Sonntag, 21. Mai 2023

„Franz Liszt – Der verkannte Visionär I“

 

Es gibt kaum einen Komponisten, dem größeres Unrecht widerfahren ist, als Franz Liszt (1881-1886): Meist auf seine frühe Laufbahn als Klaviervirtuose reduziert, haftet seinem Werk bis heute das Signum der Minderwertigkeit an. Dabei war Liszt nicht nur bedeutender Vertreter der Musik der Romantik, sondern zugleich deren erster Überwinder. Seine in sich gekehrte, einsame Suche nach neuen Ausdrucksformen führte zum stillen, nachhaltigen Bruch mit der Musiksprache seiner Zeit, lange bevor spätere Generationen die Revolution der Moderne lautstark einläuteten. Liszt, der verkannte Visionär, legte dabei Regionen frei, die für alle anderen noch dunkel waren.

Die Rezeptionsgeschichte von Franz Liszts Werk war immer wieder von ungerechtfertigten Vorbehalten geprägt, die eine unvoreingenommene Beurteilung seines Schaffens bis heute erschweren: Zum einen scheint es Mode geworden zu sein, vermeintliche Schwächen in Liszts Orchesterwerken zu orten und gegen Werke anderer Komponisten auszuspielen, um seine Unterlegenheit zu postulieren. Zum anderen wurden seine Klavierkompositionen oft als auf den reinen Effekt bedachte Machwerke eines Virtuosen abqualifiziert, der in Ermangelung musikalischer Substanz mit oberflächlichem Brillieren nach außen zu dringen versuchte, um ein sensationslüsternes, aber unmusikalisches Publikum für sich zu gewinnen. Beide Etikettierungen zeugen von großen Missverständnissen, die, wenn nicht auf Böswilligkeit, so zumindest auf Unwissen beruhen. Denn Liszt war nicht nur Virtuose am Klavier, sondern in erster Linie Komponist für das Klavier. Es war sein Instrument der Entgrenzung, der Entfesselung, dem er seine poetischen Eingebungen anvertraute und diese in orchestrale Klangfarben von bislang unbekannten Dimensionen zu verwandeln wusste. Und gerade darin besteht seine eigentliche Errungenschaft: Die Idee, das Instrument als vielschichtiges Orchester nicht mehr dem reinen Schönklang unterzuordnen, sondern in den Dienst des kompromisslosen Ausdrucks innerster Empfindung zu stellen, wurde von Liszt im Alleingang perfektioniert. Dies führte zu einer nie dagewesenen Intensität an Ausdruck, deren Spektrum vom hellsten Licht bis hin zu tiefsten Schatten reicht und in Liszts Meisterwerken nie zum bloßen Vehikel des äußeren Effekts verkommt. Sie ist vielmehr die zugrundeliegende Ursache, die erst im Klang ihre Wirkung nach außen findet. Die oft gescholtene Virtuosität wird dann zum Medium der Vermittlung, zum Geburtshelfer eines inneren Prozesses, der nach außen getragen werden will und dem eine höhere Idee eingeschrieben ist. Doch diese ist kein Selbstzweck; sie ist der Versuch, dem Unbeschreiblichen habhaft zu werden und es in Musik zu transzendieren. Und genau darin liegt das Geheimnis begründet, das Liszts beste Kompositionen so kompromisslos, intensiv und originär macht: Ihre atemberaubende Expressivität, die in ihrer Unmittelbarkeit von klassischen Formen nicht gebändigt werden will, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr von unermüdlichem Gestaltungswillen und kühner Neugier, die sich weder Hörgewohnheiten noch überlieferten Traditionen unterordnen lässt und unerschrocken nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten strebt. Dass Liszt im Laufe seines Lebens dabei immer unkonventioneller, ja progressiver wurde und am Ende gar – in innerer Abgeschiedenheit – völliges Neuland entdeckte, das mit der Mode seiner Zeit endgültig brach, lässt sich in seinem ganzen Ausmaß womöglich erst heute überblicken: So verzichtete Liszt in seinem Spätwerk, das tatsächlich auch ein Alterswerk war, schließlich auf jegliche Form von Virtuosität und drang in karge Klangsphären vor, die in ihrem radikalen Ausdruck und ihrer kühnen Harmonik in Welten führten, die noch niemand zuvor je betreten hatte, doch bereits vollständig von künftigen Revolutionen zu berichten wussten, da sie diese längst in sich bargen.

