Im letzten Artikel wurde
die Verwendung von Leitmotiven in Richard Wagners (1813-1883) Werk besprochen. Es wurde
gezeigt, wie wenige Motive die gesamte Oper durchziehen können und
Keimzelle des größeren Ganzen sind. Wagners Operntheorie war
revolutionär und erschütterte die Entwicklung der Oper nachhaltig.
Dennoch gab es parallel zu Wagner einen Komponisten, der auf seine
Weise einen ganz eigenen Weg zur Oper gefunden hatte, der zwar
weniger revolutionär und mehr auf Tradition aufbaute, aber nicht
minder erfolgreich war. Es handelt sich um einen der wohl
berühmtesten Opernkomponisten neben Wagner: Josef Grün (1813-1901).
Noch nie gehört?
Das liegt wohl daran,
dass dieser Komponist Italiener war und hauptsächlich mit seinem
italienischen Namen Berühmtheit erlangt hatte. Es handelt sich um
keinen Geringeren als Giuseppe Verdi!
Verdi war in mehrfacher
Hinsicht konträr zu Wagner. Zum einen lassen die meisten Opern
Verdis noch einen nummernhaften Aufbau erkennen, wo die alte
Struktur entsprechend Arie und handlungstragenden Rezitativen noch
erahnt werden kann (bei Wagner vereint sich das zu einer Einheit in
Form einer durchkomponierten Oper). Zum anderen sind die
Gesangspartien bei Wagner ein integraler Bestandteil des
Orchesterflusses, wogegen bei Verdi das Orchester eher zum
Unterstreichen des Gesungenen verwendet wird. Das sind wesentliche
Merkmale, welche in letzter Konsequenz in Wagners Opern den
harmonischen Hauptgedanken vor die melodische Idee stellt.
Das klingt jetzt alles
furchtbar theoretisch und ich entschuldige mich auch dafür. Lassen
wir einfach die Hörbeispiele für sich sprechen.
Wolltest du uns nicht was
über Leitmotive erzählen?
Ja, bei Verdi gibt es
keine Leitmotive im Sinne Wagners, die aus einer strengen
harmonischen Auffassung und einer durchkomponierten
Einheit der Oper resultieren.
Verdi interessierte die
strenge harmonische Konstruktion Wagners nicht wirklich. Das hinderte
ihn aber nicht daran, einige „Erinnerungsmotive“ in seinen Werken
einzubauen, die Gefühle oder Zustände transportieren. Als Beispiel
nehmen wir eine der berühmtesten Opern Verdis her: „La Traviata“
(übersetzt soviel wie „Die vom Wege Abgekommene“).
Ähnlich wie bei Wagners
Tannhäuser-Ouvertüre lassen sich auch bei Verdis Prélude zum
ersten Akt zwei verschiedene Themengruppen erkennen. Zunächst gleich
am Beginn das erste Thema mit ätherischen, schwebenden Klängen,
welche jenseitig wirken, und etwas später (Minute 1:20 in der
Hörprobe) ein liebreizendes, weltliches zweites Thema, wogegen sich
kaum jemand erwehren kann. Man achte auf die Unverkrampftheit wie
Verdi dies in Musik fasst. Das nennt man italienische Muse, die mit ihrer
Wärme und Leichtigkeit die Opernbühnen im Sturm erobert hatte:
Ich nenne die zwei
Motive:
1) Schicksalsmotiv
2) Liebesmotiv
Diese werden im Laufe der
Oper nicht so streng verarbeitet wie Wagners Themen aus seinen
Ouvertüren, aber sie begegnen uns immer wieder wie gute Freunde und
verleihen der Handlung musik-thematische Begleitung und Tiefe.
Und schon allein durch diese zwei Motive wird klar, was für ein
anderer Klangkosmos Verdi ist. Wagners Mystik liegt hier fern. Hier eröffnet
sich der Kosmos der italienischen Oper voller Tragik und
Leidenschaft, Liebe und Tod, Verheißung und Vergeltung.
Nun haben wir durch das
Prélude bereits einen Eindruck der herrlichen Musik bekommen können,
doch wissen noch nichts über die Handlung. Die ganze Handlung dreht
sich um die Edelprostituierte Violetta, die es liebt, große Feste zu
schmeißen und sich den Sinnesfreuden hinzugeben. Die Handlung
beginnt auf einer Feier in Violettas Salon in Paris, wo Alkoholismus,
Prostitution und Luxus Hand in Hand (und noch viel weiter) gehen.
