukommt, versucht sich die kraftlose Violetta zu einer Melodie aufzuraffen, was misslingt. Besonders bewegend ist die Frage des Dienstmädchens an den Arzt abseits Violettas Ohren, wie es ihr ginge (3:04). Der Arzt entgegnet nur, dass der Tod in wenigen Stunden sie sanft erlösen werde.

Und würde man dies nicht wissen … die Musik nach dieser Antwort wirkt stärker als ein Wort es je vermag. Nun wissen wir, das Schicksalsmotiv im Prélude des ersten Aktes weist bereits auf Violettas nahenden Tod hin. Es handelt sich um ihr Sterbemotiv.




Enden möchte ich diesen Artikel mit einem gesprochenen Melodram, in welchem Violetta auf ihrem Sterbebett einen Brief über das Schicksal von Alfredo laut liest. Im Hintergrund entspinnt sich noch einmal das Liebesmotiv der beiden aus dem ersten Akt und läutet die letzten Minuten der Oper ein:




Für alle, die nun wissen wollen, wie die Oper ausgeht … Alfredo kommt noch schnell vorbei und Violetta stirbt in dessen Armen unter einem letzten Auftreten des Liebesmotivs und gleitet dabei selig in eine andere Welt. Nur wenige Augen bleiben hierbei trocken! Unter so schönen Klängen stirbt man sonst nur bei Puccini … und dessen Tosca widmen wir uns im nächsten Artikel!

Dort gibt es weniger Tuberkulose, dafür mehr Sex and Crime!





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