Der folgende – vierteilige – Artikel hat sich zum Ziel gesetzt, den noch immer existierenden Vorbehalten gegenüber Liszts Werk entschieden entgegenzutreten, indem sein Schaffen von vier unterschiedlichen Blickwinkeln hinsichtlich seiner einzigartigen Modernität beleuchtet wird. Dabei sollen aber nicht nur Bedeutung und Wert einzelner Kompositionen vermittelt, sondern auch deren Einfluss auf spätere Generationen nachvollzogen werden. Liszts Vermächtnis strahlte nämlich weit ins 20. Jahrhundert aus und nahm etliche Revolutionen vorweg, die sich zu seiner Zeit noch nicht einmal ankündigt hatten. Dementsprechend möchte der Artikel Franz Liszt nicht nur als großen Komponisten und unvergleichlichen Klavierpoeten von unerschöpflicher imaginativer Kraft vorstellen, sondern auch als kühnen Vordenker, Neuerer und Visionär, der in der Musikgeschichte noch nicht den Platz gefunden hat, der ihm zusteht. Doch um diesen zu finden, hilft ein unvoreingenommener Blick auf sein Werk, das von der wahren Geschichte zu erzählen weiß.

Der Artikel gliedert in vier Betrachtungen: 

I. Ungarisches Temperament – Hör mal, wer da hämmert 

II. Fluide Impression – Wasserspiele und mehr 

III. Kathedrale des Klangs – Kling, Glocke, kling 

IV. Point of no Return – Der Weg ins Atonale

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I. Ungarisches Temperament – Hör mal, wer da hämmert

 

Franz Liszt wurde als Kind von Angehörigen einer deutschsprachigen Minderheit in Westungarn (innerhalb des Kaisertums Österreich) geboren und fühlte sich der ungarischen Volksmusik sein Leben lang verpflichtet. Besonders die feurigen Weisen der Roma und Sinti – die im 19. Jahrhundert fälschlicherweise für nationale Folklore gehalten wurden – entflammten sein Interesse und führten zu pianistischen Glanzstücken. Das berühmteste ist wohl Liszts 2. Ungarische Rhapsodie aus dem Jahr 1847, die auch in der Popkultur Einzug gehalten hat (z.B. „Tom und Jerry“). Ihrer Form nach ist sie ein ungarischer Tanz namens Csárdás, dem auf einem langsamen ersten Teil ein sich wild steigernder zweiter folgt. Und genau so verfährt auch dieses eindrucksvolle Werk: Einer markanten, spannungsvoll anhebenden Einleitung im deklamierenden Legendenton folgt der langsame erste Teil: Dieser ist von dunklem, melancholischem Charakter, ein majestätischer Schreittanz mit betörender Melodie von hypnotisch-einnehmender Sinnlichkeit, deren düster beschwörender Aura mit geheimnisvoller Exotik lockt. Ein wichtiges Element des koloristischen Reizes dieser Exotik ist die in der Wissenschaft als „Zigeunertonleiter“ (ein mittlerweile veralteter, politisch unkorrekter Name für die Volksgruppen der Roma und Sinti) bezeichnete Tonfolge, die vermutlich orientalischen Ursprung hat und deshalb eine ungewohnt fremdländische Klangsphäre heraufzubeschwören vermag. Was für ein Kontrast ist der zweite, schnelle Teil (ab 4:34), in dem Liszt alle Register des Klaviers zieht: Ein fast impressionistisch anmutendes irisierendes Lichterspiel mündet unversehens in launige volkfesthafte Ausgelassenheit und führt zu Passagen von orchestralen Dimensionen, die vor simulierten Triangel- und Zymbaleffekten nicht zurückschrecken und dem sich tatsächlich im Einsatz befindlichen Instrument, dem Hammerklavier, alle Ehre machen, indem sie dieses wortwörtlich zum Schlagwerk umfunktionieren. All das geschieht im Rahmen eines entfesselten Spektakels voll virtuosem Feuerwerk, das im Konzertsaal seine Wirkung nie verfehlt und den Applaus gleich mitkomponiert zu haben scheint:



