Montag, 11. Februar 2019

"Arnold Schönberg - Der Unüberschätzte II"


Würde man für den Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951) einen Beinamen suchen, so wäre ‚Der Unüberschätzte‘ keine schlechte Wahl. Der Grund hierfür ist nicht nur, dass sein bahnbrechendes Werk kaum Einzug in die Konzertsäle gehalten hat, sondern der Name ‚Schönberg‘ oft mit Dissonanzen und unzugänglicher Komplexität verbunden wird. Die Reserviertheit des Publikums ist interessant, da Schönberg sich zeitlebens als logische Fortführung der musikgeschichtlichen Entwicklung empfunden und sich der Tradition verpflichtet gefühlt hat. Unabhängig davon ist das Frühwerk Schönbergs zur Gänze der Spätromantik verschrieben und schenkt dieser auslaufenden Epoche letzte abschließende Meisterwerke, bevor ein neuer Weg gefunden und selbstbewusst beschritten wurde.


Diesen Weg gilt es nun nachzuzeichnen, um das Verständnis für einen der größten Komponisten der Musikgeschichte zu erhöhen und bestehende Vorurteile abzubauen. Dies soll in drei Artikel geschehen, welche sich je einer Schaffensphase widmen, in die Schönbergs Werk grob gegliedert werden kann: der Spätromantik, der freien Atonalität und letztlich der Zwölftontechnik. Wir setzen im heutigen Beitrag, nachdem wir letztens das Frühwerk bereits kennenlernen durften, die Reise fort und widmen uns Schönbergs Weg in die tonal nicht mehr gebundene Welt. 


Wie wir im letzten Artikel hören durften, wurde Schönbergs neue Schaffensperiode mit dem Finale seines Streichquartettes op.10 eingeläutet, wo die bezeichnenden Worte „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ atonalen Klang fanden. Diese Worte sind Programm und finden im nächsten Werk, den Klavierstücken op.11, nur noch konsequentere Umsetzung. Diese Klavierstücke aus dem Jahre 1909 gehören zu den Meilensteinen der Musikgeschichte und markieren endgültig den Beginn eines neuen Zeitalters, zumindest in Schönbergs eigenem Schaffen. Sie zählen zu den ersten atonalen Werken überhaupt und „sie sind der Blitzschlag, der die angehäufte Spannung einer erstarrten Epoche zerreißt und den Weg ins Unbekannte, Unerhörte freigibt.“ (aus Reclams Klaviermusik-Führer 2)

Doch obgleich Schönberg hier einen neuen, ungebundenen Ausdruck absoluter Geltung voll expressiver Dichte und Dissonanz findet, lassen sich die Stücke mit einer musikalische Tradition in Verbindung bringen. Was die Form (drei selbstständigen Klavierstücken in einem Opus zusammengefasst) betrifft, so lässt sich dies bereits bei Franz Schubert (1797-1828) und Johannes Brahms (1833-1897) als Vorläufer beobachten. Gerade diese beiden Komponisten waren auch in weiterem Sinne mögliche Stammväter dieser radikal neuen Musiksprache, da Schubert in seinen ausdrucksstarken Dissonanzen bereits sehr zukunftsweisend vorgegangen war und da Brahms in seinen späten Intermezzi eine Klangwelt geschaffen hatte, die gerade in Schönbergs Verarbeitungstechnik Nachhall fand. Schönberg bezeichnete die von Brahms sehr intensiv verwendete Methode, ein Thema ständiger rhythmischer oder dynamischer Verwandlungen zu unterziehen, als „entwickelte Variation“. Diese soll für Schönbergs eigenes Schaffen durch alle Phasen hindurch maßgebend sein. Und hinsichtlich der Dissonanzen sei auf Schönbergs berühmte Aussage verwiesen: „Was die Dissonanz von der Konsonanz unterscheidet, ist nicht ein größeres oder geringeres Maß an Schönheit, sondern ein größeres oder geringeres Maß von Fasslichkeit … man behandle Dissonanz nur als Konsonanz höherer Ordnung“.

In diesem Sinne sollte es keinen Grund geben, sich Schönbergs epochemachendem Opus 11 mit mehr Scheu zu nähern als den späten Klavierstücken Schuberts oder den Intermezzi Brahms‘. Im Übrigen findet Schönberg in dieser neuen Musiksprache einen viel direkteren, schlankeren Zugang seinen Klängen Ausdruck zu verleihen als in seinen letzten spätromantischen Werken, welche bereits eine hochkomplexe, verworrene Struktur voll Manierismen aufgewiesen haben. Schönberg findet mit seinem Opus 11 zu einer neuen Einfachheit, deren intime Innerlichkeit und gleichzeitig hohe expressive Dichte ungeahnte Spannungen und abgründige Tiefen erzeugt. In diesem unbestimmten Zustand zwischen Traum und Wachen stellen sie in ihrer subjektiven Realität das erste Werk der Moderne dar.

Als Hörprobe soll das erste Klavierstück in der bahnbrechenden Interpretation des kanadischen Pianisten Glenn Gould (1932-1982) dienen, der nie müde wurde, die Gleichrangigkeit dieses Werkes mit den besten Intermezzi Brahms‘ zu betonen.



