Donnerstag, 20. Oktober 2022

"Johannes Brahms - Über Anmut und Würde"

 
 
-----------------------------------------     Im Gedenken an Lars Vogt (1970-2022)      ---------------------------------------- 


Im Herbst des Jahres 1853 kam es in Düsseldorf zu einer für die Musikgeschichte durchaus bedeutenden Begegnung: Der kaum 20-jährige Johannes Brahms (1833-1897) lernte Robert Schumann (1810-1856) kennen. Das Verhältnis war nicht nur vom Respekt des Jüngeren gegenüber dem Älteren geprägt, sondern wurde auch von Schumanns Überzeugung getragen, in Brahms den führenden Komponisten der anbrechenden Zeit erkannt zu haben. Er sollte Recht behalten.


So tat Robert Schumann im Oktober 1853 seine Meinung zu Johannes Brahms in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Neue Bahnen“ auch öffentlich kund, indem er überschwänglich schrieb: 

„Ich dachte, [...] es würde und müsse [...] einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms. [...] Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde […] – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form […]“ 

Zu jener Zeit konnte Brahms bereits zwei abgeschlossene Klaviersonaten sowie ein eigenständiges Scherzo vorweisen und arbeitete gerade an seinem bis dato bedeutendsten Werk, der dritten Klaviersonate (später veröffentlicht als op.5), von der bereits zwei Sätze vollendet waren. Da es sich hierbei um seine bislang reifsten Schöpfungen handelte, lag es nahe, auch diese dem älteren Meister vorzuführen, um ihn von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Es waren wohl nicht zuletzt diese beiden Sätze, die Schumann mit den Worten „verschleierte Symphonien“, „Poesie“, „dämonisch“ und „von der anmuthigsten Form“ bedachte. Lassen sich die ersteren Begriffe durch den romantischen Sprachgebrach erklären, um lyrische Ausdruckskraft zu beschreiben, die eine tiefgreifend emotionale Wirkung zu entfachen vermag, so kann bei dem Verweis auf Anmut durchaus die hohe Weimarer Klassik bemüht werden, die schon versucht hat, diesen Begriff zu ergründen: 
 

Schließlich war es kein Geringerer als der große Dichter und Dramatiker Friedrich Schiller (1759-1805), der sich in ernstem philosophischen Bemühen mit Begriffen wie Schönheit, Anmut und Würde auseinandersetzte. Nach Schiller ist Schönheit eine durch sich selbst gebändigte Kraft, in der zwanglos Harmonie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit bestehen kann und als Freiheit in der Erscheinung zu Tage tritt. Freiheit und Schönheit bedingen also einander. Eine Form der Schönheit ist die Anmut, welche nicht von Natur gegeben, sondern vom Subjekt selbst hervorgebracht wird. Anmut ist für Schiller demnach Ausdruck einer schönen Seele, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren. Und nur im Dienste dieser könne die Natur Freiheit besitzen und zugleich ihre Form bewahren. Weiters sieht die Vernunft in der Anmut ihre Forderung in der Sinnlichkeit erfüllt und eine ihrer Ideen tritt ihr in der Erscheinung entgegen, die Wohlgefallen auslöst, den Geist zu beleben vermag und eine Anziehung des sinnlichen Objekts zur Folge hat, die Schiller Liebe nennt. Im höchsten Grad der Anmut liegt gar die Möglichkeit, sich selbst zu verlieren und in den Gegenstand hinüberzufließen. Demnach grenzt der höchste Genuss der Freiheit an den völligen Verlust derselben. – Schiller wird später auf dieser Überlegung eine Idee begründen, welche die Wirkung der Schönheit echter Kunst auf das erkennende Subjekt zu beschreiben versucht, indem diese im Subjekt gegensätzliche Kräfte wie jene der Natur beim Empfinden sowie jene der Vernunft beim Denken aufzuheben vermag, das Gemüt von inneren Zwängen physischer wie moralischer Nötigung erlöst und den Menschen in einen Zustand der freien Bestimmbarkeit versetzt, den sogenannten „ästhetischen Zustand“. Dieser Zustand ist laut Schiller jener, der den Menschen über die Natur erhebt und ihm zweckungebunden - denn nichts anders ist die Kunst - die Würde der persönlichen Freiheit zum Gestalten schenkt. Demnach wird der Übergang vom Empfinden zum Denken, vom rein physischen zum moralischen Zustand durch die Erfahrung des Schönen vermittelt, die Kontemplation bewirkt und das Schöne für das Subjekt Gegenstand und Zustand zugleich werden lässt: Gegenstand, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der das Subjekt eine Empfindung von ihr hat; Zustand, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der das Subjekt eine Vorstellung von ihr hat. So ist das Schöne nicht nur Form, die betrachtet wird, sondern auch Leben, indem das Subjekt sie fühlt, da die Reflexion so vollkommen mit dem Gefühl zerfließt, dass die Form unmittelbar empfindbar wird. 