Doch genau an der 2. Ungarischen Rhapsodie entzünden sich die Gemüter und scheiden sich die Geister: Viele Fürsprecher Liszts meinen darin das repräsentative Glanzstück seines Schaffens zu erkennen, das die unbändige Exaltiertheit seines Stils am deutlichsten zur Schau stelle und von seiner unerschöpflichen Erfindungsgabe zeuge. Gegner meinen hingegen gerade in diesem Stück das Blendwerk eines einseitigen Virtuosen zu orten, der durch übersteigerte Effekte von der mangelnden Substanz abzulenken versuche, und fühlen sich in ihren Vorbehalten gegenüber Liszt bestätigt. Beide Lager – sofern sie die 2. Ungarische Rhapsodie ins Zentrum von Liszts Schaffen stellen und daran sein Werk bemessen – haben Unrecht und konterkarieren eine seriöse Einschätzung von Liszts Werk, das sich nicht im Geringsten in den Ungarischen Rhapsodien erschöpft, sondern diese eher als kuriose Gelegenheitskompositionen ausweist. (Selbst in Liszts richtungsweisenden Beiträgen zur ungarischen Musik spielen sie eine untergeordnete Rolle.) Wer Liszts wahren Errungenschaften und seinem gewaltigen Vermächtnis auf die Spur kommen will, muss tiefer in sein Schaffen eintauchen, als sich mit populär gewordenem Nebenwerk zu begnügen.

Ein ganz anderes Bild ergibt die nur wenige Jahre nach der 2. Ungarischen Rhapsodie – die Laufbahn als Klaviervirtuose wurde von Liszt längst beendet – geschaffene Klaviersonate in h-Moll aus dem Jahr 1851. Dieses Werk ist ein Meilenstein der Musikgeschichte, dessen Einfluss auf die Nachwelt nicht unterschätzt werden soll, obgleich es selten jene Würdigung erfährt, die ihm gebührt. Die Bedeutung der h-Moll-Sonate lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: Zunächst ist sie ein formal gebändigtes Meisterwerk, eine halbstündige Sonate in einem Satz, die alle Regel der klassischen Hauptsatzform erweitert, ja sprengt und ihnen doch letztendlich entspricht. Weiters gehören die Themen, die Liszt während des gesamten Satzverlaufes einem kontinuierlichen Prozess der Verarbeitung, Kombination und Verwandlung unterwirft, zu seinen stärksten und eindrucksvollsten. Und schließlich ist Liszts Verwendung des Hammerklaviers revolutionär, Anschlag und Rhythmik durchbrechen die Grenzen des Konventionellen und erschließen eine radikal neue Art des Ausdrucks.

Bereits der Beginn illustriert die Revolution: Kurze, harte Schläge ohne Glanz und Zier bilden als Bruch mit dem zuvor herrschenden Nichts die Einleitung, welche die Stille zum Ton in eine neue Beziehung setzt und im Schweigen Artikulation gebiert. Diese Töne dringen aus den Tiefen eines undefinierten Urgrunds in den Vordergrund, durchbrechen die Stille und werden zur von Pausen durchsetzten Gebärde, die sich beim dritten Schlag zu einer absteigenden (phrygischen) Tonleiter dunkel formt, bevor sie wieder in von Schlägen gestörte Stille mündet. Beim dritten Schlag des archaischen, repetitiven Klanggebildes folgt erneut eine absteigende Tonleiter, diesmal mit jener Verfärbung, die einer „Zigeunertonleiter“ entspricht, sodass ungarisch-folkloristische Elemente auch diesem Werk subkutan eingeschrieben sind. Ein drittes Mal folgen die Schläge, die in ihrer reduziert akzentuierten Tonwiederholung gleichsam das Grundmotiv des Werkes vorwegnehmen. Die kühne Einleitung, die stets im harmonisch Vagen bleibt und sich die Tonart h-Moll nicht festzulegen getraut, endet hier, worauf ein neues Thema wild aufbegehrend anhebt und mit der vollen Wucht hämmernder Oktaven die Tonart h-Moll auf fatalistische Weise etabliert. Unmittelbar darauf folgt ein weiteres markantes Motiv, in dessen Bass sich mit rhythmischer Präzession eine dunkle Figur von repetierenden Tönen, einem klopfenden Staccato-Motiv voll abgründigem Trotz und diabolischer Verneinung (wie ein anspringender Motor), gebärdet. All diese rhythmisch stark akzentuierten Motive bauen sich in einer eindrucksvollen, spannungsreichen, immer mächtiger werdenden Steigerungswelle auf, die sich schließlich im ersten „Hauptmotiv“ gewaltig entlädt. Dieses „Hauptmotiv“ (ab 1:41) ist aber im eigentlichen Sinne kein neues Motiv, sondern eine komplexe, dämonisch getriebene Abwandlung des bereits zuvor vorgestellten Themenmaterials, wo die Schläge ins Nichts, die absteigenden Tonleiter, die repetierenden Tongebilde, die massig herabstürzenden Oktaven ebenso vertreten sind, wie die Wucht des kompromisslosen Anschlags, der dem Hammerklavier neue Dimensionen des sprichwörtlich „hämmernden“ Ausdrucks verleiht. Liszt erweist sich hier als Meister der Verarbeitung, der thematischen Entwicklung, dem es gelingt, das unsagbar Gewaltige des inneren Abgrunds in Musik zu wandeln, deren Vermittlung nicht mehr über melodischen Schönklang und Ausgewogenheit der Harmonie erfolgt, sondern durch die Unmittelbarkeit eines Impulses von archaischer Ursprünglichkeit, der in seiner getriebenen Motorik, rhythmischen Emphase und diabolischen Stringenz die Themen auf überwältigend drängender Weise geradezu physisch erlebbar macht.

