Freitag, 1. August 2014

Beethovens 'Boogie-Woogie' - Eine Vision macht Epoche


Ludwig von Beethoven (1770-1827) war ein Visionär wie er im Buche steht: Sein bahnbrechendes Werk bedeutete einen Umbruch in der Musikgeschichte. Mit seinem Schaffen endete unwiederbringlich die Wiener Klassik und gedieh die Romantik zu ihrem ersten frühen Höhepunkt. Kein Komponist der nachfolgenden Generation konnte Beethoven und dessen Errungenschaften mehr leugnen. So ziemlich jede Musikgattung (sei es die Klaviersonate, die Symphonie, das Streichquartett, die deutsche Nationaloper, ...) erfuhr durch Beethoven entscheidende Impulse und Weiterentwicklungen mit denen sich die kommenden Komponisten konfrontieren und (oft sehr zu deren Leidwesen) auch messen mussten.

Doch Beethoven gelang noch mehr!

Ihm gelang ein visionäres Meisterstück, das womöglich einzigartig in der Musikgeschichte war: Er entdeckte Tonsprachen, die nicht direkt von den nachfolgenden Generationen seiner Komponistenkollegen aufgegriffen und weitergeführt wurden, sondern erst im frühen 20. Jahrhundert (mehr als 70 Jahre nach Beethovens Tod) von einer aufkommenden Musikströmung eines anderen Kontinents gedeutet werden konnten. Es handelte sich um die afroamerikanischen Musikstile "Ragtime" und "Boogie-Woogie".


Das Auffinden von Klangbeispielen in Beethovens Werk, welche diese beiden Stile andeuten, soll Aufgabe dieses Artikels sein. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass beide Stile wohl unabhängig von Beethoven entstanden sind und Beethoven nicht als deren Begründer gesehen werden kann. Dennoch werden wir sehen, dass Beethoven nicht nur ein Visionär war, der das Tor zur Romantik aufgestoßen hatte, sondern auch jemand, dessen Instinkt den Elfenbeinturm der Klassik zu sprengen vermochte.

Nach diesen einleitenden Worten wollen wir auch Taten sehen! Um uns in die Musikwelt Amerikas des frühen 20. Jahrhunderts einzufühlen, beginnen wir mit einem der bekanntesten "Ragtime"-Stücke aller Zeiten. Es handelt sich um "The Entertainer" von Scott Joplin (1867-1917) aus dem Jahre 1902:



Das Wort "Ragtime" bedeutet so viel wie "zerrissene Zeit" und anhand des Hörbeispiels sind dessen Charakteristika zu erkennen: Eine sehr eigene, rhythmische Betonung der Melodie gepaart mit einer springenden (ebenfalls sehr rhythmisierten) Basslinie.  

Doch nun zu Beethovens Schaffen!

Es begann alles im Frühwerk vor 1800...

Um in Beethovens möglichen "Ragtime"-Kosmos langsam einzutauchen, beginnen wir mit einem Klavierwerk, das er 1795-1798 komponierte und den Namen "Wut über den verlorenen Groschen" erhielt. Es ist ein furioses Rondo, das viele unterschiedliche Ebenen des Ausdrucks durchläuft und mir persönlich sehr modern scheint. Es entscheide jeder selbst, wann und wo Beethovens Musik hier schon etwas aus dem Kosmos der Klassik herausragt. Möglicherweise finden wir in Minute 5:00-5:12 erste Spuren eines "Ragtimes":



Etwas deutlicher wird es schon im dritten Satz des 1795-1801 entstandenen 1.Klavierkonzerts in C-Dur (op.15). Auch hier handelt es sich um ein furioses Rondo, wo das Klavier von Minute 2:51 bis 3:39 der Hörprobe fast einen lupenreinen "Ragtime" zum Besten gibt:



Cool, oder?

Doch alles gipfelte in seinem Spätwerk in den wilden 1820ern...

