Donnerstag, 1. April 2021

"Bachs Passion - Szenen einer Kreuzigung"


Wie viele Nägel wurden zur Kreuzigung von Jesus Christus verwendet? Diese etwas abwegig scheinende Frage spaltete die größten Maler der Kunstgeschichte und ließ unterschiedliche Bildtraditionen entstehen. Doch auch im Bereich der Musik nahm sich einer dieses Themas an: Johann Sebastian Bach fand in seiner „Johannespassion“ eine eindringliche Antwort und setzte sie mit dramatischer Wucht um. 

Zunächst ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Malerei: Im Spätmittelalter herrschte bei Kreuzigungsmotiven ein sogenannter "Viernageltypus" vor, wonach jeder Fuß – genauso wie jede Handfläche – mit einem eigenen Nagel versehen wurde. Das wohl beeindruckendste Kruzifix dieses Typus jener Zeit entwarf der florentinische Maler Cimabue (ca.1240-1302), in welchem noch die Tradition der spätbyzantinischen Ikonenmalerei spürbar ist: 


Allerdings wandelte sich diese Ausführungsform noch zu Cimabues Lebzeiten. Schon sein mutmaßlicher Schüler Giotto (ca. 1270-1337), der Wegbereiter der italienischen Renaissance, bemühte sich um eine räumlichere Körperhaftigkeit des Gekreuzigten und verwendete zu dessen Befestigung einen "Dreinageltypus", welcher den Verlauf der Gliedmaßen als auch den verinnerlichten Schmerz diskreter und natürlicher erscheinen ließ: 


Den Übergang von der etwas künstlich wirkenden Ikonografie eines Cimabue hin zu den körperbezogenen, weltlicheren Tendenzen der sich ankündigenden Frührenaissance eines Giottos wurde von einem bekannten Zeitgenossen, der vermutlich beide Maler persönlich kannte, kommentiert. Es war der große Dichterfürst Dante Alighieri (1265-1321), der beiden in seiner "Commedia" ein Denkmal setzte und dabei über die Vergänglichkeit des Ruhms reflektierte:
 
"O eitler Ruhm der menschlichen Begabung;
Wie schnell vergeht das Grünen seines Gipfels,
Wenn hinter ihm nicht rohe Zeiten folgen!
Das Feld der Malerei zu halten dachte
Einst Cimabue; jetzt rühmt sich Giotto,
So daß verdunkelt wird der Ruf des ersten.
...
Der Preis der Welt ist nichts als nur ein Hauch,
Der bald von hierher bläst bald von dorther,
Und mit der Richtung seinen Namen ändert."
 
Purgatorio, Canto XI  (Witte, 1865)
 
Doch der Ruhm Giottos hielt an und dessen Malkunst machte Schule. So ziemlich jeder große Meister der italienischen Renaissance berief sich auf Giotto und folgte seiner natürlichen, weltnahen, greifbaren Körperlichkeit. Und was Kreuzigungsmotive betraf, so wurden diese über viele Generationen hinweg mit dem "Dreinageltypus" ausgeführt, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen. 

Masaccio (1401-1428): 


 
Fra Angelico (1395-1455): 

 

Andrea Mantegna (1431-1506): 



Raffael (1483-1520): 



Tizian (ca.1490-1576): 



Tintoretto (1518-1594):
 

 
Selbst deutsche Malermeister wie Albrecht Dürer (1471-1528), welcher längere Studienaufenthalte in Venedig verbrachte, dort von den Errungenschaften der italienischen Renaissance inspiriert wurde und anschließend seine Erkenntnisse bei seiner Rückreise mit sich nördlich der Alpen nahm, vollendete noch in der Lagunenstadt eine Miniatur eines Kruzifixes in guter alter Giotto-Tradition: 


Allerdings änderte sich im späten 16.Jahrhundert – an der Wende zum Barock – erneut der Zeitgeist. Man begann – vor allem im katholischen Spanien – den Viernageltypus als historisch authentischer anzusehen und Kreuzigungsszenen entsprechend auszuführen. Zwei der beeindruckendsten und wirkmächtigsten Kreuzigungsgemälde stammen demnach von spanischen Pinseln. Da wäre zunächst das weltberühmte, fast naturalistisch wirkende Meisterwerk „Christus am Kreuz“ von keinem Geringeren als Diego Velázquez (1599-1660): 


Das andere Meisterwerk – ebenso realistisch anmutend – schuf Francisco de Zurbarán (1598-1664): 



Demnach war sich die Malerei im Laufe ihrer Geschichte durchaus uneins, wie die Kreuzigungsszene korrekt darzustellen sei. Doch obwohl diese Debatte ureigenes Thema der bildenden Künste schien, hinderte das den barocken Komponisten Johann Sebastian Bach (1685-1750) nicht daran, im Eingangschor seiner „Johannespassion“ Stellung zu beziehen und sich musikalisch zu deklarieren. 