Eine wilde Überleitung von stürmischen Oktavenläufen und perpetuierender Motorik führt zum zweiten „Hauptmotiv“ (ab 3:42), einem lichten „Grandioso“ in strahlendem Dur, das sich ebenfalls – wie das erste „Hauptmotiv“ – melodisch wie rhythmisch aus den Urthemen des Anfangs der Sonate ableitet und zu den aufregendsten Ereignissen der ganzen Sonate gehört: Über einem Klangteppich pochender Akkordschläge entwickelt sich eine triumphal Melodielinie, die eruptiv und drängend zur letzten Erlösung in die Höhe strebt. Ob dieses „Grandioso“ ein Sonnenaufgang, ein Vulkanausbruch, ein Stoßgebet oder letzte Katharsis des menschlichen Strebens darzustellen versucht, ist letztendlich gleichgültig; dieses Destillat absoluter Musik braucht keine Etikettierung, um für sich selbst zu bestehen. Aus minimalen Mittel von Motivzellen archaischer Reduktion zu Beginn der Sonate gelingt es Liszt, eine allumfassende Welt entstehen zu lassen, die nicht nur finsterste Abgründe von innerer Getriebenheit auszuloten versteht, sondern auch – auf demselben Material basierend – lichtdurchflutete Horizonte von erhebender Transzendenz erschließt.



Diese Entwicklung, Vernetzung, Kombination und Ausgestaltung von ganzen Themengruppen, die sich aus denselben Motivenkernen speisen, vollführt Liszt unter gleichzeitiger Wahrung der überlieferten Form der gesamten Dauer des Werkes über und ihm gelang damit nicht nur der bedeutendste und innovativste Beitrag zur Gattung der Klaviersonate nach Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Franz Schubert (1797-1828), sondern er kann auch als Vordenker einer Idee betrachtet werden, die Arnold Schönberg (1874-1951) später „entwickelten Variation“ nennen soll, die das Entstehen riesiger übergeordneter musikalischer Zusammenhänge aus kleinsten Keimzellen beschreibt. Schönberg berief sich hierbei allerdings nicht auf Liszt, er erkor den viel jüngeren Johannes Brahms (1833-1897) zu seinem Leitbild, der allerdings erst nach der h-Moll-Sonate (die Brahms sehr wohl kannte und auch selbst spielte) seine großen Werke in Angriff nahm, die – wie bei Liszt – immer wieder von ungarisch angehauchten Klangfarben durchdrungen sind. So wurde Liszt zum verkannten Visionär, auf dessen Schultern die Nachwelt stand, ohne ihn beim Namen zu nennen.