Möglicherweise dachte Schumann an Ähnliches, als er die Klavierstücke des jungen Brahms „von der anmuthigsten Form“ bezeichnete. Jedenfalls gelang Brahms anhand seiner Klaviersonaten in gewisser Weise das, was Schiller einer „schönen Seele“ zugeschrieben hatte: Sie besitzen Freiheit und bewahren gleichzeitig die Form. Oder anders formuliert: Brahms nutzte die Gattung der damals schon etwas aus der Mode gekommenen klassischen Klaviersonate und füllte sie mit überbordendem Ideenreichtum romantisch-subjektiver Ausdruckskraft, die wiederum ganz im Zeichen der zeitgemäßen Klangsphäre tiefer Verinnerlichung stand. Der ungezügelte Quell jugendlicher Inspiration wurde also durch klassische Form gebändigt und in übergeordneter Struktur verewigt, sodass Sinnlichkeit wie Vernunft gleichermaßen auf höchst ästhetische Weise Genüge getan wurde und eine souveräne Versöhnung zweier Epochen - der Klassik und der Romantik - in der Komposition eines jungen Genies gelang. Schumann erkannte und benannte dies mit verheißungsvollen Worten. Und Brahms wurde diesen gerecht. 

Doch gehen wir einen Schritt zurück und betrachten jene Sätze der noch unfertigen Klaviersonate, die Brahms bei der Begegnung bereits abgeschlossen hatte und die auf Schumann wohl den unmittelbarsten und reifsten Eindruck machen mussten. Da war zunächst das „Andante espressivo“, das Brahms bei der späteren Veröffentlichung mit Versen versah, welche die poetische Stimmung eines Nachtgemäldes heraufbeschwören und die Musik in die Nähe von Tonmalerei rückt: 

„Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint 
da sind zwei Herzen in Liebe vereint 
und halten sich selig umfangen“ 

Diese Zeilen - wem auch immer sie zugedacht waren - sollen aber nicht von der Tatsache ablenken, um was für großartige Musik es sich hierbei handelt: Es handelt sich um ein Nachtstück (Nocturne), das aus der Welt des deutschen Volksliedes stammt, tief romantische Innenwelten offenbart und gleichzeitig impressionistische Klangwirkungen vorwegnimmt. Strukturell betrachtet liegt eine einfache Liedform vor, die sich grob in die Teile A – B – A mit abschließender Coda einteilen lässt und einige von Brahms‘ schönsten Eingebungen besitzt. Teil A beginnt mit einer fallenden Melodielinie, die vom steten Pulsieren des Basses begleitet wird. Ob hier die „zwei Herzen in Liebe vereint“ schlagen, ist nebensächlich, denn der junge Brahms gelangt zu einer perfekten Symbiose aus fragiler Klangschönheit und souveräner Ausdrucksstärke von atemberaubender Intensität. Klar und unsentimental werden Innenwelten in Musik gewandelt, die zuvor noch nie erschlossen wurden. Teil B (ab 2:25) spinnt diese Atmosphäre mit zart hymnischen Anklängen fort, bis es zu einer noch tieferen Verinnerlichung kommt (ab 3:10), die einer kontemplativen Einkehr gleicht, wo Zeit stillzustehen scheint und in die dunklen Urgründe einer metaphysischen Klangwelt vorgedrungen wird, die in aller Einfachheit das Signum der Vollendung trägt. Was der tiefen Innerlichkeit folgt ist erlösender Aufschwung, staunende Rückkehr in die Welt, so unmittelbar wie ergreifend, ohne je in den Verdacht von Gefühlsseligkeit zu geraten. Und doch ist es das Gefühl, das sich hier Bahn bricht und das evozierte Tongemälde zu vervollständigen sucht: Als würde jemand in tiefer Nacht sich in einer Wasseroberfläche betrachten und plötzlich im dunklen Nass auch die sich spiegelnden Sterne (oder - um bei den Versen zu bleiben - den Mond) erkennen. Jedenfalls scheint eine gewisse Katharsis erreicht, die von den musikalischen Läufen erhebend getragen wird. Nach erneuter Versenkung mitsamt Aufschwung kehrt Teil A wieder, bevor der Satz in eine umfangreiche Coda, dem Schlussteil, mündet (ab 7:51), die mit den Worten „Steh‘ ich in tiefer Mitternacht“ überschrieben ist und wie eine Meditation über das Erlebte beginnt, die sich aber bald in wilden, sich selbst überhöhenden Ausbrüchen verklärend zu gebärden weiß, bevor der Satz still mit der wiedergefundenen Innerlichkeit der fallenden Melodielinie des A-Teils - allerdings nun mit veränderter Tonart als Zeichen der Metamorphose eines durchlebten Prozesses - wie ein sanftes Wiegenlied für ein einschlummerndes Kind „anmuthig“ ausklingt. 