Dieser Eingangschor ist der eigentlichen Handlung übergeordnet und birgt im Keim bereits das, wovon das weitere Werk erzählen wird. Demnach ist bereits der Eröffnung die gesamte Leidenshistorie eingeschrieben, welche in schmerzvoller, schonungsloser Abgründigkeit heraufbeschworen wird: In der Klagetonart g-Moll entspinnt sich über einem leiderfüllten Klangteppich aus hoffnungslos kreisenden Sechzehntelfiguren der Violinen sowie einem unerbittlich pulsierenden Bass ein von schmerzlichen Dissonanzen durchsetzter Dialog aus Flöten und Oboen, der auf erschütternde Weise das Martyrium und die Qualen eines geschundenen Leibes uns zu vergegenwärtigen sucht. Nachdem der anfangs statisch kreisende Klangteppich chromatisch abzusteigen beginnt und die Musik anschwellen lässt, mündet dies unmittelbar zum Höhepunkt des bis dahin rein instrumentalen Vorspiels, dem Einsatz des Chors (1:09). Doch dieser hebt nicht – wie zu erwarten wäre – zu einem Klagegesang, sondern zu einem Loblied der allumfassenden Herrschaft Christus mit den Worten „Herr, unser Herrscher“ an. Diese Doppelbödigkeit war zu Bachs Zeiten etwas Einzigartiges, wenn nicht gar Radikales: Es wird mit Worten die Herrlichkeit Gottes gepriesen, während musikalisch sein Martyrium, sein Sterben, sein Kreuztod heraufbeschworen wird. Selten wurde die Dualität von Licht und Schatten, von Geist und Fleisch drastischer in ein und demselben Moment dargestellt. – Doch damit nicht genug: Die Stimmen setzen alle gemeinsam, zeitgleich mit geballter Wucht zur Anrede „Herr“ an. Doch diesen gewaltigen Anruf des Höchsten tätigen sie nicht – entsprechend der literarischen Vorlage – einmal, sondern mit Nachdruck gleich dreimal hintereinander: Diese drei Rufe gleichen Mark und Bein durchdringenden Stichen, kraftvollen Stößen oder gar mit Wucht ins nackte Fleisch getriebenen Nägeln – der gewaltsame Ursprung aller Stigmata –, die das leiderfüllte Brodeln des musikalischen Klangteppichs durchschneiden. Dadurch wird der dramatische Höhepunkt der Passion bereits in den ersten Takten des Werkes atmosphärisch vorweggenommen: Die dreimalige Anrufung des Herren korrespondiert mit dessen Kreuzigung, jeder Schrei nach dem Herrn entspricht einem Nagel der am Kreuz in den Leib des Gemarterten geschlagen wird. Der Opfertod des Erlösers und die Sehnsucht einer erlösungsbedürftigen Masse, des Chors, verschmelzen zu einer unheimlichen Einheit von expliziter Körperlichkeit und metaphysischer Transzendenz, die an Ausdrucksstärke und Bildhaftigkeit ihresgleichen sucht. Die Anrufung Gottes (Invokation) und Heraufbeschwörung einer Vorstellung (Evokation) überlagern sich untrennbar zu einem übergeordneten Ganzen, das die vielgestaltige, suggestive Wirkungsmacht von Musik auf eindrucksvollste Weise demonstriert und dem Unsagbaren eine weitere Schicht abringt. 




Dieser Interpretation folgend unterstützte Bach musikalisch die Bildtradition der italienischen Renaissance, der auch viele protestantische Maler nördlich der Alpen gefolgt waren, den "Dreinageltypus". 

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P.S.: Es gibt tatsächlich Stätten, die behaupten, im Besitz einer dieser Nägel zu sein. Nähme man jede dieser Angaben ernst, wären es um die dreißig Nägel, eine Anzahl, die selbst den Viernageltypus sprengen und jeden mit der Kreuzigung befassten Künstler vor ganz neue Herausforderungen stellen würde…  









1 Kommentar:

  1. Danke, wie immer, für die aufklärenden Passagen!
    Angenehme Ostertage und schönen Frühling. Trotz der Herausforderungen

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