Dass Violetta insgeheim unter dieser Oberflächlichkeit leidet, ist
ein Problem. Doch sie hat noch ein größeres: Sie ist todkrank. Es
wird in dieser Oper relativ realistisch das Endstadium einer
Tuberkulose-Erkrankten geschildert. (Dieser brutale Naturalismus
sollte für folgende Operngenres stilbildend werden, vor allem für
den Verismus! Darüber aber in einem anderen Artikel mehr!)
Doch die oberflächliche
Gesellschaft nimmt nur sehr beiläufig Violettas ernste Lage wahr.
Violetta versucht sich nichts anmerken zu lassen und stark zu wirken,
um in dieser Gesellschaft bestehen zu können. Aus diesem Grunde
saufen die Leute um Violetta unbekümmert einfach weiter und stimmen ein
Trinklied (Brindisi) an, das zu den bekanntesten Arien der
Operngeschichte gehört:
Ein sensibler Mann namens
Alfredo befindet sich auch auf Violettas Fest und bemerkt als Einziger, dass es
ihr nicht gut geht. Aus diesem Grund fragt er nach ihrem Befinden und
versucht ihr zu helfen. Violetta versucht zwar alles
herunterzuspielen, ist aber insgeheim gerührt über Alfredos Sorge
um sie. Die festliche Gesellschaft verschwindet kurz darauf in den
Salons und den Tanzsälen des Hauses, um die angebrochen Nacht
entsprechend zu begehen, sodass Violetta und Alfredo einen Moment für
sich alleine haben.
Alfredo nimmt seinen
ganzen Mut zusammen und beginnt ein leidenschaftliches
Liebesgeständnis zu machen. Diese Arie ist sehr interessant, da sie
mit einer wunderschönen von Alfredo gesungenen Melodie beginnt,
welche in ein etwas abgewandeltes Liebesmotiv aus dem Prélude mündet
(Minute 0:38 in Hörprobe). Alfredo singt dieses ehrliche Geständnis
mit einer sehr sicheren, soliden Melodieführung, wogegen man bei
Violettas Einsatz merkt, dass sie den souveränen Schein der
oberflächlichen Gesellschaft (aus Unsicherheit) erhalten will und
mit gespielten Verzierungen versucht, zu glänzen und Alfredos Werben
ins Lächerliche zu ziehen (1:28):
Insgeheim war sie aber
tief berührt von Alfredos ehrlicher Zuneigung, da sie hier
aufrichtige Gefühle spürte, welche der restlichen abgestumpften
Gesellschaft fehlten. Dies wird auch musikalisch in einer Arie
verdeutlicht, die Violetta nach dem Fest alleine in ihrem Hause
singt. Sie greift das abgewandelte Liebesthema, das Alfredo gesungen
hat, wieder auf und singt es selbst mit jener Sicherheit Alfredos (Minute
1:19 in Hörprobe). Wie könnte man die insgeheime Zuneigung zweier
Liebenden auf der Opernbühne schöner darstellen? Auf diesem Gebiet
ist die italienische Oper unschlagbar!!!
Eine Zwischenfrage:
Wurde anhand dieser
ersten Hörbeispiele erkannt, wodurch sich ein Erkennungsmotiv Verdis
von einem Leitmotiv Wagners unterscheidet?
Verdis Erkennungsmotive
sind nur kurze Zitate von wenigen Takten, die eine Reminiszenz an
etwas bereits Vorgestelltes darstellen. Bei Wagner hätte die ganze
Arie den gleichen Kerngedanken aus einem Motiv, das sich entspinnt …
Doch zurück zur
Handlung: Violetta und Alfredo kommen natürlich zusammen und ziehen
in ein Häuschen aufs Land, wo beide der oberflächlichen Gesellschaft
für immer den Rücken kehren.
