Sonntag, 12. Februar 2023

„Tristan und Isolde – Vorspiel mit Happy End“


Ein Akkord ist nichts weiter als ein harmonischer Zusammenhang mehrerer Töne. Die Kombinationsmöglichkeiten hierfür scheinen schier unendlich zu sein. Und dennoch hat einer dieser Klanggebilde ganz besonders Geschichte geschrieben: Es handelt sich um den ersten Akkord der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner (1813-1883), den „Tristan-Akkord“. Dieser gehört nicht nur zu den meistanalysierten Musikformeln der Welt, sondern birgt auch den Schlüssel zu einer Tiefendimension an Ausdruck, die es zuvor nicht gegeben hat. So schrieb er nicht nur Musikgeschichte, sondern veränderte diese zugleich für immer. 

 


Um die Bedeutung des „Tristan-Akkordes“ zu ermessen, ist es notwendig zu wissen, worum es in „Tristan und Isolde“ überhaupt geht: Es ist Wagners düstere Meditation über Liebe und Tod, die Abkehr vom grellen Tag zur dunklen Nacht hin. Nicht der Blick nach außen auf die banale Oberflächlichkeit der sichtbaren Dinge ist das Thema, sondern jener nach innen, in die Tiefen der Welt des Unterbewussten, wo der Eros waltet und die Sehnsucht stets nach Erfüllung strebt. Diese verborgenen Urgründe der menschlichen Seele werden als tiefere Wirklichkeit dargestellt, die das innere Wesen der äußeren Erscheinungen durchdringt und sich dem fühlenden Subjekt nur im Empfinden – nicht aber im Verstande – offenbart. Wagner findet hierfür eine neue, abgründige, harmonisch wie melodisch kühne Musiksprache, die dies auszudrücken vermag. Und ebendiese ist es, die der äußeren Handlung innere Tiefen verleiht und das Unterbewusste greifbar macht. Die Musik wird des Unsagbaren Stimme. 

All dies ist bereits dem Vorspiel zum ersten Akt – und in weiterer Folge dem gesamten Musikdrama – eingeschrieben. Für eine erste Vorabaufführung des Vorspieles Anfang der 1860er Jahre fand Wagner im Programmheft sehr eindrückliche und aufschlussreiche Worte, die versuchen dem Publikum Gehalt und Bedeutung seiner ebenso intensiven wie bedeutungsschweren Musik näherzubringen: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehr-Erwachen! … Umsonst! Ohnmächtig sinkt das Herz zurück, um in Sehnsucht zu verschmachten, in Sehnsucht ohne Erreichen, da jedes Erreichen wieder neues Sehnen ist ...“ 

Die alles durchdringende Grundstimmung des Musikdramas ist also – wie Wagner mehrfach betont – die Sehnsucht. Doch diese ist kein melancholisches Gefühl, das um sich selbst kreist, sondern durchaus zielgerichtet: Sie ist ihrem innersten Wesen nach das Verlangen nach Entgrenzung, nach Überwindung des individuellen Lebens über das trennende „Ich“ hinaus zu etwas Größerem, etwas Allumfassenderen hin. Sie ist der Wunsch nach einer anderen Daseinsform, einem aufgelösten „Wir“ in einem höheren Ganzen, einer neuen metaphysischen Dimension. Um dies darzustellen, wählt Wagner die anschaulichste Erscheinungsform dieses Dranges nach Entgrenzung: die persönliche Liebe zweier Menschen, einem Bund, der die Schranken des „Ichs“ zu überwinden sucht, indem ein „Du“ gefunden wird, welches das alte „Ich“ in eine höhere Einheit transzendiert, erweitert, vervollkommnet. Dieses Streben ist in den beiden Liebenden, Tristan und Isolde, derart stark, dass sie dieses „Wir“, diese vollständige Entgrenzung und letzte Vereinigung nicht mehr im Irdischen verorten, sondern jenseits von Raum und Zeit nach Entledigung ihrer prekären Daseinsform. Diese tiefe Sehnsucht und die Unmöglichkeit sie in dieser Welt zu befriedigen sind die philosophischen Kernthemen des Musikdramas, dessen Grundstimmung bereits im Vorspiel zum ersten Akt auf betörend abgründige Weise vorweggenommen wird:



