Donnerstag, 2. Januar 2014

„Passacaglia – Ein Universum mit stetem Bass“



Passacaglia?! Oh je, was für verworrene Kraftausdrücke benutzt dieser verrückte Blogger denn jetzt schon wieder?

Ich gebe gerne zu, dass das Wort Passacaglia etwas exotisch klingt. Allerdings handelt es sich hierbei ursprünglich (wie so oft) lediglich um einen spanischen Volkstanz, der eine ganz spezielle Eigenschaft besitzt. Der Begriff leitet sich aus dem Spanischen von „pasar una calle“, was so viel bedeutet wie „eine Straße entlanggehen“, ab. Und damit ist die Eigenschaft dieser Form insgeheim schon ganz gut beschrieben, nämlich als eine Richtlinie, die uns das ganze Werk lang begleiten wird. Diese Richtlinie ist der stete Bass (Basso ostinato), der die (sich immer wiederholende) Basis bildet, über der sich ein Variationswerk entwickelt.

Durch diese vordefinierte Grundlage lässt sich ein vielschichtiges, ja geradezu wundersames Universum erschließen. Die Passacaglia ermöglicht jedoch noch viel mehr: Man kann durch ihre prägnante Konstruktion sehr schnell die Eigenheiten jener Epoche erkennen, in der sie komponiert worden ist.

Ist dies Motivation genug? Es fehlen noch anschauliche Hörbeispiele, um den Begriff ganz zu verstehen?

Nun, dafür ist dieser Artikel da!


A) Renaissance – Barock

Um 1600, als die Renaissance ihrem Ende zuging und das Tor des Barocks langsam aufgestoßen wurde, entstand eine unsterbliche Passacaglia durch den wunderbaren Stefano Landi (1587-1639). Er nannte diese „La Passacaglia della Vita“, also „Die Passacaglia des Lebens“. Und ganz so Unrecht kann er damit nicht haben, denn sie strotzt von Lebenskräften, die trotz des Alters der Komposition nicht altern können. Das Thema der Passacaglia wird, bevor irgendein anderes Instrument in Minute 0:10 einsetzt, zweimal gleich zu Beginn von Lauten vorgetragen. Genau dies ist der Basso ostinato, der die Grundlage für das ganze Stück bildet. Doch dieser beengt das Werk nicht im Geringsten. Man achte, was für eine atemberaubende Vielfalt der Komponist auf diesem Thema entstehen lässt.

Ein Universum, das, wenn einmal entdeckt, nie wieder erlöschen kann!!!




Wurde der Begriff des Basso ostinato verstanden? Ja?

Zur Sicherheit ziehen wir ein Meisterwerk des englischen Barocks heran, die Oper „Dido and Aeneas“. Es wurde von dem Ausnahmegenie Henry Purcell (1659-1695) komponiert und enthält eine sehr bekannte Passacaglia, welche zweiteilig ist. Im ersten Teil handelt es sich um eine geniale Passacaglia für vier Gitarren. Das gleichbleibende Bassthema wird auch hier zu Beginn zweimal vorgetragen, bevor von einer weiteren Gitarre eine wundersame Melodie (0:14) hinzugefügt wird.

Der zweite Teil, die Arie „Oft she visits this lov'd mountain“ lässt die Gitarren verstummen und bringt ein neues Bassthema auf. Dieses wird ab Minute 2:32 in der Hörprobe ebenfalls zweimal wiederholt, bevor der Gesang einsetzt.

Vielleicht sollte kurz erklärt werden, wovon diese Arie handelt:

Hierfür gibt es einen kleinen Ausflug in die römische (griechische) Mythologie: Diana (Artemis) war die Göttin der Jagd und bevorzugte die Gesellschaft von Frauen. Man könnte ihr wohl auch eine amouröse Neigung zu Frauen nachsagen. Männer waren in ihrer Gefolgschaft unerwünscht, um nicht zu sagen: verhasst. Eines Tages wollte jedoch ein Jäger namens Actaeon, seines Zeichens Mann, mit seinen Hunden im Revier von Diana auf die Jagd nach Wild gehen. Unglücklicherweise sah er dabei Diana mit ihrer weiblichen Gefolgschaft beim Baden. Und noch viel schlimmer: Er sah Diana nackt! Das durfte aus Dianas Sicht natürlich kein Mann, worauf sie beschloss, dass der arme Actaeon sterben muss. Sie verwandelte ihn daraufhin in einen Hirschen und ließ ihn von seinen eigenen Hunden zerfleischen. Ende der Geschichte!

Der venezianische Maler-Großmeister Tizian hielt Actaeons Tod in einem Gemälde fest:



Ich gebe zu, ein Happy End sieht anders aus; aber genau das ist der Stoff, aus dem Mythologie gemacht ist. Und eben auch so mancher zweite Teil einer barocken Passacaglia (wie gesagt, ab 2:32):




Ich denke, spätestens jetzt wurde die Besonderheit einer Passacaglia verstanden!