Im selben Jahr wie die Klavierstücke, 1909, setzte Schönberg seine neu gefundene Klangsprache auch für großes Orchester um und nennt das dabei entstandene Werk bezeichnenderweise fünf Orchesterstücke op.16. Schönberg gelang hier der nächste Meilenstein der Moderne voll transparenter Polyphonie und intensiver Klangfarben. Es ist ökonomisch und ausdrucksstark zugleich. Schönberg selbst meinte in einem Brief an Richard Strauss: „Ich verspreche mir allerdings kolossal viel davon, insbesondere Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein bunter, ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“

Anton Webern (1883-1945), Schönbergs Vertrauter und Schüler, ergänzte: „In den Orchesterstücken ist nicht die Spur irgendeiner überlieferten Form. Diese ist ganz ungebunden. Man könnte vielleicht von einer Prosa der Musik reden“.

Lassen wir uns zunächst von dem zweiten Orchesterstück in die ätherischen Sphären des ungebundenen, freien Raumes führen:



Das dritte Orchesterstück ist vermutlich das berühmteste Werk der atonalen Musik überhaupt. In diesem wird ein einziger 5-töniger Akkord in ständig neuer Färbung schwebend dargestellt. Dieser erlebt etwa 60 Verrückungen bis er schließlich wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgeführt wird. Schönberg erfindet hier das Komponieren mit farbintensiven Klangflächen, welches György Ligeti (1923-2006) ein halbes Jahrhundert später sehr erfolgreich weiterführen und durch Stanley Kubricks Meisterwerk „2001 – Odyssee im Weltraum“ im Jahre 1968 Einzug ins kollektive Gedächtnis finden wird.



Doch auch im vokalen Bereich gelang Schönberg Bahnbrechendes wie im Melodram „Pierrot lunaire“ op.21 für Sprechstimme und Kammerensemble aus dem Jahre 1912, das auf 21 Gedichte des belgischen Lyrikers Albert Giraud (1860-1929) zurückgeht. Wie der vokale Part die Gedichte vorzutragen habe, gab Schönberg genaue Anweisungen: „Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhe in eine Sprechmelodie umzuwandeln“. Das Sprache in Noten festgelegt wurde, Gesang dabei zu vermeiden war und alles im atonalen Raum zu geschehen hatte, bedeutete einen gänzlich neuen Zugang zu diesem Genre der Musik. (Einer der sich über dieses Werk überbordend positiv geäußert hat, war kein Geringerer als der spätromantische Opernmeister Giacomo Puccini (1858-1924). Auch wenn er die herrlichsten Gesangspartien im italienischen Opernfach komponierte, war er musikalischen Neuerungen stets aufgeschlossen.)

Von besonders eindrucksvollem, bedrohlichem Charakter ist das achte Stück des Melodrams mit dem schlichten Titel „Nacht“. Schönberg verwendet hier für eine apokalyptische Vision die barocke Variationsform der Passacaglia, welche auf einer festen Basslinie beruht. Das Thema, das dem barocken Satzcharakter entspricht, zerfällt allerdings im Laufe der zweiten und dritten Strophe. In diesen Strophen wird beschrieben, dass nach dem Auslöschen der Sonne Glanz, Ungetüme mit ihren schweren Schwingen sich auf der Menschenherzen niederlassen. Schönberg folgt dem musikalisch, sodass eine feste Ordnung in der dynamischen Progression des Werkes aus den Fugen gerät. Wenn man bedenkt, dass dieses Werk und mit ihm die Zerschlagung der tonalen Ordnung am Vorabend zu ersten Weltkrieg entstanden sind, so lässt die viel Raum für weitreichende Gedanken. Dem musikalischen Zusammenbruch der Ordnung wird wenige Jahre später der politisch-gesellschaftliche Folgen.



Nach diesem Werk und mit dem Beginn des ersten Weltkrieges verstummte Schönberg mit seinem Schaffen für fast zehn Jahre. Er war unzufrieden mit dem beschrittenen, atonalen Weg, der ihm noch nicht die Lösung seines Hauptproblem gebracht hat: „Es galt, einen Ersatz für die form- und zusammenhangsstiftenden Merkmale der Tonalität zu finden, die man mit ihrer Aufgabe zerstört hatte, ein Kompositionsprinzip, mit dem die richtungslose Struktur des atonalen Klangraumes logisch gliedert und im Werk zur Geltung gebracht werden konnte. Was nutzte es, sich die ungeheuren Möglichkeiten vor Augen zu führen, die sich allein in akkordischer Hinsicht durch die Loslösung vom Dur-Moll-tonalen Prinzip ergeben hatte, wenn ihre Anwendung keinem Gesetz und keiner Logik entsprach, wenn es beliebig war, aus welchen Tönen sich ein bestimmter Akkord zusammensetzte oder welchen Verlauf ein melodischer Bogen nahm?“ (Gervink, „Arnold Schönberg und seine Zeit“, 2018)

Anfang der 1920er Jahre wird sich Schönberg mit einer möglichen Lösung des Problems zurückmelden. Und er wird erneut Musikgeschichte schreiben ...




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