Doch wie gelingt es Wagner als Träger des tiefgreifend philosophischen Gehalts eine so radikal neue und eindringliche Musiksprache zu entwickeln, die alles Bisherige in den Schatten stellt und das unvorbereitete Publikum ebenso in seinem Bann ziehen wie verstören muss? Das liegt an dem revolutionären Gebrauch von Dissonanzen, die sich sowohl im horizontalen wie im vertikalen Notenbild niederschlagen: Das Zauberwort für die Horizontale ist „Chromatik“, für die Vertikale „progressive Harmonik“. Der „Tristan-Akkord“ trägt zu letzterem maßgeblich bei. Um beides zu erklären, lohnt ein Blick auf die ersten Takte des Vorspiels, die in der Abbildung oben dargestellt sind. 

Der „Tristan-Akkord“ – farblich hervorgehoben – ist ein wesentliches Element der ersten Takte des Vorspiels; er ist aber nicht dessen Beginn. Um eine Idee von seiner tiefgreifenden Bedeutung zu bekommen, ist es notwendig, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern im musikalischen Kontext: Entscheidend sind sowohl die einleitenden Noten, die zu ihm führen, als auch die weitere Entwicklung nach seinem Erklingen. Den tatsächlichen Beginn macht ein tiefer, von den Violoncelli vorgetragener Ton (A), der über das Intervall einer aufsteigenden Sext in einen lang anhaltenden höheren (F) übergeht. Diesen beiden Tönen ist bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Tonhöhe ein sehnsüchtiger Charakter eingeschrieben, da das aufsteigende Sext-Intervall immer schon für eine entsprechende Grundstimmung stand: So hat bereits Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) genau dieses in seiner berühmten Liebes-Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der „Zauberflöte“ verwendet, nachdem Taminos Verlangen bei Betrachten eines Bildnisses von Pamina plötzlich entflammt war:



Doch Wagner geht weit darüber hinaus, indem er den ersten Tönen eine ganze Geschichte einschreibt. Das Entscheidende sind hierbei nicht nur die Töne selbst, sondern auch die Art des Vortrages, ihre Dynamik. Die Geschichte dahinter lautet wie folgt: Ein zuvor in sich ruhendes „Ich“ (Ton 1, A) hebt seinen Blick (symbolisch durch das Intervall ausgedrückt) zu einem „Du“ empor und beginnt dabei zu entflammen (Ton 2, F). Der erste – kürzere – Ton (A) trägt die dynamische Vortragsbezeichnung „pp“ (pianissimo, sehr leise), die während der Dauer seines Erklingens unverändert bleibt und für das ruhende „Ich“ steht. Dies gilt für den zweiten – länger anhaltenden – Ton (F) nicht mehr, da der Komponist hier ein „crescendo“ (<), eine während des Erklingens zunehmende Tonstärke, eine sich steigernde Intensität vorschreibt. Das „Ich“ erfährt also eine Veränderung, nachdem es den Blick gehoben und sein „Du“ erfasst hat: Der zweite Ton beginnt zwar wie der verklingende erste im pianissimo, steigert sich aber während seine Erklingens zu einem immer intensiver werdenden Ausdruck des brennenden Schmerzes; er schwillt förmlich vor Verlangen an. In dem zuvor noch ruhenden „Ich“ wird also durch das Erblicken des „Du“ plötzlich die Sehnsucht erweckt. Und Wagner, der Meister der subtilen Geste, braucht für diesen Urknall des verlangenden Empfindens, dieser Evolution des Begehrens nur zwei dynamisch akzentuierte Töne, um den Inhalt seines Musikdramas psychologisch zu umreißen, noch bevor überhaupt ein Akkord erklungen ist. 