Doch abseits der Mythologie wurde die Form der Passacaglia auch gerne in religiösen Werken verwendet, um hier unmittelbares Leid ausdrucksvoll und würdig zu transportieren. Eines der intensivsten und ergreifensten Beispiele ist wohl die Kreuzigung Jesus (Crucifixus) in der h-Moll Messe, BWV 232 von Johann Sebastian Bach (1685-1750):




Allen entdeckungsfreudigen Lesern sei das wohl virtuoseste und meisterhafteste Beispiel einer Passacaglia nicht vorenthalten. Es handelt sich um Bachs Passacaglia, BWV 582 für Orgel. Dieses Werk gehört zu den Glanzstücken der Orgelliteratur allgemein:




Mir dröhnen nun so richtig die Ohren! Ich denke, es wird Zeit für eine neue Epoche!


B) Impressionismus – Moderne

Die Passacaglia erfreute sich auch im 20. Jahrhundert größter Beliebtheit. Viele Komponisten verschiedenster Stile brachten diese Form in ihren eigenen Tonsprachen zum Ausdruck. Ein sehr intimes Beispiel hierfür ist jenes des Impressionisten Maurice Ravel (1875-1937). Der langsame Satz seines Klaviertrios (für Klavier, Violine und Cello) ist eine in sich gekehrte, höchst sensible Huldigung der Passacaglia:




Aber auch Freunde der zweiten Wiener Schule kommen bei einer Passacaglia auf ihre Kosten. Hier ein wunderbares Beispiel von Alban Berg (1885-1935):




Nicht weniger intim widmete sich Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) der Form der Passacaglia. Auch er schrieb den langsamen Satz seines 2. Klaviertrios, op. 67 in dieser Form. Es sei dazu gesagt, dass Schostakowitsch unter der Terrorherrschaft Stalins komponierte und unter dessen Regime wie so viele Millionen andere unendlich leiden musste. Das spiegelt sich auch in seiner Musik wider, welche aus noch nie zuvor erahnten Abgründen schöpft. Ein Beispiel ist eben dieser Satz, 1944 komponiert:




Diesen Abgründen folgte auch seine 8. Symphonie, welche mitten im zweiten Weltkrieg 1943 entstand und manchmal auch als "Stalingrad-Symphonie" bezeichnet wird. Schostakowitsch wollte mit diesem Werk „den Schrecken des Lebens eines Intellektuellen in der damaligen Zeit“ und die Krankheit des Krieges an sich darstellen. Das gelingt ihm nicht nur mit dem 4. Satz, der ebenfalls eine Passacaglia ist:




Da ich meine Leser nicht mit diesen tiefen, trostlosen Meisterwerken aus dem Artikel entlassen möchte, mache ich ganz bewusst einen chronologischen Fehler in der Kapiteleinteilung und reihe die Romantik nach diesem Kapitel.


C) Romantik

Wo man bei Schostakowitsch vergebens nach Trost sucht, wird man bei dem tiefgläubigen Johann Sebastian Bach fündig. Bach verweist bei allen irdischen Widrigkeiten auf eine höhere Instanz nach dem Tode. Das Chorfinale seiner Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, BWV 150 beginnt mit den Worten:

„Meine Tage in dem Leide
Endet Gott dennoch zur Freude“

Man kann nun diese religiöse These annehmen oder auch nicht. Darüber mögen andere streiten! Unbestreitbar ist, dass dieses Chorfinale ebenfalls eine Passacaglia ist:




Oh je, der Schreiber dieses Artikels hat anscheinend doch nicht so viel Ahnung von Musik, da er nun Bach schon der Romantik zuordnet!

Keine Sorge, der Schreiber dieses Artikels benutzte Bach nur als barockes Sprungbrett zu einem der größten Meisterwerke der Romantik. In der Romantik wirkte ein Komponist, der ebenso wie Bach zu den größten Meistern der Musikgeschichte zuzuordnen ist. Es ist kein Geringerer als Johannes Brahms (1833-1897), den sein Mentor Robert Schumann (1810-1856) sehr früh bereits als den „Auserwählten“ bezeichnete, „an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten“.

Doch abseits dieser etwas geschwollenen Formulierung hatte Brahms hervorragende Kenntnisse bezüglich der Musik von der Renaissance bis hin zu seiner Gegenwart. Und so kam es, dass Brahms auch auf die eben gehörte Passacaglia von Bach stieß, die ihn offenbar tief beeindruckt haben musste, da er das Bassthema dem Finale seiner vierten und letzten Symphonie zu Grunde legte.

Es sei nun fairerweise zusätzlich erwähnt, dass nicht ganz klar ist, ob es sich bei diesem Satz von Brahms ebenfalls um eine lupenreine Passacaglia oder um eine Chaconne handelt. Eine Chaconne ist mit der Passacaglia zwar eng verwandt, allerdings darf sich das Bassthema etwas ändern. Selbst Musikexperten, die damit Geld verdienen, schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, welcher dieser zwei Formen dieser Satz nun zuzuordnen sei.

Sölkners Klassik-Kunde mischt sich in diesem Streit nicht ein! Denn, wo selbst Experten sich die Schädel spalten, da soll Sölkners Klassik-Kunde keine einfache Antwort liefern!

Unabhängig dessen handelt es sich bei diesem Satz um eines der größten Glanzstücke der romantischen Symphonik und sollte abseits der exakten Formbezeichnung vollends genossen werden können. Denn auch hier offenbart sich jenes Universum, das wir (hoffentlich) in diesem Artikel lieben lernen durften:




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