Wenn man so will, war das eben Gehörte nur ein Vorgeplänkel für Beethovens eigentliche visionäre Ader was künftige Tonsprachen betrifft. Diese entfaltete sich erst in seinem Spätwerk unter persönlicher Isolation und Taubheit. - Blindheit distanziert von den Dingen, Taubheit von den Menschen. - Vielleicht war auch das der Grund, warum Beethovens musikalische Radikalität und kompositorische Kompromisslosigkeit zu jener Zeit neue Dimensionen annahmen, die den bisherigen Klangkosmos sprengten, um einen neuen zu erobern.

Den Anfang macht der Finalsatz von Beethovens letzter Klaviersonate in c-Moll (op.111) aus dem Jahre 1822, wo ein Thema fünf Variationen durchläuft. Vielfach ist dieser jenseitige Variationssatz schon gedeutet und mystifiziert worden. Die einen sagen, er erzeuge "eine ätherische Atmosphäre, als hätte die Musik ein verklärtes Reich betreten." (Kinderman) Andere sprechen davon „als abschließendes Bekenntnis seiner [Beethovens] Sonaten und als ein Präludium des Verstummens." (Brendel)

Doch wir begnügen uns damit, dem wunderschönen transzendentalen Hauptthema (0:00 - 2:04) zu lauschen und bei Variation Nummer 2 (3:44 - 5:24) und 3 (5:24 - 7:16) besonders genau hinzuhören. Bereits die 2. Variation birgt schon einen Keim 20. Jahrhundert in sich, da die Verkürzungen der Notenwerte fast wie "Blue Notes" wirken. Richtig ins Volle geht Beethoven aber erst bei der 3. Variation: Der große Komponist Igor Strawinsky (1882-1971) und die Star-Pianistin Mitsuko Uchida (*1948) sprachen hier vom ersten "Boogie-Woogie" der Musikgeschichte und verwiesen auch auf die Nähe zum "Ragtime". Auch der große Musikkritiker Joachim Kaiser (*1928) stimmte auf meiner schriftlichen Nachfrage im Rahmen seiner ehemaligen Kolumne "Kaisers Klassik-Kunde" der "Boogie-Woogie"-These zu. Der amerikanische Pianist Jeremy Denk (*1970) ging sogar so weit, die Variationsreihe dieses Satzes als "Proto-Jazz" zu bezeichnen.

Wie auch immer man diesen Satz bezeichnen möchte, er sprengt die klassische Form und stößt das Tor zum 20. Jahrhundert erstaunlich weit auf:




Doch das ist nicht das einzige Beispiel für Beethovens "Boogie-Laune". Er ließ es sich auch in seinem letzten großen Klavierwerk, den Diabelli-Variationen (op.120) aus dem Jahre 1823, nicht nehmen, eine Variation dieser visionären Rhythmik zu widmen:




Doch auch in seinem allerletzten Klavierwerk, der Bagatellen-Sammlung (op.126) aus dem Jahre 1825, kann man ganz moderne Anklänge erkennen: Die 4. Bagatelle "swingt" nämlich! Der geniale kanadische Pianist Glenn Gould (1932-1982) brachte dies besonders meisterhaft zum Ausdruck. Man führe sich dieses Meisterwerk des alten Beethovens zu Gemüte und achte besonders auf "swingende" Momente wie in Minute 0:22-0:30, welche im Lauf des Stückes immer wiederkehren:



So frisch und jugendlich kann Musik aus den wilden 1820ern sein ...

Chuck Berry (1926-2017), der Pionier des Rock'n'Rolls, versuchte in seinem Song "Roll Over Beethoven" die traumatische Erfahrung seines klassischen Klavierunterrichtes zu verarbeiten. Er bezeichnet Beethoven als überholt und pries den Rock'n'Roll. Würde Berry jedoch diesen Artikel lesen, so würde er Beethoven wohl als jenen erkennen, der er wirklich war: Er war kein Gegner des Fortschritts, der über seinen Tellerrand nicht hinausblicken konnte. Beethoven war vielmehr ein geistig Verbündeter, der nie müde wurde, modernen Bewegungen aufgeschlossen gegenüberzustehen, sie mitzugestalten und manchmal sogar vorwegzunehmen!

Beethoven sollte uns vor allem als Wegbereiter und Visionär in Erinnerung bleiben, als jener moderne Komponist, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen ...

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