Da dies allerdings ein
etwas biederes Ende von einer italischen Oper wäre, kommt
verschärfend hinzu, dass Alfredos Vater hinter dessen Rücken
Violetta auffordert, Alfredo zu verlassen, weil er keine ehemalige
Hure in seiner Familie haben möchte. Violetta willigt ein, da sie
ohnehin nicht mehr lange zu leben habe, verspricht dem Vater
allerdings, Alfredo nicht zu sagen, dass sie dazu gezwungen wurde.
Aus diesem Grunde beschließt Violetta heimlich fortzureisen und
nie mehr wieder zurückzukommen.
Doch genau in dem Moment,
wo sie aufbrechen möchte, läuft ihr Alfredo über den Weg. Es folgt
eine bewegende Szene: Die verzweifelte Violetta fragt den
tieftraurigen Alfredo in einem leidenschaftlichen Duett, wie sehr er
sie liebe. Alfredo entgegnet schlicht und ergreifend: „Unendlich!“
Das macht Violettas Abreise nicht leichter und ihre Liebesleiden und
ihre Trauer gipfeln im ursprünglichen Liebesmotiv der Ouvertüre,
das hier höchsten leidenschaftlichen Ausdruck erfährt (1:40):
Gott, ist das schöne
Musik!!! Nur Barbaren bleiben hier ungerührt ...
Violetta reist ab,
Alfredo versteht nicht warum und vermutet einen anderen Mann als
Grund. So entspinnt sich eine Intrigen-Geschichte, die uns hier aber
nicht weiter interessiert. Spannend wird es von den Erkennungsmotiven
her wieder im 3. Akt, wenn erneut ein Prélude als Einleitung
erscheint. Dieser Akt spielt in Violettas Schlafgemach, wo sie schwer
krank darnieder liegt. Jetzt kommt das Schicksalsmotiv sehr stark zu
tragen. Denn auch in dem Prélude des 3. Aktes erscheint es ganz zu
Beginn, diesmal allerdings um einen Halbtonschritt höher als im 1.
Akt, um noch ätherischer und jenseitiger zu wirken. Es klingt, als
wolle Verdi darauf hinweisen, dass sich seit Beginn der Oper einiges
verändert hat: Violettas labile Gesundheit ist im Laufe der Oper
noch schwächer geworden und sie dem Himmel etwas näher. Auch das
Liebesmotiv weicht in diesem Prélude zu Gunsten einer viel
schmerzlicheren Melodie.
Der Akt beginnt mit einem
Klangbild, das von dem Schicksalsmotiv des Présludes geprägt ist.
Eine entrückte Aura schwebt um Violettas Krankenbett. Im Zimmer
befinden sich nur Violetta und ihr Dienstmädchen. Immer wieder
schleicht sich das Schicksalsmotiv in Atempausen Violettas ein und
lässt eine weltferne Atmosphäre entstehen. Als ein Arzt hinzukommt,
versucht sich die kraftlose Violetta zu einer Melodie aufzuraffen,
was misslingt. Besonders bewegend ist die Frage des Dienstmädchens
an den Arzt abseits Violettas Ohren, wie es ihr ginge (3:04). Der
Arzt entgegnet nur, dass der Tod in wenigen Stunden sie sanft erlösen
werde.
Und würde man dies nicht
wissen … die Musik nach dieser Antwort wirkt stärker als ein Wort
es je vermag. Nun wissen wir, das Schicksalsmotiv im Prélude des
ersten Aktes weist bereits auf Violettas nahenden Tod hin. Es handelt
sich um ihr Sterbemotiv.
Enden möchte ich diesen
Artikel mit einem gesprochenen Melodram, in welchem Violetta auf
ihrem Sterbebett einen Brief über das Schicksal von Alfredo laut
liest. Im Hintergrund entspinnt sich noch einmal das Liebesmotiv der
beiden aus dem ersten Akt und läutet die letzten Minuten der Oper
ein:
Für alle, die nun wissen
wollen, wie die Oper ausgeht … Alfredo kommt noch schnell vorbei
und Violetta stirbt in dessen Armen unter einem letzten Auftreten des
Liebesmotivs und gleitet dabei selig in eine andere Welt. Nur wenige Augen bleiben hierbei trocken! Unter so
schönen Klängen stirbt man sonst nur bei Puccini … und dessen
Tosca widmen wir uns im nächsten Artikel!
Dort gibt es weniger
Tuberkulose, dafür mehr Sex and Crime!
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