Mittwoch, 10. Mai 2017

"Der Muse Kuss - Leiden und Hoffen im Alter"



“O muse, o alto ingegno, or m’aiutate;
o mente che scrivesti ciò ch’io vidi,
qui si parrà la tua nobilitate.”
(Dante, Inferno, Canto II)

“O Musen, hohe Kunst, nun wollt mir helfen!
Gedächtnis, das geschrieben, was es schaute,
Hier soll sich deine Vornehmheit erweisen.“
(Übersetzung: Hermann Gmelin)

Alle großen Künstler, die im Begriff sind, Bedeutendes zu Papier zu bringen, hoffen insgeheim, diesem Vorhaben Kraft ihrer Worte gerecht zu werden, um sich aus ihrer heillosen Lage zu befreien. So mancher ruft hierfür die Musen, die Schutzgöttinnen der Künste zu Hilfe, damit diese die nötige Kraft und Inspiration schenken mögen. So tat es Dante Alighieri (1265-1321) bei seiner ins Jenseits verlegten Abrechnung mit dem Diesseits, seiner „Commedia“, der er die letzten Jahre seines Lebens widmete und wie es das einleitende Zitat belegt. So ging es wohl auch Thomas Mann (1875-1955) bei der Niederschrift seines späten Meisterwerkes „Doktor Faustus“, an welchem er mühevoll mehrere Jahre im hohen Alter arbeitete und dem er eben jenes Dante-Zitat voranstellte. 



Was nun die Musik betrifft, so galten auch hier Musen als Hoffnung für glückliche Eingebungen. Einmal wurde einer Muse sogar auf der Opernbühne gehuldigt, wo diese, von himmlischen Klängen begleitet, in Erscheinung trat. Dies fand im letzten Werk eines französischen Großmeisters der Musik statt, der kurz nach dessen Vollendung starb. Sein Name war Jean-Philippe Rameau.

Jean-Philippe Rameau (1683-1764), seines Zeichens Hofkomponist von Ludwig XV. (1710-1774), wurde im Jahre 1763 anlässlich des Friedens von Paris, welcher das Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) bedeutete, mit einer neuen Oper beauftragt. In diesem Spätwerk mit dem Titel „Les Boréades“, welches Rameau im Alter von 80 Jahren zu komponieren begann, sind durchaus Anzeichen der Aufklärung zu spüren: Es geht um die Selbstbestimmung einer jungen Königin, die für ihre große Liebe, welche aus unedleren Geschlechte ist, ihr ganzes Reich aufgeben will, um mit dieser in Freiheit zu leben. Alles drückt sich im Libretto durch den entscheidenden Satz aus: C'est la liberté qu'il faut que l'on aime“ („Es ist die Freiheit, auf die es ankommt“). Die Königin entscheidet sich also in dieser heillosen Lage gegen den Staat, welcher für sie nicht die oberste Instanz ist, sondern für die Freiheit. Dies würde für die Königen freilich ernste Konsequenzen haben. Letztendlich kommt aber durch Eingreifen göttlicher Mächte doch alles noch zum Guten und die Königin kann aufgrund einer glücklichen Fügung sowohl das Reich als auch ihre Liebe behalten. Dies liegt zum einen an Apollo, dem Gott der Künste, und zum anderen an Polyhymnia, der göttlichen Muse der Musik. Das Erscheinen Letzterer im vierten Akt der Oper gehört zu den schönsten Einfällen, welche Rameau je gehabt hat. Hier wurde der alte Rameau in der Tat von der Muse geküsst, als er jene himmlisch schwebenden Klänge schrieb, welche die hoffnungsvolle, göttliche Rettung der Königin aus ihrer Heillosigkeit darstellen sollen:





[Die Uraufführung dieser Oper fand übrigens erst mehr als 200 Jahre nach der Komposition statt. Die Proben zur damaligen Aufführung wurden abgebrochen. Ob daran der pikante Inhalt der Oper, finanzielle Schwierigkeiten oder der Tod des Komponisten schuld sind, kann nicht mit Sicherheit belegt werden.]


Was für ein Glück, dass Rameau auch im Alter seine Inspiration nicht verließ. Die Musik wäre ansonsten um eine Perle ärmer… 

Dennoch ist diese wunderbare Musik kein reines Alterswerk. Ihre Ursprünge sind in der Zeit vor Rameaus Karriere als Opernkomponist am Königshofe zu finden. In den 1720er Jahren schrieb Rameau revolutionäre Schriften über Musiktheorie und komponierte dazu bahnbrechende Suiten für Cembalo, welche heute meist auf dem Klavier interpretiert werden. Diese Suiten gehören zum Genialsten, was die französische Musik des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat und sind auf einer Ebene mit den Suiten von Rameaus Zeitgenossen Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Die Suite in a-Moll aus den späten 1720ern, Rameaus Meisterwerk, beginnt mit einer vollendeten Allemande voller Dichte, Grazie und Erhabenheit. Im zweiten Teil dieser Allemande begegnet uns ein Einfall, den aufmerksame Ohren bereits kennen: In Minute 3:21 sowie 4:50 der Hörprobe offenbart sich uns die göttliche Muse Polyhymnia für einen kurzen Moment und lässt uns mit einem Hauch von Hoffnung bereichert zurück:





„Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie […] das religiöse Paradoxon entspräche, dass aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, - nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht.“

(Thomas Mann, Doktor Faustus, Kapitel XLVI)







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