Es ist schier unglaublich, welche Tiefe und Vielfalt an Ausdruck den jungen Brahms bereits damals zur Verfügung gestanden sind. Doch bei Betrachtung des weiteren Sonatensatzes, der bei der Begegnung mit Schumann bereits abgeschlossen war, wird diese Bandbreite noch weiter, da hier mit demselben Themenmaterial des A-Teiles des Andantes ganz neue Klangsphären erschaffen werden, als wollten sie das dunkle Gegenstück des vorherigen Satzes sein. Diesmal sind es abgründige, trostlose, finstere Klänge, denen der von Schumann gebrauchte Begriff „dämonisch“ durchaus gerecht wird. Es handelt sich um ein Intermezzo, ein Zwischenstück, das Brahms als „Rückblick“ betitelt hat, wodurch der Bezug auf die Atmosphäre des Andantes unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit hergestellt wird. Dieser Rückblick ist aber kein sentimental verklärender, sondern ein ernüchtert bilanzierender: Jeder romantische Gefühlsausdruck, jeder schwärmerische Melodienreichtum wird unterbunden. Was bleibt sind karge, kalte, trostlose Klänge, als wollten sie eine triste Wirklichkeit beschreiben, der Träume und Hoffnungen abhandengekommen und nur noch Enttäuschung und Leere verblieben sind. Der Blick zurück wird zum Abgesang, empfindsame Innerlichkeit weicht bitterer Resignation. Die zarte Dur-Melodie zu „zwei Herzen in Liebe vereint“ wird zu einem finsteren, verfremdeten Moll-Dokument der Entsagung, der Entrückung, der Einsamkeit. Entsprechend gleicht der Rhythmus einem Trauermarsch, der von dumpfem Trommelwirbel, der an Beethovens Schicksalsmotiv gemahnt, schneidend dissonanten Schlägen und gegengesetzten Bewegungsmuster begleitet und so zu einem erschütternden Bekenntniswerk eines erst 20-Jährigen wird, der schon am Beginn seiner Künstlerlaufbahn, die tiefen Abgründe seelischer Zerrüttung kennt und auszudrücken weiß. 




Allein der Kontrast dieser beiden Sätze lässt erahnen, weshalb Schumann in dem jungen Mann nicht nur ein großes Talent, sondern womöglich den führenden Komponisten der nächsten Generation erkannt zu haben glaubte. Diese stille Ahnung hat sich für die Nachwelt bewahrheitet, da Brahms - wie wir heute wissen - längst zu den größten Namen der Musikgeschichte gehört. Allerdings konnte Schumann die Laufbahn und Entwicklung seines Schützlings nicht sehr lange mitverfolgen: Wenige Monate nach der ersten Begegnung unternahm Schumann einen gescheiterten Selbstmordversuch und starb wenige Jahre darauf in einer Nervenheilanstalt. Brahms hingegen wandte sich nach Vollendung der dritten Klaviersonate von der Gattung ab. Er wird sein Leben lang keine weitere schaffen, wodurch op.5 als sein ultimativer Beitrag zu dieser klassischen Form anzusehen ist. Und auch der Schöpfung größerer Werkgruppen für Soloklavier sollte sich Brahms erst gegen Ende seines Lebens, fast 40 Jahre nach der Begegnung mit Robert Schumann in den frühen 1890ern wieder widmen. Dann freilich als reifer Meister, der tatsächlich „Rückblick“ betreibt und einige seiner schönsten Perlen in Form von Intermezzi - sein erstes war jenes mit dem Titel „Rückblick“ der dritten Sonate - Ausdruck verleiht. In diesen späten Stücken kulminiert Brahms’ Lebenswerk in stillen Bekenntnissen höchster Intimität. Es sind stille Gebete, die keine Religion mehr brauchen. Einkehr, ohne Zeremoniell. Und weil sie einen Glanz in sich tragen, ohne je glänzen zu wollen, bringen gerade sie den Begriff der Anmut am wunderbarsten zum Klingen, während sie dem geneigten Publikum Würde verleihen. 




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