Samstag, 1. Januar 2022

"Mozart und Schubert - Echo verwandter Geister"

 

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91) war einer der größten Komponisten der Musikgeschichte. Soweit, so bekannt. Weniger bekannt ist, dass einige seiner größten Meisterwerke nie allgemeine Wertschätzung erfahren haben. Sie schlummern - auch heute noch - als unentdeckte Perlen im umfangreichen Werkkörper des zu kurzen Lebens und warten geduldig auf Würdigung. Zum Glück gab es aber in der Vergangenheit immer wieder Eingeweihte, die deren Wert erkannten, sodass der Perlen Saat auch in nachfolgenden Epochen Früchte tragen konnte. Einer dieser Eingeweihten war Franz Schubert (1797-1828), der in seiner größten – vollendeten – Symphonie an eines von Mozarts verkannten Meisterwerken erinnerte und sich vor diesem verneigte.

 



Die Liste von Mozarts Werken, die eine höhere Aufmerksamkeit verdienten, ist lang: Während seine sechs Haydn-Quartette zurecht hochgelobt werden, scheinen seine mindestens ebenso genialen Streichquintette KV 515 und 516 oder sein spätes Streichtrio KV 563 nahezu vergessen; während immer wieder über die raunende Todesnähe seiner späten Symphonien gegrübelt wird, findet die trostreiche Unerbittlichkeit seiner abgründigen „Maurerischen Trauermusik“ KV 477 kaum Erwähnung; und während viele dem süßen Klang seiner frühen Violinkonzerte nachhängen, gemahnt niemand an die tiefsinnige, ergreifende Sinfonia concertante für Violine und Viola KV 364 oder die transzendentale Dimension seiner späten Violinsonaten

Um ein Herzstück einer Vertreterin der letztgenannten Gattung, soll es hier gehen: Das Adagio der Violinsonate in Es-Dur KV 481. Dieser Satz beginnt mit liebevoll verspielter Zurückhaltung, deren melodiöser Charme sogleich in ihren Bann zu ziehen weiß. Doch dabei bleibt es nicht, ab 2:25 eröffnet Mozart eine neue Dimension, indem er ein nachdenkliches, wehmütig klagendes Moll-Thema einführt, das dem Werk dunkle Klangfarben und zusätzliche Tiefe verleiht. Dieses Thema durchschreitet mehrere Tonarten und ist einigen Verwandlungen unterworfen, bis 3:45 im helleren Dur das einleitende Thema erneut erscheint. Bis hierhin wäre das Werk eine wunderschöne, vielseitige Schöpfung aus bestem Mozart’schen Geiste. Doch damit gab sich der Meister nicht zufrieden und machte das bezaubernde Klangerlebnis zur metaphysischen Erfahrung, indem er 4:18 ein weiteres Thema (III) einführt, in welchem die Violine zum elegischen Gesang anhebt, um uns in neue Sphären zu entführen und dabei immer fernerliegende Tonarten zu durchstreifen. - Fast ist man verleitet, hierfür Beethovens Bezeichnung „Heiliger Dankgesang“ zu verwenden. - Die ästhetische Kraft dieser transzendentalen Erfahrung ist unglaublich intensiv und wirkt im hörenden Betrachter nach. Selbst die Wiederkehr des einleitenden Themas (5:44) steht unter einem veränderten Vorzeichen und hat an emotionaler Ausdrucksvielfalt und Tiefenwirkung gewonnen, bevor die Violine 7:55 noch einmal zu ihrem Gesang anhebt, an ferne metaphysische Regionen gemahnt und kurz darauf zu einem schlichten Ende führt, das mit dem Beginn des Satzes im Einklang steht und uns als Bereicherte zurücklässt.  