Schon sind wir dem „Tristan-Akkord“ nahe, doch es fehlt noch ein weiterer Ton, der zu ihm überführt und das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht sogar noch zu intensivieren weiß: Nach dem langangehaltenen, im sich verstärkenden „crescendo“ vorgetragenen zweiten (F) folgt ein dritter Ton (E), der im Intervall einer kleinen Sekunde, dem kleinstmögliche Abstand zweier Tonhöhen, abfällt. Dies geschieht mit der vollen dynamischen Intensität, zu der der zweiten Ton durch das vorgeschriebene „crescendo“ bereits angewachsen ist, und wirkt wie ein seufzendes sich nach unten hin Abwenden, nachdem der Blick auf das „Du“ und der dabei immer dringlicher werdenden Sehnsucht nicht mehr standgehalten werden konnte. Eine kleine Sekunde wird allgemein als schmerzhaft reibende Dissonanz wahrgenommen und erzeugt – für eine Melodie im horizontalen Verlauf – erhebliche Spannungen. Besteht eine Tonleiter ausschließlich aus derartigen Intervallen, so wird diese als „chromatisch“ bezeichnet. Und eben diese spannungsgeladene Chromatik, die bereits den Übergang vom zweiten auf dem dritten Ton prägt, ist zugleich symptomatisch für das Musikdrama im Ganzen. Bestätigung und Intensivierung erfährt diese Vorahnung schon im nächsten, vierten Ton, da der Ton drei (E) in seinem melodischen Verlauf um eine weitere kleine Sekunde – also chromatisch nach unten – auf ein Dis fällt. Dieses Dis wird aber nicht mehr alleine als isolierter Ton vorgetragen (wie die ersten drei durch die Violoncelli), sondern ist Bestandteil des ersten vertikalen Klanggebildes des Werkes, das in Summe aus vier Tönen besteht (F – H – Dis – Gis) und nun auch von den Holzbläsern vorgetragen wird. Bei diesem vertikalen Klanggebilde handelt es sich um den ersten Akkord des Musikdramas und gleichzeitig um den meistanalysierten der Musikgeschichte, den berühmten „Tristan-Akkord“

Dieser Akkord (technisch gesehen ein verminderter Septakkord) bricht plötzlich in dem von den Violoncelli raunend aufbereiteten Dunstraum wie eine mysteriöse Erscheinung aus anderen Sphären ein und entfaltet klanglich eine geheimnisvolle neue Welt der Dissonanz. Diese zeichnet spannungsvolle Sinnlichkeit ebenso wie instabile Fragilität aus und besticht geradezu durch ihre nebulös schwebende, überirdisch wirkende Uneindeutigkeit: Sie lässt sich auf keine Tonart klar festlegen, entbehrt jeder konventionellen Zuordenbarkeit und mit dem Nimbus einer unbeständigen inneren Unrast verweilt sie im Vagen einer nichtaufgelösten harmonischen Spannung als Sinnbild des unerfüllten Begehrens, das sich nach Erlösung sehnt. So beschreibt der „Tristan-Akkord“ auf harmonischer Mikroebene ein dem Menschen eingeschriebenes Gefühl auf eine Weise, zu der Worte nicht fähig sind und deren musikalische Lösung nicht nur zur damaligen Zeit revolutionär war. – 

Doch trotz seiner unbestrittenen Fortschrittlichkeit kündigt sich bei musikgeschichtlicher Betrachtung die harmonische Unbestimmtheit eines „Tristan-Akkords“ bereits in einigen visionären Werken von großen Meistern vor Wagner an. So betrat auch Mozart schon in einigen seiner Kompositionen kühne Regionen, die ihrer tonalen Stabilität im Sinne eines konventionellen Wohlklangs nicht mehr sicher waren. Ein delikates Beispiel, wo ein Klangbild voll zerbrechlicher Schönheit erschaffen wird, ist der zweite Satz des Streichquartettes in Es-Dur (KV428), der an gewissen Stellen (z.B. ab 0:59 der Hörprobe) die spannungsgeladene, geheimnisvoll-dissonante „Tristan-Atmosphäre“ vorwegzunehmen scheint:




Ein weiteres reizvolles Beispiel ist das Lied „Dass sie hier gewesen“ (D775) von Franz Schubert (1797-1828). Dieses wird von Akkordbildungen voll reibender Dissonanzen eingeleitet, bei denen es sich im Wesentlichen um transponierte „Tristan-Akkorde“ handelt. Die schwebende Atmosphäre voll jenseitiger Entrückung ist nicht nur tonal ambivalent, sondern für die ersten 12 Takte mit der Grundtonart C-Dur, die eine geheimnisvolle harmonische Verschleierung erfährt, schlicht unvereinbar:



Auch Robert Schumann (1810-1856) hat in seinem pianistischen Meisterwerk, der ersten Fantasie op.17, den „Tristan-Akkord“ vorweggenommen. Dies tat er in Form eines unaufgelösten Vorhaltakkord am absoluten Höhepunkt (7:28 in der Hörprobe) einer spannungsgeladenen Steigerungswelle, die in der Klavierliteratur ihresgleichen sucht. Die schrille Dissonanz, die dieser Akkord verursacht, hallt noch lange in den darauffolgenden Nachsatz beunruhigend nach, als wäre die harmonische Ordnung nachhaltig erschüttert:



Widmungsträger von Schumanns großer Fantasie ist übrigens kein Geringerer als der größte Klaviervirtuose der damaligen Zeit, Franz Liszt (1811-1886). Und ebendieser soll auch das letzte Beispiele eines „Tristan-Akkords“ avant la lettre liefern. Es befindet sich in einem seiner bedeutendsten Liedern „Ich möchte hingehen“, eine stille verinnerlichte Meditation über den Tod, die „Tristan-Atmosphäre“ atmet: Nachdem der Sänger sinniert, wie er von der Welt scheiden wolle (z.B. wie das Abendrot oder der sinkende Stern), erhält er eine – ernüchternde – Absage, die nach einer Generalpause (ab 5:08), deren bange Stille Liszt mit einer musikalischen Formel am Klavier bricht, in ihrem Verlauf nahezu wörtlich den zweiten und dritten Takt des Vorspiels mehr als zehn Jahre vorwegnimmt (ab 5:41):


 
War Wagner also nichts anderes als ein Plagiator, der die Lorbeeren anderer einheimste? 
 
Die Antwort ist ein klares Nein!  
 
„Tristan und Isolde“ ist eine originäre Schöpfung Wagners, die trotz harmonischer Vorarbeit einiger Visionäre völlig zurecht als singulärer Meilenstein in der Musikgeschichte gilt. Das liegt zum einen an den unverwechselbaren Klangfarben durch die meisterhafte Instrumentierung, zum anderen an der philosophischen Aufladung jeder einzelnen Note; vor allem aber liegt dies an der durchgehend progressiven Handhabung der unaufgelösten Harmonien sowie der kompromisslos chromatischen Melodieführung. Denn im Vergleich zum Lied von Liszt – der übrigens von der engen Verwandtschaft seiner Harmonik mit jener Wagners wusste und später sogar (allerdings aus anderen Gründen) dessen Schwiegervater wurde – weist Wagners Akkord eine wesentliche – geniale – Veränderung auf: Liszts D wurde bei Wagner zum bereits erwähnten Dis. Diese vermeintlich kleine Abweichung ist aber essenziell für die ganze Phrase, da so die fallende Melodielinie von Ton 2 (F) und 3 (E) perfekt chromatisch zum Dis im „Tristan-Akkord“ führt, während zeitgleich mit dem Ende der einen chromatischen Linie, im selben Akkord einige Töne höher im Gis eine neue beginnt. Ein Sehnen wird quasi von einem anderen unmittelbar abgelöst: Die spannungsvolle Reibung in der horizontalen Melodieführung wird also nicht aufgehoben, sie wird – im Gegenteil – nahtlos fortgesetzt, was später als „Unendliche Melodie“ – ein unerlöst dissonantes musikalisches Fortstreben ohne scharfe Zäsuren oder konkretes Ziel – bezeichnet wird und mit klassischer Melodiebildung nicht mehr viel zu tun hat. Doch damit nicht genug: Die im „Tristan-Akkord“ am höchsten Ton neueinsetzende chromatische Melodie ist diesmal eine aufsteigende, welche vier Töne (Gis – A – Ais – H) umfasst, allerdings zu keiner Auflösung des „Tristan-Akkordes“ führt, sondern diesen vielmehr als Auftakt einer instabilen Harmoniesequenz nimmt, der am dritten Ton (Ais) ein weiterer unaufgelöster Akkord folgt, worauf am vierten Ton (H) der Melodielinie der Beginn des Vorspiels, dessen Dissonanzen weder horizontal noch vertikal befriedet werden, einfach im Nichts verklingt. Dieser Beginn, dessen Noten oben dargestellt ist, gilt als Sinnbild des vergeblichen Strebens nach Befriedigung und wird als „Sehnsuchtsmotiv“ in die Geschichte eingehen. 