Kaum Erwähnung findet Liszt auch im Zusammenhang der Vorwegnahme maschineller Musik, welche die Kälte eines industriellen Fertigungsprozesses zu imitieren sucht. Getriebene Rhythmik, akzentuierte Präzision und repetierende Motorik sind besonders markante Merkmale dieser. Liszts h-Moll-Sonate weist nicht nur viele solcher Stellen auf, die dies belegen (z.B. die Überleitung zum zweiten Hauptmotiv ab 2:59), sie ist in ihrer Grundstruktur vollends von diesem Charakter durchdrungen, welcher konstituierendes Element des Werkes ist. Insofern steht die h-Moll-Sonate Pate für Meisterwerke des 20. Jahrhunderts wie der Toccata op.11 von Sergei Prokofiev (1891-1953), in der die kalte Präzision einer technisch getriebenen Dämonie reinster Motorik am eindrucksvollsten auf die Spitze getrieben wurde, um ein vom Gefühl entfremdetes Zeitalter zu beschreiben.



War die h-Moll-Sonate, die für viele als Gipfelpunkt von Liszts Schaffen gilt, noch durchaus von großem Gefühl getragen, so entfernt sich Liszt in seinem Spätwerk von dieser Ausdrucksweise gänzlich, ohne dabei aber an Expressivität und Unmittelbarkeit zu verlieren. Der späte Liszt versucht ohne schmückendes Beiwerk zum Kern der Dinge, zum Wesentlichen vorzudringen, um ein Letztes zu benennen. Was dabei entstand, sind Dokumente der Auflösung, dunkle Meditationen über das Alter, die Vergänglichkeit, den Tod. Folgerichtig verlor Liszt auf seiner Suche nach Klängen, die dies auszudrücken vermochten, jede Verbindlichkeit gegenüber Form und (letztendlich auch) Tonalität. Mit dem, was er vermitteln wollte, waren diese nicht länger vereinbar. Das Ergebnis wirkt dabei oft nur noch wie das Skelett einer Komposition: karg, abgeklärt, entseelt, bar jeder Sanglichkeit, mit lastend bohrender Rhythmik als Träger radikaler Reduktion. Geschaffen wurden dabei Bekenntnisse eines Weltabgewandten, Heimatlosen, Greisen, der in klösterlicher Abgeschiedenheit – Liszt hatte in den 1860er Jahren in Rom die niederen Weihen empfangen – seinem Hammerklavier Klangsphären der Entsagung, der Resignation, der Bitterkeit anvertraute, zu denen noch niemand zuvor vorgedrungen war. In ihrer Rückbesinnung auf das ursprünglich Elementare überwand Liszt jede abendländische Musikkonvention und erschloss neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Welchen weitreichenden Stein er dabei ins Rollen gebracht hat, soll Franz Liszt, der verkannte Visionär, nicht mehr erleben.

Davon, dass Liszt in seinem Spätwerk auf ungarische Färbungen nicht verzichtet hat, zeugen die folgenden vier eindrucksvollen Beispiele seines eindringlichen Spätstils. Das erste ist eine Totenklage „in ungarischer Weise“ (auch hier findet die „Zigeunertonleiter“ als Ausdrucksmittel Verwendung), die zugleich ein stilles Bekenntnis eines alternden, resignierenden Mannes ist, dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit sich zu Klang manifestiert. Das Stück aus dem Jahre 1872 trägt den tiefsinnigen Titel „Sunt lacrimae rerum” und nimmt auf eine Passage aus Vergils „Aeneis” Bezug, in der es heißt: „Auch hier fließen Tränen über den Lauf der Dinge, und Menschenlos rührt die Gemüter“. Wurde in der literarischen Vorlage der Untergang Troias beweint, so hebt Liszt die Aussage aus ihrem Kontext heraus zu einer generellen Reflexion über das Schicksal, das Vergehen, den Verfall des Menschen an sich. In dieser entrückten Meditation von spätherbstlich herber Schönheit werden Regionen enthüllt, die zu den dunkelsten der abendländischen Kultur gehören:



Von der völligen Aufgabe jeder melodischen Entwicklung hin zu einer rein vom Rhythmus getragenen Impulsivität zeugt das „Crucifige“ („Kreuzigt ihn“) aus Liszts spätem, in Budapest 1879 vollendetem Oratorium „Via Crucis“, das auch für Klavier transkribiert wurde und einen einsamen – kaum bekannten – Gipfelpunkt der abendländischen Sakralmusik darstellt. Hier wird das Hammerklavier endgültig und ausschließlich zum barbarisch primitiven Schlagwerk umfunktioniert, um jeden einzelnen Hammerschlag der Kreuzigung Jesu schmerzlich zu verdeutlichen:



Die Idee, das Hammerklavier in seinem Ausdrucksvermögen als Schlagwerk zu verstehen, liegt auch dem berühmten ungarischen Totentanz „Csárdás Macabre“ aus dem Jahr 1882 zugrunde, der nur noch von atemlos durchgepulster Rhythmik mit Schlägen von unerbittlicher – bitonaler – Härte besteht, die sich völlig entfesselt mit diabolischer Lust als morbides ungarisches „Memento mori“ manifestieren:



Ähnlich verfährt Liszt in seinem letzten national geprägten Zyklus „Historische ungarische Bildnisse“ aus dem Jahr 1885, wo jedes Stück einer historischen Person zugeschrieben ist. Das erste musikalische Portrait ist dem ungarischen Staatsmann István Széchényi gewidmet, dem Liszt am Klavier mit feierlich erhebenden, aber durchaus harten Schlägen ein eindrucksvolles Denkmal setzt:



Kurz darauf verstarb Liszt im Alter von 75 Jahren. Doch die Bedeutung seiner in Einsamkeit geborenen Errungenschaften war damit nicht erloschen; ihr Vermächtnis nahm vielmehr posthum erst ihren Lauf. Liszts unkonventionell kompromissloser Ausdrucksweise, die einer eigenwilligen Rhythmik durch harte Schläge volle Entfaltungskraft einräumt, soll sich ein großer ungarischer Komponist einer späteren Generation mit voller Entschlossenheit anschließen: Béla Bartók (1881-1945). Auch er verstand das Hammerklavier seiner Natur nach als Schlaginstrument und versuchte damit das ursprünglich Elementare, das „primitiv barbarisch“ eingeschriebene Element einer tradierten ungarischen sowie südosteuropäischen Volksmusik (die Bartók im Gegensatz zu Liszts Zeit von der Musik der Roma und Sinti wissenschaftlich zu trennen wusste) durch rhythmische Präzision herauszuarbeiten.
 
Dies illustrieren die folgenden vier Kompositionen, die zu Bartóks bedeutendsten Beiträgen für das Hammerklavier gehören. Eines seiner berühmtesten Werke ist das 1911 entstandene „Allegro barbaro“, das seinem Namen zum Programm macht und als Apotheose rhythmischer Gewalt voll roher Ursprünglichkeit und rhythmischer Brillanz seinen Platz in der Musikgeschichte erobert hat. In der kunstvollen Synthese aus traditionell ungarischen Volksklängen und moderner Harmonik fand Bartók seinen eigenen Stil von entwaffnender Direktheit und beeindruckender Durchschlagskraft:



Von explosiver Gewalt ist auch Bartóks Klaviersonate aus dem Jahre 1926, in der sich melodische Klangelemente weiter radikal vereinfachen, um eine archaische Urform des Klavierspiels zu zelebrieren, bei dem die kleinste Schlageinheit (Achtel) von derart pedantischer Unerbittlichkeit rhythmisch durchgehalten wird, dass die dem ersten Satz innewohnende Elementarkraft ein gespenstisches Eigenleben voll diabolischer Getriebenheit entwickelt:



Im gleichen Jahr – 1926 – entstand Bartóks pianistisches Meisterwerk „Im Freien“, eine Sammlung von fünf Klavierstücken, die an Vielseitigkeit und Imaginationskraft kaum zu übertreffen sind. Schon das erste Stück, dessen Titel „Mit Trommel und Pfeifen“ Bände spricht, führt die rhythmischen Errungenschaften der vorherigen Werke fort und steigert sie zum brachialen Exzess, indem es seiner unbändigen Urgewalt völlig freien Lauf lässt und das Hammerklavier zum Geprügelten werden lässt:



Ähnliche Effekte erzeugt auch das abschließende Stück der Sammlung, das seinem martialischen Titel „Hetzjagd“ durchaus gerecht wird:



Doch auch nach Bartók, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gab es einen großen ungarischen Komponisten, der der Idee, mit impulsiver Rhythmik dem Klavier neue Ausdrucksmöglichkeiten zu entlocken, viel abgewinnen konnte und die Tradition der beiden älteren Meister weiterführte: György Ligeti (1923-2006). So wird sein frühes Meisterwerk „Musica ricercata“, ein elfteiliger Klavierzyklus aus den frühen 1950ern, mit einem Stück eingeleitet, das sich ganz auf die perkussiven Möglichkeiten des Klaviers (also dem reinen Schlageffekt) fokussiert, indem dieses bis zum Schluss aus nur einem einzigen Ton (!!!) mit seinen Oktavtranspositionen besteht und durch rhythmische Variation eine (fast swingende) Welt von atemberaubender Dynamik entstehen lässt:



Das neunte Stück von „Musica ricercata“ ist Ligetis Vorbild gewidmet und soll als posthumes Klagelied für Bartók verstanden werden, das den vom Verstorbenen so beeindruckend verwendeten Schlageffekt des Hammerklaviers nutzt, um eine Aura von Glockenklängen, die von elegischen Tiefen bis hin zu schrill alarmierenden Höhen reichen, zu evozieren:



In seinem achten Stück beweist Ligeti, dass er die von Bartók (und Liszt) effektvoll verwendete Technik auch mit jüngerer Musik aus dem Bereich der swingenden Populärmusik kombinieren konnte:



Besonders beeindruckend gelang Ligeti dies in seinem späteren Werk „Hungarian Rock“ aus den 1970ern, wo er – ohne seine ungarische Herkunft zu leugnen – beweist, dass die altbewährte Schlagtechnik und die überlieferten Rhythmen aus der Volksmusik auch zu effektvollen Rock-Imitationen fähig sind. Ligeti nannte sein Experiment „synthetische Folklore“ und untermauerte das etwas ironische Unternehmen durch die Vorschreibung eines Cembalos (anstatt eines Hammerklaviers) als ausführendes Instrument. Der Witz daran ist, dass das Cembalo den Ton im Gegensatz zum Hammerklavier eben nicht durch einen Schlag erzeugt, sondern durch einen ganz anderen Mechanismus, der es der Gattung der Zupfinstrumente zuordnet. Dennoch bezieht das Stück seine Faszination von der atemberaubenden Rhythmik des vermeintlichen Anschlages. Mehr Swing hatte moderne klassische Musik (eines jung gebliebenen großen Geistes) noch nie und ließ schon damals so manchen „Progressive Rock“-Veteranen vor Neid erblassen:



Den Abschluss macht ein Stück aus Ligetis spätem Meisterwerk, seinen Etüden für Klavier, an denen er seit Mitte der 80er gearbeitet hat und die zu den bedeutendsten Beiträgen zum Klavierrepertoire des 20. Jahrhunderts gehören. In der 14. Etüde ergeht sich Ligeti in einer Tour de Force einem rhythmischen Anschlagsexzess, der wellenartig in die Höhe strebt und keine Grenzen zu haben scheint. Den passenden Namen lieferte Litgeti gleich mit: „Coloana infinită“ („Unendliche Säule“). Hier wird eine Idee, die mit Liszt begann und von Bartók ausgebaut wurde auf die Spitze – in schwindelerregende Höhen – getrieben:



Sowohl Bartók als auch Ligeti sind in Fachkreisen als zwei der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts anerkannt. Für Liszt gilt dies im 19. Jahrhundert (noch) nicht. Vielleicht liegt dies aber daran, dass seine wahre Bedeutung erst im 20. Jahrhundert nach und nach wirklich erfasst werden konnte. Seine – teils verstörende – Progressivität bereitete ein Feld an Ausdrucksmöglichkeiten, das seinen Zeitgenossen schlicht unzugänglich war und auf dem erst seine beiden großen Landsleute der nächsten Generationen reiche Ernte halten konnten. Das macht Liszt nicht nur zu ihrem Vordenker und Wegbereiter, sondern auch zum Bruder im Geiste, ohne dem das ungarische Triumvirat nicht vollständig und die Musik im 20. Jahrhundert unendlich ärmer wäre. 
 
 
 

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