 



Was hat das mit Franz Schubert zu tun? Nun, zunächst muss erwähnt werden, dass Franz Schubert ein Genie war, das radikal Neues mit Tradition zu verbinden wusste und dies auch mit Referenzen zu alten Meistern zu erkennen gab. Ein Beispiel hierfür ist der zweite Satz seiner letzten vollendeten Symphonie D 944 mit der Tempovorschrift „Andante con moto“. In dieser Bezeichnung liegt bereits etwas motorisch Getriebenes zugrunde, ein marschartiges, volksliedhaftes Voranschreiten, dessen Form im Strukturverlauf des Satzes sich mit klassischen Modellen kaum mehr fassen lässt. Als Sonatenhauptsatzform ohne Durchführung wurde diese Aneinanderreihung von festgeformten, einer steten Bewegung unterworfenen Themenkomplexen bezeichnet. Und tatsächlich lässt sich die Satzstruktur grob im Schema A-B-A’-B-Coda abbilden, allerdings mit dem radikalen Zusatz, dass die scheinbar abgegrenzten Einheiten durch subtile innere Entwicklungsprozesse aufeinander bezogen bleiben und diese über alle Zäsuren - auch vermeintlicher Zusammenbrüche - hinweg das Satzgeschehen bestimmen. Entsprechend Schuberts radikaler Gestaltungsidee wird somit das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, die den gesamten Satzverlauf über einen stets fließenden Prozess durchleben. Der vielfach als konservativ betitelte Schubert entpuppt sich hier also als kompromissloser, zukunftsweisender Visionär, der aus seiner in sich gekehrten Suche nach neuen, subjektiven Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten tatsächlich neue Wege entdeckt hat. 
 
Was hat das nun mit Mozart zu tun? Nun, zunächst lässt sich auch die Struktur des „Adagios“ von Mozarts Violinsonate in kein klassisches Formmodell zwängen und auch hier strahlen die einzelnen Themenkomplexe in die jeweils anderen - sei es als dramaturgische Intensivierung oder als fernes, erinnerndes Echo - aus. Doch betrachten wir nun die einzelnen Themenkomplexe von Schuberts „Andante con moto“ seiner letzten vollendeten Symphonie näher: Der erste Themenkomplex A (bis 3:08) lässt sich erneut unterteilen in a-b-a’-b-a’ und ist von Anfang an vom marschartigen Rhythmus eines tänzerisch-schreitenden Themas herzschlagartig durchpulst. Selbst lyrische Abschweifungen (die Abschlüsse der a- bzw. a’-Teile ab 0:55, 1:53 und 2:55), in denen der Puls weniger präsent erscheint, werden rasch von einem plötzlich hereinbrechenden Tuttischlag im fortissimo beendet (Beginn des Abschnitts b) und die streng durchpulste Rhythmik dominiert darauf das Geschehen erneut als treibende Kraft, der immer mächtigere Steigerungswellen folgen, bis das reicher umspielte Hautthema in den a’-Teilen unverwüstlich wiederkehrt und unermüdlich weiterschreitet. 
 
Nach einer kurzen Überleitung wird ab 3:18 eine neue Welt, eine neue Klangsphäre erschlossen: Es ist der Beginn des Themenkomplexes B, der über einem feingliedrigen Duktus einen elegischen, fast choralartigen Gesang der Streicher entspinnt: vollblütig, lyrisch und doch dem Erdboden längst enthoben. Auch hier könnte man Beethovens Bezeichnung „Heiliger Dankgesang“ verwenden, wäre man nicht sicher, schönsten Schubert zu vernehmen. Gewiss, es ist ohne Zweifel schönster Schubert in seiner ureigenen metaphysischen Gestaltungskraft, der den fallenden Streicherklang als melodisch anhebenden Gesang zelebriert, von unterschiedlichen Instrumentengruppen aufgreifen lässt und thematisch weiterführt. Und doch ist diese melodische Figur mehr als eine glückliche Schöpfung aus Schuberts Geiste, es ist gleichzeitig eine respektvolle Referenz an Mozart selbst, ein fernes Echo einer seiner lyrischsten Geisteskinder, deren Genialität Schubert erkannt und der Ästhetik seiner Klänge eingeschrieben hat. Mozarts Thema III der Violinsonate wird in jenem Abschnitt B von Schuberts Symphonie aufgegriffen, verarbeitet und zu einer neuen Stufe des Ausdrucks, zu einer neuen Stufe der Transzendenz im Mantel einer frühromantischen Klangsprache übergeführt. Mozarts Idee spiegelt sich in Schuberts Konzept, wird diesem einverleibt und zu etwas Neuem verwandelt. - So werden wir unvermutet Zeugen einer Zwiesprache, deren Echo bis heute anhält...  

 

 
 
 
 
 
 
 
 

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