Doch damit nicht genug: Wagner wiederholt – und spätestens hier geht er an Radikalität weit über Liszt hinaus – eben diese Phrase zwei weitere Male auf immer höheren Tonstufen, um die Vergeblichkeit des Versuches und die immer eindringlicher werdende Intensität des Verlangens deutlich zu machen. Zusätzlich sind diese wiederholten Phrasen auch abseits der Tonhöhe nicht ident, sondern unterscheiden sich geringfügig, sodass ihrer Unregelmäßigkeit ein sich ständig unterschwellig, unbewusst veränderndes Begehren innewohnt, das die Spannung ins fast Unerträgliche steigert, sodass man eine klärende Entladung herbeisehnt. Besonders deutlich wird dies in der Fortführung der zweiten Wiederholung der Phrase, die nach einigen fragmentarischen Melodiefetzen zu einer gewaltigen dissonanten Klangballung (ab 1:32 der Hörprobe des Vorspiels) führt, die aber nicht die erlösende Entladung der aufgestauten Spannung ist, sondern harmonisch – ebenso wie alle anderen Akkorde – völlig unaufgelöst bleibt und einfach einen neuen musikalischen Gedanken voller Dissonanzen – als Ausgangspunkt von neuem Verlangen – entstehen lässt. Die Klangballung wird oft als „Liebesentflammen“ bezeichnet, worauf sich das eigentliche „Liebesmotiv“ oder auch „Liebesblickmotiv“ entspinnt, das die Idee der ersten Töne des Vorspiels (wo ein „Ich“ ein „Du“ erblickt und das Sehnen beginnt) breiteren Raum zum Entfalten lässt (ab 1:42 der Hörprobe des Vorspiels). Umfasste das „crescendo“ der ersten Takte nur wenige Noten zum „Tristan-Akkord“ hin, so wird die Musik des restlichen Vorspiels die genannten Motive miteinander verweben und sich aufgrund der immer vehementer drängenden Leidenschaft zu immer wilderen, immer heftigeren Wogen – als erführe alles ein einziges universal anschwellendes „crescendo“ – aufschaukeln, was schließlich zu einem musikalischen Höhepunkt der sinnlichen Ekstase führt, wie es ihn zuvor in der Musikgeschichte noch nicht gegeben hat, und der letztendlich doch keine Befriedigung bringt und das Sehnen ungebrochen weitergehen muss, schließlich hat das Musikdrama ja gerade erst begonnen. 

Denn wohlgemerkt: Wie drängend und spannungsgeladen die Musik auch wird, die letzte endgültige Befriedigung bleibt ihr bis zum Schluss verwehrt. Die Chromatik und die unaufgelösten Harmonien sind nicht nur Teil eines originellen Vorspiels, sondern konstitutives Wesenselement des gesamten Musikdramas und unterschwellig – sobald es um die Seelenzustände der nach Vereinigung strebenden Liebenden geht – immer präsent. Wagners Revolution in den ersten Takten des Vorspiels dauert letztendlich das gesamte Werk lang – immerhin rund vier Stunden – an und etabliert eine neue Art von Musik, die das künftige Ausdrucksspektrum immens erweitern (und letztendlich auch zur endgültigen Überwindung der Tonalität im frühen 20. Jahrhundert führen) wird. Chromatik und unaufgelöste Harmonien durchdringen also die Partitur von „Tristan und Isolde“ von Anfang bis Ende. Erst ganz am Schluss des Werks, in den letzten Takten von Isoldes „Verklärung“ (die irreführende Bezeichnung „Liebestod“ stammt nicht von Wagner) erklingt noch einmal abschließend der „Tristan-Akkord“ mit der von ihm ausgehenden chromatisch aufsteigenden Melodie (ab 6:41), bevor die dort zugrundeliegenden Dissonanzen endlich ihre langersehnte Auflösung – gemäß der klassischen Harmonielehre, der sich Wagner bis zu dieser Stelle hartnäckig widersetzt hat – in strahlendem H-Dur erfahren und mit ihnen auch die Sehnsucht erlischt, als wäre die Trennung von „Ich“ und „Du“ endlich überwunden und im ersehnten „Wir“ aufgegangen. 






2 Kommentare:

  1. Lieber Lukas,
    Zutiefst ergriffen von deinen Erläuterungen zum Tristan Akkord und die Sehnsucht zu Vollkommenheit und einem Wir, den wir Menschen uns zum Glücke wünschen, möchte ich dir gratulieren. Weiterhin viel Inspiration und Schaffenskraft, in lieber Freundschaft, lukas

    AntwortenLöschen
  2. Welch interessante Querverbindungen! Toll aufbereitet!

    AntwortenLöschen